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Einleitung: Metadiskursive Quellen in der Sprachgeschichte

Im Dokument Linguistische Beiträge zur Slavistik (Seite 115-118)

Epistemische Modalität und Sprechereinstellung im Serbokroatischen 1

1. Einleitung: Metadiskursive Quellen in der Sprachgeschichte

In ihrer mentalitätsgeschichtlichen Untersuchung zur Sprachkultur des Bür- gertums im 19. Jahrhundert stellt Linke (1996, 17) programmatisch fest, daß sich für jede Sprachgeschichte, die nicht von Sprechern und Sprachgemein- schäften, also den sprachhandelnden Personen, absehe, zwangsläufig die

״ Frage nach dem ‘warum’ und damit die Frage nach den Veränderungen in den Lebensverhältnissen und Kommunikationswelten (...) der betreffenden Sprachgemeinschaften“ ergibt. Die Gründe, warum die parole ist wie sie ist bzw. war wie sie war, sind nicht allein sprachimmanent, sondern auch sozia- 1er, politischer und allgemein geistesgeschichtlicher Natur. Die daher gefor- derte Rekonstruktion der Gründe kommunikativen Handelns sowie auch der pragmatischen Motivation sprachlicher Formen stellt sich jedoch noch schwieriger dar als die Rekonstruktion des Faktischen, d.h. der tatsächli- chen Sprachhandlungsmuster und deren sozialer und kommunikativer Rah- menbedingungen (vgl. ebd., 42). Die grundsätzliche ‘Unschärfe’ motiva- tionaler Hintergründe menschlichen Handelns und semer Produkte kann zu Erklärungen in simplen Monokausalismen verleiten, z.B. in der einlinigen Kausalität von gesellschaftlichen Umbrüchen zu sprachlichen Um- Strukturierungen. Notwendig ist es demgegenüber, einen Zugang zur Kom- plexität der nicht sprachintemen Gründe von Sprachhandlungen und der in unterschiedlichen Textsorten belegten Formen historischer Sprachzustände zu finden. Diesen Zugang ermöglicht m. E. die Auswertung zeitgenössischer metadiskursiver Quellen, wie sie in Gestalt von expliziten Sprachphi- losophien, Argumentationen im Rahmen von Sprachnormdebatten oder aber auch sprachtheoretischen Erwägungen in Lexika, Grammatiken, Ästhetiken, Logiken oder Rhetoriken vorliegen. Denn indem Sprache als Phänomen

Holger Kuße: Die *Auflösung' der Repräsentationssemantik im Begriff des Gebrauchs bei M. M. Speranskij (1772-1839). In:

Hoffmann, E./Doleschal, U. (Hg.): Linguistische Beiträge zur

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thematisiert und ggf. versucht wird, sprachliche Formen aus allgemeinen sprachtheoretischen Überlegungen zu motivieren, kann in den genannten Quellen die Akzeptanz oder Ablehnung kommunikativer Gründe zum sicht- baren Diskussionsgegenstand werden.1 Das gilt grundsätzlich auch für Rhe- toriken im schulischen Ausbildungsbetrieb wie dem von ihrem Herausgeber als Provila vysšago krasnorečija betitelten Rhetorikkurs M. M. Speranskijs (1772-1839), der im folgenden als metadiskursive Quelle untersucht werden soll.

Der erst 1844 veröffentlichte Text dokumentiert Speranskijs Rhetorikunter- rieht am Alexander-Nevskij-Seminar bei St. Petersburg, an dem er 1790 zu studieren begonnen hatte und seit 1792 selbst Lehrer fur Rhetorik, Physik und später Philosophie war. Wie in anderen Rhetoriken des gleichen Genres

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erweckt die Übernahme antiker und späterer rhetorischer Traditionen als lehrbares Bildungswissen in den Provila z.T. den Eindruck der ‘Fremdbe- Stimmung’. Ihre Kompilationen markierter und unmarkierter Zitate legen den Schluß nahe, hier solle nicht so sehr Neues gesagt, als vielmehr bekanntes Wissen für den schulischen Betrieb aufbereitet werden. Gleichwohl ist aber auch in diesem Verfahren ein originärer Gedankengang möglich: Der neue Gedanke wird unmittelbar im übernommenen Wort vermittelt oder er ent- wickelt sich in dessen Deutung und Kritik. In diesem Sinne wendet sich Speranskij scharf gegen die Praxis, bekannte rhetorische Regeln begrün- dungslos zu tradieren und fuhrt den Charakter des Rhetoriker-Philosophen ein, der die Richtigkeit rhetorischer Präskriptionen an der ״Natur der Seele“

überprüft:

Ч и тать правила, не восходя къ ихъ началам ъ, есть дѣло без- полезное и ребяческое. (Speranskij 1844, 8)

( ...) риторъ-ф илософ ъ не довольствуется повторить за К винти- ліаном ъ и Ц ицероном ъ вѣк сіи предписания. О нъ хочегь видѣть ос- нованія оныхъ, и идетъ воп рош ать о семъ природу нашея душ и.

