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expliziert am Beispiel der Kiever Blätter

Im Dokument Linguistische Beiträge zur Slavistik (Seite 183-200)

Elisabeth Seitz, Tübingen

״Seit der Bekanntmachung der Kijewer Blätter also muss an der Behauptung festgehalten werden, dass man schon in der ältesten Epoche der slavischen Liturgie, die man als mährisch-pannonisch zu bezeichnen pflegt, in welche jedenfalls dieses Denkmal fällt, die ersten Versuche gemacht wurden, den Gebrauch der altslovenischen Kirchensprache mit den Anforderungen des römischen Ritus in Einklang zu bringen.“ (Jagić 1890, 5)

It is the aim of the present paper to indicate the role liturgical texts in gene- ral and the Kiev Folia (KF) in particular played in the development of Old Church Slavonic as the first Slavonic language to be ever used in writing.

The glagolitic KF, the oldest known Slavic manuscript, contain the partial translation of Roman rite liturgical texts, which seems to contradict the noti- on that the mission of Constantine-Cyrill and Methodius introduced the Eastern rite among the Slavs. How the KF and Old Church Slavonic as lin- gua quarta and lingua liturgica fit into this context, will be discussed in this article.

1. Slavorum Apostoli werden Konstantin (Kyrill) und Methodius in dem gleichnamigen Rundschreiben Papst Johannes Pauls П. (1985) genannt, und die Brüder aus Solun sind als Slavenapostel in die kirchliche und weltliche Geschichte eingegangen. Damit, daß sie die in ihrer Leistung bedeutendsten und sicher bekanntesten Missionare der Slaven waren, ist aber nicht gesagt, daß sie auch die ersten oder gar die einzigen Apostel der Slaven gewesen wären: Im 9. Jh. treffen in Pannonien und im Großmährischen Reich1 zwei

1 Zur Frage der geographischen Lage des Großmährischen Reichs vgl. Birkfellner (1993,29fr.).

Elisabeth Seitz: Die Übersetzung liturgischer Texte und ihre Bedeutung für die Entstehung der altkirchenslavischen Schriftsprache, expliziert am Beispiel der Kiever Blätter. In;

Hoffmann. E./Doleschal, U. (Hg.): Linguistische Beiträge zur

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Christìanisierungsbewegungen aufeinander, wobei in die von der älteren Mission von Salzburg, Passau und Aquileja bereits christianisierten slavi- sehen Länder eine zweite Missionswelle vorstößt, die von Byzanz ausgeht und auf Bitten des großmährischen Fürsten Rastislav die Brüder Konstantin und Methodius als ״ Lehrer“ nach Mähren und Pannonien fuhrt. Daß es sich dabei nicht um die erste Christianisierung handelt, sagt explizit die Vita Constantini (VC, c. XIV).

Mit der kyrillo-methodianischen Mission und der altkirchenslavischen Schriftsprache beschäftigt sich eine umfangreiche Forschungsliteratur seit den Anfängen der slavistischen Forschung im 19. Jh., sodaß die Frage nicht unberechtigt erscheint, ob eine nochmalige Beschäftigung mit den unter- schiedlichen Einflüssen bei der Missionierung der Slaven wesentlich Neues bringen kann. Es gibt indessen trotz der Fülle an Arbeiten zur ältesten Epo- che der slavischen Schrifisprachlichkeit noch Fragen, die nicht endgültig ge- klärt, und auch solche, die nicht einmal klar gestellt sind. Von diesen zu differenzieren sind außerdem noch Fragen, die nicht nur einmal, sondern so- gar mehrfach und auf unterschiedliche Weise beantwortet wurden - was zur Aufhellung und Klärung des in Frage stehenden Sachverhalts nur in be- dingtem Maße beigetragen und mehr neue Fragen aufgeworfen als alte be- antwortet hat. Dies betrifft auch die Verbindung der Slavenmission(en) mit der Amtskirche in West und Ost im Hinblick auf die Entstehung und Ent- wicklung der slavischen Liturgie, und in Zusammenhang damit, der altkir- chenslavischen Schrift- und Kult(ur)sprache. Daß hier zwar bereits viel ge- fragt und auch viel geantwortet, aber dennoch längst nicht alles gesagt ist, wird dem Slavisten spätestens bei der Vorbereitung einer Lehrveranstaltung zum Altkirchenslavischen bewußt, wenn er darüber nachzudenken hat, wie es Studenten plausibel gemacht werden kann, daß Konstantin (Kyrill) und Methodius zwar in der byzantinischen Tradition standen und ihre Slavenmis- sion aus dieser heraus begannen, die älteste erhaltene slavische Handschrift, die glagolitischen Kiever Blätter, aber Meßformulare im römischen Ritus enthalten. Die hier vorliegenden scheinbaren Widersprüche ließen den Ge- danken zu dem hier vorliegenden Aufsatz entstehen.

