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5. Vergleichende Analyse

5.4. Der Experte, der Held, der Weise - drei Profile von Sozialtypen moralischer Akteure

Nachdem nun die jeweiligen Akteure entlang verschiedener Dimensionen vergli-chen und voneinander abgegrenzt wurden, gilt es abschließend, von dieser empi-rischen Basis aus abstrahierend Profile von drei Sozialtypen moralischer Akteure zu entwerfen. Sie sind als Destillate der vorangegangenen Beschreibungen anzu-sehen. Die folgenden Skizzen suchen Orientierungsmuster typischer Sprecherpo-sitionen einzufangen, von denen aus ein soziales Problem in die Öffentlichkeit eingebracht und dessen gesellschaftliche Relevanz behauptet wird. Zu umreißen sind Konturen der Haltungen, mit denen normative Ansprüche zugunsten von Opfern erhoben werden und unter Berufung auf kollektiv geltende Normen und Werte über andere Akteure gerichtet wird.

Der Experte

Der maßgebliche Zugang des Experten besteht darin, über eine soziale Notlage mit wissenschaftlichen Methoden umfangreiches Wissen zu produzieren. Indem er mit seiner Vermittlung die Betroffenen und die Dimensionen ihres Schicksals vertrauter macht, bringt er ihr Problem seiner Gesellschaft näher, die er damit in die Pflicht für Hilfsmaßnahmen nehmen will. Seine Sachkundigkeit bezieht sich nicht nur auf die gegenwärtige Lebenslage der Betroffenen, sondern erstreckt sich auf alle sozialen Prozesse und Mechanismen, die dazu geführt haben, und auf alle daran beteiligten Akteure. Aus diesem Wissen bezieht er seine Legitimität. Sein Anspruch auf Definitionsmacht gründet darauf, weitere drohende Gefahren pro-gnostizieren zu können. Über Dokumentation und gezielte Weiterleitung seines Wissens zwingt der Experte anderen Akteuren eine Situationsdefinition auf, die

sie in ihrem Handeln berücksichtigen müssen. Entsprechend bedeutsam ist es für ihn, Resonanz für sein Wissen zu erzeugen. Besonders setzt er darauf, wichtige Begriffe durchzusetzen, die das Problem in seinem Sinn wahrnehmen lassen.

Die kollektive Verbindlichkeit seiner Forderungen stellt der Experte mit folgender Logik her: Wenn wir genügend über das Problem wissen, können wir nur in der von ihm geforderten Weise handeln. Unter Berufung auf seine sachliche Autorität korrigiert er im übrigen punktuell die Sichtweisen anderer und tritt dabei als In-spekteur des öffentlichen Diskurses auf. Wenn er anderen Sprechern Kurzsic h-tigkeit gegenüber unbestreitbaren Realitäten attestiert, tritt der Experte als Aufklä-rer auf, der nicht zuletzt ideologische Verschleierungen zu bereinigen bean-sprucht. Vor allem mahnt er die Gesellschaft vor den möglichen, aber nicht ge-wußten Folgen ihres Verhaltens; er sucht sie mithin sehend zu machen. Zugleich ruft er dazu auf, die ihm bekannten oder von ihm formulierten Lehren aus der Vergangenheit im gegenwärtigen Handeln zu berücksichtigen.

In wohlkalkuliertem Einsatz bezieht er sich auf die Möglichkeiten der institutionel-len Ordnung, wenn er gezielt bei relevanten staatlichen Akteuren bestimmte Maß-nahmen und Lösungen einfordert. Indem der Experte die Problemlage in Katego-rien des Rechtssystems beschreibt, kann er die Ansprüche der notleidenden Gruppe so vermitteln, daß staatliche Institutionen zuständig werden müssen.

Der Held

Im Gegensatz zum Experten agiert der Held außerhalb der institutionellen Ord-nung. Seine Auffassung von staatlichen Akteuren, sein Mißtrauen gegen jede Re-glementierung und die Wahrnehmung weitreichender Ungewißheit legen ihm nahe, auf eigene Faust zu handeln, um den Notlagen anderer beizukommen. Dafür setzt er selbst die Maßstäbe. Konventionen mißachtend und Routinen aufhebend, kennzeichnet Außeralltäglichkeit sein Vorgehen, wenn er sich in bedingungsloser Haltung und Hingabe der Sache der Opfer widmet. Seine Loyalität gilt allein ih-nen.

