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Exkurs: Schrift und Sinne

Im Dokument Bildlich gesprochen (Seite 148-155)

5. Der 11. September als literarisches Trauma: Emotion, Subjektivität und

5.1. L ITERATUR UND S PRACHE IM T EXT

5.1.3. Exkurs: Schrift und Sinne

60). Wiederholt integriert er längere Beschreibungen der Neonreklamen (vgl. auch BP 143f. und 171f.) und verbindet Stadt, Schrift und Bild zu einem für die Postmo-derne typischen System.

Die optischen Merkmale von Schrift werden auch in der Beschreibung von Matenaars Arbeitsweise angedeutet:

Dreht man den Knopf, der die Microfiches unter der Optik bewegt, eine Spur zu schnell […], rasen die Sachen an einem vorbei, verwandelt sich die altertümli-che, in Spalten gebrochene Schrift in das flirrende Muster eines abstrakten Ge-mäldes, aus Tuben mit schwarzer Farbe über die Leinwand verteilte, sich wie beim Actionpainting nach dem Zufallsprinzip entspringende Bahnen, deren un-kontrollierte Verschlingungen die Idee spiegeln, man könne das Innere seiner Gefühle in einem spontanen Kraftakt zum Ausdruck bringen. (BP 29)

Peltzer beschreibt das visuelle Phänomen der Schrift und stellt einen Zusam-menhang zur Kunst her. Bryant Park betont mehrmals die Zeichenhaftigkeit von Schrift, so auch, wenn „mit Federkiel geschriebene Namen und Zahlen, Tintensprit-zer, zerflossene Buchstaben“ (BP 27) beschrieben werden oder einzelne Lettern als Ursprung einer Geschichte betrachtet werden:

Man möchte Geschichten dazu erfinden, das Gerippe der Daten, einzelner Worte, kryptischer Bemerkungen auffüllen mit Kapiteln des Dramas, das man dahinter vermutet […]; immer wieder schweifen die Gedanken ab, entzündet sich die Fantasie an einem Schnörkel auf den oft rissigen, von Falzspuren gezeichneten Seiten, die der Bildschirm vergrößert zur Schau stellt, man glaubt, die Hand se-hen zu können, die diese Bögen zog, zu beobachten, wie sie ausstrich, Majuskeln verzierte oder Sternchen und Kreuze in eigenwilliger Form aufs Papier setzte.

(BP 28)

Der Autor thematisiert dadurch den Schreibvorgang im materiellen Sinn und beschreibt zugleich indirekt den Entstehungsbeginn eines Texts.154

Auch in DeLillos Text Falling Man finden sich Beispiele für den Verweis auf die visuelle Ebene von Schrift. Lianne versucht etwa durch ihre Arbeit an einem

„book on ancient alphabets, meticulous decipherments, inscriptions on baked clay, tree bark, stone, bone, sedge“ (FM 28), das ironischerweise „textual emendations made by the author in a deeply soulful and unreadable script“ enthält (vgl. ebd.), die Basis für ein Gespräch mit ihrer kunstbegeisterten Mutter Nina zu schaffen: „All the forms written took, all the materials they used. […] Drawing as well. Pictorial writing.“ (FM 187f.) Nina geht zwar auf Liannes Bemerkung über die Bildlichkeit von Schrift ein, wirkt jedoch eher teilnahmslos, wenn sie ihre eigenen Assoziationen aufzählt: „’Pictograms, hieroglyphs, cuneiform,’ her mother said. / She appeared to

154 Erinnerung, Schrift und selbstreflexive Kommentare im Text greifen bei Peltzer ineinander und werden auch weiterführend diskutiert in 7.1. Text und Brief als Medien der Erinnerungsbewahrung.

be dreaming aloud. / She said, ‚Sumerians, Assyrians, so on.’“ (FM 188) Die Überschneidung von Bildlichkeit und Schriftlichkeit der Buchstaben, die Lianne als gemeinsame Kommunikationsebene nutzen möchte, führt hier eher zu einer De-monstration der abgestumpften Überlegenheit ihrer Mutter.

Visualität oder Haptik von Literatur steht bei DeLillo öfter mit problemati-schen Familienbeziehungen in Zusammenhang; so ist auch Justins Verhalten im Buchladen ein Zeichen für die zunehmende Entfernung zwischen Lianne und ihrem Sohn:

The kid went into a bloodhound imitation, looking and sniffing at books but not touching, his fingertips pressed to his face to create sagging jowls. She didn’t know what this meant but began to understand that he wasn’t trying to amuse her or annoy her. The behaviour was outside her field of influence, between him and the books. (FM 237)

Im Gegensatz zu Peltzer, der durch seine Verweise auf schriftliche Visualität hauptsächlich die Zeichenhaftigkeit von Schrift akzentuiert, etabliert DeLillo also Zusammenhänge zwischen Schrift, Sinnesempfindung und sozialen Beziehungen.