1.1. Konstantin (Kyrill) und Methodius sind als die Schöpfer des glagoliti- sehen Alphabets und der altkirchenslavischen Schriftsprache sicher die be- deutendsten Einzelpersönlichkeiten, die sich um Lehre und Unterweisung der Slaven, um Übersetzung kirchlicher Texte ins Altkirchenslavische und um die Einführung einer slavischen Liturgie verdient gemacht haben. Sie

wa-178 Elisabeth Seitz

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ren jedoch nicht die ersten, die hier tätig wurden, und in den Quellen ist nir- gends davon die Rede, daß sie die slavische Bevölkerung des Großmäh- rischen Reiches vom Heidentum bekehrt oder getauft hätten. Die wirklich erste Missionierung der Slaven hatte begonnen, lange bevor sich die beiden Brüder von Byzanz auf den Weg nach Norden machten: Bereits in der 2.

Hälfte des 8. Jhs. sandte Bischof Virgil von Salzburg irische Mönche zu den karantanischen Slaven, ״ ad docendum illam plebem“ (Conversio c. 5; zitiert nach Zagiba 1971b, 403). Anders als bei den Elbslaven, die sich dem expan- siven Ostfrankenreich und der forcierten Christianisierung widersetzten, war die irisch geprägte bairische Mission erfolgreich. Waldmüller sieht darin die Voraussetzung für die Missionserfolge im 9. Jh.:

Wenn auch im allgemeinen die Bekehrung der Slawen erst in die Zeit ab dem 9. Jahrhundert fällt, so wären diese Missionserfolge doch undenkbar ohne die uns sehr oft unbekannten vorbereitenden Bemühungen der christlichen Welt des Ostens wie des Westens im 7. und vor allem im 8. Jh. (Waldmüller 1976, 603)

1.2. Als Fürst Rastislav seinen berühmten Brief an Kaiser Michael schrieb, waren seine Untertanen bereits Christen ( "л ю а ь м ъ нлшимг поганства ca 0т׳ьв1>гг־

шеигь") und ״hielten sich an die Gebote“ ("по ^ристыАыьскгіи ca ^а к о н ъ д р ь ж А Ш -

темг"), die man sie also bereits gelehrt haben mußte. Sie brauchten demnach keine Missionare, sondern einen Bischof und Lehrer ("кпнско\|т и оѵрителіА״), der ihnen in ihrer Sprache Unterweisung im christlichen Glauben erteilen könn- te ("иже Nbi ви вг свои ьхзыкъ исттш; в׳в р ^ристылньскл; сгкл^Алг"). Letz- tere Formulierung suggeriert, daß eine Glaubensunterweisung in slavischer Sprache bis dahin nicht erfolgt sei und die erste Mission mehr der formalen Bekehrung und Taufe gegolten und mit Erreichen dieses Zieles auch ihren vorläufigen Abschluß gefünden habe. Es ist indessen kaum denkbar, wie die irischen Mönche der Salzburger Mission den Slaven die zu Bekehrung und Taufe nötigen Inhalte vermittelt haben sollen, ohne ihnen dieselben wenig- stens mündlich in ihrer Sprache zu erklären? Das Slavische muß schon in dieser ersten Phase Lehrsprache gewesen sein, im Bedarfsfall wurden ein- zelne slavische Texte niedergeschrieben, wie die altsloveni sehen Freisinger Denkmäler, aus dem Althochdeutschen ins Slavische übersetzte Abschwö- rungs- und Taufformeln sowie eine Bischofshomilie (10./11. Jh.), beweisen (vgl. hierzu Raecke 1996, 351f.). Man kann davon ausgehen, daß es sich bei diesen Texten um späte Zeugnisse der Salzburger Mission handelt (Grdina 1994, 97f.). Ob allerdings schon zu Beginn der Missionstätigkeit im 7./8. Jh.