Als einsamer Samariter sieht er sich mit einer Welt von Pharisäern konfrontiert, deren Scheinheiligkeit er verachtet und anprangert. Mit einer rebellischen Haltung vollführt er seine Mission. Dabei sieht er sich als Vollstrecker der Werte der Hu-manität, die der Rest der durch Bequemlichkeit und Bürokratie entfremdeten Ge-sellschaft verrät. Auch um Teilhabe an den Opfern hervorzurufen, ruft er das ent-sprechende kulturelle Erbe an. In diesem Horizont liegt sein Auftrag, aus ihm be-zieht er Pathos und Vehemenz seiner Anklage. Gnadenlos hält er seiner Gesell-schaft in seinen Appellen diesen Spiegel vor und verweist unablässig auf die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Insofern für ihn das achtlos zugelassene Leid einen vorübergehenden Untergang der eigenen Kultur bedeutet, macht er sich zugleich mit seinen Hilfen zu ihrem Retter.

Zugleich bezieht er sein Mandat aus dem Vertrauen seiner Gefolgschaft. Die ent-scheidende Legitimation liegt jedoch in der praktischen Hilfe für die Notleden, mit deren Anliegen er sich (bis zu einem Einsatz an einem anderen Ort) iden-tifiziert. Sein Bewährungsraum ist die rettende Tat. Wer hilft, hat recht, lautet sein Credo. Die Geltung seiner Forderungen begründet er damit, daß er sieht und er-lebt, wovon er spricht, und daß er selbst tut, was er verlangt. Bestätigung findet er in der Wertschätzung der Opfer. Gerade weil er für sie auch in unmöglichen Situationen Hilfe möglich macht, verleiht er sich die (heilige) Aura eines Helden.

Der Weise

Der Weise kämpft nicht an vorderster Front für das Gute. Eine Metaperspektive einzunehmen fundiert seinen Status. Über ihnen stehend, weiß er gleichwohl um alle Dinge und Bedingungen der Welt und verfügt durch die Kenntnis ihrer Ord-nungen über den Einblick, wie sie im besten Falle verfaßt ist. Als steter Hüter des Humanen fordert ihn die Not heraus, als Verletzung fundamentaler Ordnungen verurteilt er sie. Aber als Verwalter des Heils vermag er seinen traditionell bewähr-ten Deutungsapparat so anzuwenden, daß er sogleich Möglichkeibewähr-ten und Not-wendigkeiten benennen kann, die die gute Ordnung wieder herstellen. Für jedes lokalisierte Problem kann er eine Lösung so benennen, daß sie mit den Logiken derjenigen Akteure, die sie umsetzen sollen, kompatibel ist. Selbst über den Insti-tutionen stehend, weist der Weise den darin Agierenden den Weg an. Seine Auto-rität bezieht er aus dem Umstand, zeitlos gültige Prinzipien für aktuelle Situationen auslegen zu können. Sofern diese in seiner Sicht unanfechtbare und grundsätzlich allen zugängliche Wahrheiten darstellen, ist es seine Aufgabe, die Akteure an die-sen Kosmos heranzuführen: Den aus der Tradition bestimmten Sollzustand muß er denjenigen einsichtig und bewußt machen, die ihn in ihrer Verstrickung in pragmatischen Zwängen nicht mehr sehen.

Dabei respektiert er grundsätzlich den Status der von ihm Angesprochenen. Pro-blematisch scheinen ihm nur bestimmte Verhaltensweisen, während er an der In-tegrität prinzipiell einsichtsfähiger Akteure nicht rührt. Er motiviert und zollt sozia-le Anerkennung für jedes Bemühen, die mißliche Lage in das gute Leben zurück-zuführen. Wenn es um das Leiden von Menschen geht, kennt er nur noch Gebo-te, es zu lindern; er ordnet dann das Notwendige an.