Auch hier steht somit eine motivisch-inhaltliche Akzentuierung von Sprache bei einem amerikanischen Autor einer strukturell-rezeptionsästhetischen Betonung bei einem europäischen Autor gegenüber.

Besonders deutlich wird die motivische Verknüpfung von Sprache und Wahrnehmung bei DeLillo in Liannes Erinnerung an ihren Vater. Jack begeht Selbstmord aus Angst vor dem Verlauf seiner Demenzerkrankung, als Lianne 22 Jahre alt ist:

Jack Glenn, her father, did not want to submit to the long course of senile de-mentia. He made a couple of phone calls from his cabin in northern New Hampshire and then used an old sporting rifle to kill himself. She did not know the details. She was twenty-two when this happened and did not ask the local police for details. What detail might there be that was not unbearable? (FM 50f.)

Die Erinnerung an seinen Tod ist für Lianne untrennbar mit bestimmten Aus-drücken verknüpft, die in ihr visuelle Fantasien hervorrufen: „Died by his own hand./

For nineteen years, since he fired the shot that killed him, she’d said these words to herself periodically, in memoriam, beautiful words that had an archaic grain, Middle English, Old Norse.“ (FM 277)155

155 An dieser Stelle integriert DeLillo auch einen kurzen Kommentar, der die Diskrepanz zwischen Sprache, Imagination und Bild reflektiert. Liannes durch den Klang der Wörter angeregte Fantasie stimmt mit der Realität nicht überein: „She imagined the words engraved on an old slant tombstone in a neglected churchyard somewhere in New England. […] Her father wasn’t buried in a windy

In Liannes Wahrnehmung besteht ein starker

Zusammenhang zwischen Wort und Bedeutung; dies wird auch im folgenden Abschnitt deutlich:

He […] used an old sporting rifle to kill himself. […] she had to wonder if it was the rifle she knew, the one he’d let her grip and aim, but not fire, the time she’d joined him in the woods […]. She […] clearly recalled something he’d said to her that day. […] He’d hefted the weapon and said to her, „The shorter the barrel, the stronger the muzzle blast.“ The force of that term, muzzle blast, carried through the years. The news of his death seemed to ride on the arc of those two words. They were awful words but she tried to tell herself he’d done a brave thing. It was way too soon. (FM 50f.)

Ausdruck, Erinnerung und Bild sind stark miteinander verbunden: Das trauma-tische Erlebnis schafft Querverstrebungen zwischen der auditiven, der visuellen und der emotionalen Erfahrung; die Wahrnehmung der Sprache löst in der Erinnerung auch visuelle Reize aus.

Ähnliches gilt für Foer: Extremely Loud & Incredibly Close betont häufig in Zusammenhang mit Trauma-Erfahrungen „sinnliche“ Aspekte von Literatur. Das Werk enthält weniger konkrete Verweise auf die Zeichenhaftigkeit von Schrift,156

I didn’t want to make myself known, so I quietly slid a book from the wall. […] I see the book in my hands, it was an illustrated edition of Ovid’s Metamorphosis.

[…] light poured into the room through the hole in the wall, your grandfather lifted his head, he came to the shelf and we looked at each other through the missing Metamorphosis. I used to look for the edition in the States, as if by find-ing it I could slide it back in the shed’s wall, block the image of my hero’s face in his hands, stop my life and history in that moment […]. (ELIC 209)

aber schildert Text häufig als Fühlbares, Plastisches und Erfahrbares. Dieses Phänomen lässt sich vor allem in Zusammenhang mit dem Großvater und seinem Trauma von 1945 sowie den diesbezüglichen Folgen beobachten. In einem Brief an seinen Sohn beschreibt er etwa, wie er kurz vor dem Bombenangriff auf Dresden Annas Vater durch eine Lücke im Bücherregal beobachtet:

Die Metapher gründet hier auf der räumlichen Dimension von Literatur. Die Verbindung zum Trauma offenbart sich im späteren Wunsch des Zeitzurückdrehens (siehe auch S. 186). Der Kanal des literarischen Mediums und seine haptischen und physikalischen Eigenschaften werden auch an anderer Stelle in Zusammenhang mit individuellen Traumata der Figuren thematisiert: So fragt sich Oskar, ob das Feuer im World Trade Center in einer Welt ohne Papier nicht weniger schwer zu löschen gewesen wäre.

churchyard under bare trees. Jack was in a marble vault high on a wall in a mausoleum complex outside Boston with several hundred others, all chambered in tiers, floor to ceiling.“ (FM 277f.)