slavische Texte aufgeschrieben wurden (Zagiba 1971b, 403), ist nicht mit

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Sicherheit zu sagen. Die Andeutung, daß bereits vor der Erfindung des glagolitischen Alphabets schriftliche Aufzeichnungen in slavischer Sprache gemacht wurden, ist in Hrabrs Abhandlung über die Buchstaben (Bulgarien, 10. Jh.) zu finden: Demnach hatten die Slaven in der Heidenzeit die Ge- wohnheit, statt einer Schrift ״ Striche und Kerben“ zu verwenden, nach ihrer Taufe aber seien slavische Texte ״ ohne jedes Regelwerk“ mit griechischen und lateinischen Buchstaben geschrieben worden, vgl. Matëjka 1968, 248.

Daß sich dieses Schreiben ״ ohne jedes Regelwerk“ nicht auf die von Kon- stantin (Kyrill) und Methodius geschaffene altkirchenslavische Schrift- spräche und glagolitische Schrift beziehen kann, die ja durchaus über ein differenziertes Regelwerk verfugt, steht außer Frage. Eine lateinische Quel- le, in der auf das Schreiben in slavischer Sprache mit nicht-slavischen Buch- staben angespielt wird, ist die Conversio Bagoariorum et Carantanüorum, entstanden 871 in Salzburg, in der zu lesen ist:

Qui multum tempus ibi demoratus est, exercens suum potestative officium si- cut illi licuit archiepiscopus suus, usque dum quidam Graecus Methodius nomine noviter inventis Sclavinis litteris linguam Latinam doctrinamque Ro- manam atque litteras auctorales Latinas philosophice superducens vilescere fe c it cuncto populo ex parte missas et euangelia ecclesiasticumque officium

illorum qui hoc Latine celebraverunt. (Conversio, c. 12)

Aufgrund dieser Formulierung und der getrennten Erwähnung von lateini- scher Sprache und lateinischem Alphabet in der Conversio schließt Grdina, es könnten in Pannonien vor der Ankunft der Slavenapostel nicht-lateinische Sprachen mit lateinischen Buchstaben geschrieben worden sein (Grdina 1994, 97). Außer den Freisinger Denkmälern (FD), die als Handschriften aus der Zeit nach der Ankunft der Slavenapostel stammen, ist jedoch kein originales Quellenmaterial vorhanden, das eine slavische Schrifttumstradi- tion in Lateinschrift aus der Zeit vor der kyrillo-methodianischen Mission nachweisen könnte.

1.2.1. Neben Notizen in slavischer Sprache in lateinischer Schrift ist auch vorstellbar, daß man zunächst ganz ohne Geschriebenes auskam: Die Mne- motechnik der Salzburger Missionare erlaubte ihnen das Memorieren der fur die Bekehrung notwendigen Texte, und die Bekehrten selber waren in der Regel Analphabeten, sodaß die Missionierung mit Sicherheit vor allem über Predigt, Gespräch und Gebet, also akustisch und nicht visuell, geschah - worauf auch die Textsorten der FD hindeuten. Das Szenario ist das einer frühmittelalterlichen Massentaufe, bei der die Abschwörungs- und Bekennt­

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nisformeln, in leicht memorierbare Absätze geteilt, von einem Geistlichen vor- imd von den Gläubigen nachgesprochen wurden. Alle Texte, die auf diese Weise vom Volk verstanden und nachgesprochen werden mußten, sind in die Missions- oder Lehrsprache übersetzt, die lingua quarta nach der Missionspraxis der irischen Mönche (Zagiba 1971b, 403). Ob Texte in der lingua quarta auch gezielt aufgeschrieben wurden, und die FD die spätere Abschrift von Texten aus einer solchen Tradition darstellen, ist nach der heutigen Quellenlage nicht zu entscheiden.