(ebd., 14)

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1 Nicht zuletzt deshalb hat ihre Analyse den von Bossong ( 1990) für die Untersuchung französischer sprachtheoretischer Quellen festgestellten positiven ‘ Nebeneffekt’, einen wichtigen Beitrag zur Geistesgeschichte im allgemeinen zu leisten, denn: ״ In der Hai- tung zur Sprache spiegelt sich die epochenspezifische Haltung zum Menschen und zur Welt” (ebd., 6f ).

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2. M. M. Speranskijs

Pravila vysšago krasnorečija

im Kontext ihrer Zeit

V

Wie zuletzt Zivov (1990, 1996) gezeigt hat, zeichnet sich der gesell- schaftlich aktive Teil des 18. Jahrhundert durch eine Einheit seiner Kom- munikationsbereiche aus, die u.a. im homogenen Stil der klassizistischen Li- teratur zum Ausdruck kommt. Auf der Ebene des theoretischen Metadis- kurses entspricht der Einheit der Kommunikation eine Semantik, in der Zei- chen zwar arbiträr sind (vgl. Haßler 1990, 274f.; 1992, 118), zugleich aber als eindeutige Repräsentanten begrifflicher Inhalte gelten. Wissen ist danach dem Subjekt in bewußtseinsimmanenten Repräsentationen sinnlich erfahrba- rer oder kognitiv abstrakter Gegenstände und Sachverhalte gegeben, die ih- rerseits in zeichenhafter Relation zueinander stehen und von sinnlich wahr- nehmbaren Zeichenformen repräsentiert werden. ״ Die Idealvorstellung ist also die einer unverzerrten Repräsentation im Sinne einer Eins-zu-eins-Be- ziehung zwischen Signifikant und Signifikat, die eine verläßliche Darstellung dessen, was ist, gewährleistet“ (Matzat 1990, 22).

Diese Kongruenz von Kognition und Kommunikation hat Foucault in Les mots et les choses (dt. Die Ordnung der Dinge) als das grundlegende Para- digma des 'âge classique’ gedeutet, das über das sprachliche Selbstver- ständnis hinaus v.a. das ökonomische Denken und die Anfänge der Natur- Wissenschaften (insbesondere die Biologie) prägte. Foucault (1995, 260) zufolge denken die Menschen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts

״ ausgehend von einer allgemeinen Einteilung, die (...) eine bestimmte Seinsweise für die Sprache, die Einzelwesen, die Natur, die Gegenstände des Bedürfnisses und des Verlangens vorschreibt. Diese Seinsweise ist die der Repräsentation.“ In dem Zeitraum von 1775-1825 wiederum kann die Ablösung des klassischen Paradigmas durch ein Denken beobachtet werden, daß die Begriffsbildung und den Aufbau von Kommunikation einerseits im Subjekt und andererseits in der Geschichte ansiedelt, wodurch die Vorstel- lung eindeutiger Repräsentationen unmöglich wird. An ihre Stelle treten Sprecherkreativität und historische Dynamik (vgl. Foucault 1995, 269ff.;

vgl. Frank 1987, 115-121). Die Jahre 1795-1800 markieren nach Foucault den Wendepunkt dieser geistesgeschichtlichen Umstrukturierung und sind sozusagen das Datum des epistemologischen Bruches zwischen Repräsenta- tion und historischem Bewußtsein.

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In Foucaults Chronologie fallen die Provila also in die Zeit unmittelbar vor dem Ende des klassischen Zeitalters und ihr Wert als Quelle liegt nicht zuletzt darin, daß in ihnen das vorgängige und Ansätze des neuen Paradigmas - z. T. wider- sprüchlich und vom Autor selbst kaum bemerkt - aufeinandertreffen.

Zur Analyse der Korrelation metadiskursiver und diskursiver Veränderungen sind die Provila darüber hinaus schon aufgrund der Person ihres Autors von Interesse. Denn Speranskij, der Reformpolitiker unter Alexander I. und Kodifi- kator des russischen Rechtes unter Nikolaus I., dessen Bedeutung v. a. in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte und weniger der russischen Kultur- und Sprachgeschichte gesehen wird, prägte mit dem Rechtstext mindestens eine Textsorte der instrumentellen Kommunikation in maßgeblicher Weise (vgl.

Torke 1967, 171). Graudina/Miskevič (1989, 121) sehen in ihm ״ одним из лучших стилистов в искусстве деловой речи“, dessen Vorbild entschei- dend zur Normierung der russischen Amts- und Geschäftssprache beigetragen hat. Vielleicht kann eine Linie von der Theorie der Provila zur Sprachpraxis ih- res Verfassers gezogen werden.

Im Dokument Linguistische Beiträge zur Slavistik (Seite 115-118)