1.3. Das Slavische wurde jedenfalls schon in dieser frühen Zeit als Lehr- und Missionssprache, als lingua quarta verwendet, das kann auf der Grund- läge der Informationen, die über die Salzburger Missionsmethode vorliegen, mit einiger Sicherheit gesagt werden. Worüber wir keineswegs einen ähnli- chen Grad von Gewißheit haben, ist die Frage, seit wann und in welchem Ausmaß das Slavische auch lingua liturgica, Liturgiesprache war. Diese Frage ist nicht nur fur die religiöse Praxis von Bedeutung, sondern auch kulturell: Wurde einem Volk die Liturgie in seiner eigenen Sprache gestattet, konnte es sich zu den autonomen Kultumationen zählen. Der Gebrauch einer Volkssprache als lingua quarta bei der Missionierung, als ״ vierte“ im Ge- gensatz zu den drei heiligen Sprachen Lateinisch, Griechisch und Hebräisch, sagt noch nicht viel über den kulturellen Stand eines Volkes aus, ihr Ge- brauch ist rein praktisch motiviert. Sie ist in der Regel auch nicht identisch mit der Sprache der Liturgie: Nach zeitgenössischem Verständnis verlangten liturgische Zwecke eine der heiligen Handlung würdige Sprache1, Anforde- rungen, denen die Alltagssprache nicht gerecht werden kann. Ein Höhepunkt in der Entwicklung jeder Sprache zur Kultur- und Schriftsprache ist es da- her, wenn sie in den Rang einer Liturgiesprache erhoben wird.

In der Salzburger Mission erfüllte die liturgische Funktion mit Sicherheit noch das Lateinische. Es ist nichts darüber bekannt, ob und inwieweit be- reits damals das Slavische in die Liturgie einzudringen begann - gesichert ist der Anfang einer (vielleicht auch nur teilweise) slavischen Liturgie erst für die kyrillo-methodianische Zeit, und auch hier nicht ohne Widerstand, wie die Geschichte belegt. Konstantin (Kyrill) und Methodius mußten sich, als sie (zunächst mit Unterstützung der Päpste Hadrian II. und Johannes VIII.) versuchten, die Liturgie in slavischer Sprache in ihrem Missionsgebiet

einzu-1 Zu den Kontroversen der Slavenapostel mit dem Klerus in Venedig über die Frage der Liturgiesprache vgl. Vita Constantini, с. XVI.

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fuhren, gegen die bairischen Bischöfe durchsetzen, die dort ältere Rechte zu haben meinten. Die Reise der Slavenapostel nach Rom 866/67 brachte die Zustimmung1 des römischen Stuhls, doch bereits Papst Stephan V. widerrief die von seinen Vorgängern zögernd ausgesprochene Erlaubnis zur slavi- sehen Liturgie wieder. Auch das in der Vita Constantini vorgebrachte Argu- ment, viele Völker besäßen eine eigene volkssprachliche Liturgie ״nicht durch eigenmächtiges Verfugen, sondern nach römischem Recht“ (VC, c.

XVI), konnte dem lateinischen Klerus nicht als Rechtfertigung gelten, denn die meisten dieser Völker2 gehören den altorientalischen Kirchen an, die bei den Konzilien von Ephesus (431) und Chalkedon (451) bei den archaischen Lehrformeln geblieben und damit in Gegensatz zu den chalkedonensischen Christen, d.h. den Griechen und Lateinern, geraten waren. Ein ähnlicher Gegensatz bildete sich im 9. Jh. heraus, je klarer sich die Einflußsphären des Ostens und des Westens gegeneinander abgrenzten, je deutlicher die Abtren- nung Konstantinopels von Rom wurde, und es wäre kein Beweis ihrer Rom- Verbundenheit (welche glaubhaft zu machen die Slavenmissionare zu ihrer eigenen Sicherheit gehalten waren), würden sie sich auf altschismatische Kirchen berufen. Es muß insgesamt als großes Zugeständnis Roms gewertet werden, daß die slavische Liturgie unter den Päpsten Hadrian II. und Johan- nes VIII. überhaupt zugelassen wurde, wenn auch mit zeitlichen Unterbre- chungen [vgl. (2)] und inhaltlichen Einschränkungen:

(1) Nos autem [...] statuimus [...] mittere Methodium, postquam eum cum discipulis ordinavimus [ . . . ] u t vos edoceret, sicut rogastis, interpretans libros in linguam vestram, per totum ecclesiasticum ordinem pleniter etiam cum sancta missa, id est cum liturgia, et baptismo, quemadmodum coepit philoso- phus Constantinus, divina gratia et cum invocatione S. Clementis. [. . .] Unus hic servandus est mos, ut in missa primum apostolus et evangelium legantur lingua romana, postea slovenica. (Papst Hadrian II 869, VM с. ѴПІ, nach Mohlberg 1928, 225 und Jagić 1913, 37)

(2) Audimus etiam quod missas cantes in barbara, hoc est in Sclavina lingua, unde iam litteris nostris per Paulum episcopum Anconitanum tibi directis prohibuimus ne in ea lingua sacra missarum solemnia celebrares, sed vel in Latina vel in Graeca lingua, sicut ecclesia Dei toto terrarum orbe diffusa et in

1 Wenn die Papstbriefe, die dies belegen, echt sind - was nicht unumstritten ist, da nicht von allen Briefen ein Original erhalten ist.

2 In der VC c. XVI werden namentlich Armenier, Perser, Abasgen, Iberer, Sugden, Goten, Awaren, Thursen, Chasaren, Araber, Ägypter und Syrer aufgeiuhrt.

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183 Die Übersetzung liturgischer Texte

omnibus gentibus dilatata cantat. (Papst Johannes ѴПІ, 879 an Methodius, zitiert nach Codrington 1936, 98)

(3) Iubemus tamen, ut in omnibus ecclesiis terrae vestrae propter maiorem honorificentiam evangelium latine legatur et postmodum sclavinica lingua translatum in auribus populi, latina verba non intelligentis, adnuncietur, sicut in quibusdam ecclesiis fieri videtur. (Papst Johannes VIII, 880 an Svatopluk, zitiert nach Jagić 1913, 37)

1.4. Die Ge- und Verbote, die in diesen Papstbriefen ausgesprochen werden, betreffen teils nur das Verlesen der Epistel- und Evangelientexte [vgl. (1):

״ daß in der Messe zuerst der Apostolus und das Evangelium in der römi- sehen, danach in der slavischen Sprache vorgelesen werden“, und (3): ״ Das Evangelium werde auf lateinisch und danach in die slavische Sprache über- setzt vorgelesen“], teils die gesamte Liturgie [vgl (2): ״ daß du die Messe in einer barbarischen, d.h. in der slavischen Sprache singst“]. Der Kanon der altkirchenslavischen Denkmäler enthält indessen wenig Anhaltspunkte dafür, daß die ganze Liturgie zu so früher Zeit in so großem Umfang in slavischer Sprache gesungen worden wäre: Die meisten und in ihrem Textumfang größten altkirchenslavischen Denkmäler sind Übersetzungen der Evangelien und des Psalters, Gebete und Heiligenlegenden. Konstantin (Kyrill) über- setzte noch vor der Abreise nach Mähren die wichtigsten Lehrtexte: Das Aprakos-Evangelium (Sonn- und Feiertagsevangelien), den Psalter, die Evangelien und die Apostelgeschichte. Erst in einer zweiten Phase, wenn die kirchliche Praxis schon gut etabliert ist, werden dann auch die heiligsten, die liturgischen Texte ganz oder teilweise ins Slavische übersetzt. Solche litur- gischen Texte sind im altkirchenslavischen Kanon z. B. das Euchologium Si- naiticum, das Leningrader Palimpsest oder die Fragmenta Pragensia. Das älteste Zeugnis slavischer Liturgie besitzen wir in den Kiever Blättern (im weiteren: KB), Ende 9./Anfang 10. Jh. entstandenen Meßformularen nach dem römischen Ritus. Sie enthalten keine vollständige Meßliturgie, sondern nur die veränderlichen Meßgebete fur bestimmte Fest- und Wochentage, oh- ne die festen Teile der Messe. Zagiba (1971a, 199) schließt daraus, daß die- se in den KB fehlenden Teile in lateinischer oder griechischer Sprache ge- sprochen wurden. Wann die gesamte Meßliturgie erstmals ins Slavische übersetzt wurde, ist unklar: Die ältesten vollständigen slavischen (glagoliti- sehen) Sakramentarien stammen aus dem 14. Jh. und aus dem kroatischen Raum, wo sich die glagolitische Tradition trotz häufiger Vermahnung aus Rom bis ins 20. Jahrhundert erhalten hat. - Welche Bedeutung die Existenz

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der Texte der KB fur das Slavische als lingua liturgica und als Kult(ur)־

spräche hat, soll im folgenden besprochen werden.

2. Eine philologische Beschreibung der Kiever Blätter ist in dieser Arbeit aus Platzgründen nicht möglich und auch nicht notwendig, wir verweisen dafür auf die sehr gute Darstellung in Schaeken (1987). Hier wird auch die früher aufgebrachte These, es handle sich um eine Fälschung aus dem 19.

Jh., zurückgewiesen. Nach Schaeken handelt es sich bei den KB um ״ ein Zeugnis der frühesten, mit den Missionstätigkeiten der beiden Thessaloni- kerbrüder in Mähren und Pannonien unmittelbar verknüpften literarischen Tradition“ (Schaeken 1987, 201). Denkbar ist auch, daß es sich um die Ab- schrift eines noch älteren Originals handelt. Der inhaltliche Aufbau der KB gliedert sich in fünf Teile, die ihrerseits aus je vier Meßgebeten bestehen:

Inhaltliche Gliederung der KB Zeilen-Nr.

(1) Meßformular für das Fest des hl. Clemens (23. November) [1201 - 2 1 1 0] (2) Meßformular für das Fest der hl. Felicitas (23. November) [2111 -2207]

(3) 6 Meßformulare für Werktagsmessen (Orationes cotidianae) [2208 - 6202]

(4) Meßformular für eine Missa de martyribus [6203 - 6223]

(5) Meßformular für eine M issa de omnibus virtutibus caelestibus [7101 - 7224]

Aufbau der Messformulare der KB

Bezeichnung im Ordo Missae Slavische Bezeichnung

(1) Oratio М0ЛІТВА

(2) super oblata (Secreta) нлдъ опллтгмь

(3) Präfatio Пр'вфй.ЦИ'б

(4) post communionem, ad complendum ПО ВЪСЖДѢ

Die KB enthalten keine Meßgesänge und Lesungen, es fehlt auch der Ka- non. Zwar ist das Meßbuch, das die KB repräsentieren, unvollständig, es ist

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aber anzunehmen, daß auch in der vollständigen Version kein Kanon ent- halten war. Die zentralen Opferungsgebete sollten wahrscheinlich nicht ״ in lingua barbarica“, sondern in einer anderen Sprache gesprochen werden, es müßte also parallel noch ein anderes Meßbuch mitverwendet worden sein.

Möglich ist allerdings auch, daß in den KB, wie in verschiedenen anderen Meßbüchern des 9. Jh., der Kanon auf der ersten Seite stand, die für die KB verlorengegangen ist (hierzu vgl. Gamber 1964, 365). Daß die KB überhaupt Meßformulare im römischen Ritus enthalten, hat seit ihrer Auffindung durch Sreznevskij im Jahre 1874 zu den unterschiedlichsten Vermutungen Anlaß gegeben, von denen eine umfangreiche und kontroverse Literatur zeugt (eine gute und übersichtliche Darstellung zu den einzelnen Thesen sowie eine Bi- bliographie zu den KB sind zu finden bei Schaeken (1987, 251-272) und in KME 1995 II, 545). Die Meinungen gingen und gehen auseinander: die Übersetzung sei bereits in der vor-kyrillo-methodianischen Periode abgefaßt worden; Konstantin (Kyrill) und Methodius hätten die Messe in Wirklichkeit im römischen Ritus gefeiert, ja, Konstantin selber hätte bei seinem Aufent- halt in Rom das Sakramentarium Gregors des Großen ins Slavische über- setzt. Ein Vertreter letzterer Theorie ist der Benediktiner Cunibert Mohl- berg, der in den Kiever Blättern ein Werk des Slavenapostels Konstantin (Kyrill) für die Feier der heiligen Mysterien erkennt:

Da ciò segue, che i fogli di Kiew sono il più prezioso monumento che possa immaginarsi della liturgia slava, una reliquia nel vero senso della parola: il messale, о una considerevole parte del libro che Costantino scrisse ed usò nella celebrazione dei sacri misteri. [. ..] Della liturgia romana fece uso però certamente Metodio al suo ritorno da Roma, servendosi del Messale con- dotto a termine dal fratello. (Mohlberg 1928, 224)

Ein Beweis dafür, daß Methodius dieses Meßbuch nach seines Bruders Tod nach Mähren mitgenommen hat, ist nach Mohlberg, daß zwischen Methodi-

Ein Beweis dafür, daß Methodius dieses Meßbuch nach seines Bruders Tod nach Mähren mitgenommen hat, ist nach Mohlberg, daß zwischen Methodi-

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