156 Eine Ausnahme stellt folgendes Beispiel dar: „I held up the sheet of paper, with the first page of A Brief History of Time in Japanese, which I got the translation of from Amazon.co.jip. I looked at the class through the story of the turtles.“ (ELIC 190)

I read that it was the paper that kept the towers burning. All of those notepads, and Xeroxes, and printed e-mails, and photographs of kids, and books, and dollar bills in wallets, and documents in files… all of them were fuel. Maybe if we lived in a paperless society […], Dad would still be alive. (ELIC 325)

Der literarische Kanal wird hier als physikalisches Element betrachtet. Die gleiche Argumentation findet sich bei der Großmutter, die überlegt, ob der Brand ihres Hauses durch ihre Briefsammlung verstärkt wurde: „Sometimes I would think about those hundred letters laid across my bedroom floor. If I hadn’t collected them, would our house have burned less brightly?“ (ELIC 83)

Der Verweis auf das Papier als materielles Element findet sich auch in Zu-sammenhang mit dem Kommunikationsdefizit des Großvaters und seiner Distanz gegenüber seinem Sohn, also wiederum einer Art „Trauma“. So thematisiert der Großvater die Begrenztheit des Kanals innerhalb der Briefe:

I have so much to tell you, the problem isn’t that I’m running out of time, I’m running out of room, this book is filling up, there couldn’t be enough pages, I looked around the apartment this morning for one last time and there was writing everywhere […]. But there’s too much to express. I’m sorry. That’s what I’ve been trying to say to you, I’m sorry for everything. (ELIC 132)

There won’t be enough pages in this book for me to tell you what I need to tell you, I could write smaller, I could slice the pages down their edges to make two pages, I could write over my own writing, but then what? (ELIC 276)

What am I going to do, I need more room, I have things I need to say, my words are pushing at the walls of the paper’s edge […]. (ELIC 277)

Ähnlich wie bei DeLillo wird also auch hier der Verweis auf Schrift gekoppelt mit den Beziehungen der Figuren und ihren jeweiligen individuellen Geschichten, Erinnerungen und Traumata.

Häufig kombiniert Foer Text und Sinnlichkeit, um die besondere literarische Möglichkeit der Emotionsbeschreibung zu betonen. Extremely Loud & Incredibly Close bedient sich hierzu gerne der Personifizierung von Buchstaben, Wörtern oder Textteilen. Vor allem in Zusammenhang mit der Figur des Großvaters und seinen individuellen Kommunikationsformen spielt diese Vorgehensweise eine entschei-dende Rolle. Etwa werden die Aufzeichnungen des Großvaters mit seinen tatsächli-chen Tageserlebnissen gleichgesetzt; der Unterschied zwistatsächli-chen Kanal und Botschaft des Mediums wird ignoriert:

We put his filled daybooks in the bathtub of the second bathroom, because we never use it. I sleepwalk when I sleep at all. Once I turned on the shower. Some of the books floated, and some stayed where they were. [...] The water was gray with all of his days. (ELIC 179f.)

Die Schriften des Großvaters werden also im übertragenen Sinn zu seinen tat-sächlichen Erlebnissen. Auch in diesem Motiv ist das Trauma präsent: die Schlafstö-rungen sind sicher auch auf seine Erschütterung zurückzuführen.

Zur Personifikation von Schrift kommt es auch, wenn Buchstaben und Sätze als etwas Plastisches, Fühlbares und Erfahrbares geschildert werden. Besonders offensichtlich wird dies durch die Verknüpfung von Schrift und Tastsinn in der YES und NO-Tätowierung auf den Händen des Großvaters, welche auf eine Folge des Traumas (seine Verstummung) zurückzuführen ist:

I went to a tattoo parlor and had YES written onto the palm of my left hand, and NO onto my right palm, what can I say, it hasn’t made life wonderful, it’s made life possible, when I rub my hands against each other in the middle of winter I am warming myself with the friction of YES and NO, when I clap my hands I am showing my appreciation through the uniting parting of YES and NO, I sig-nify ‚book’ by peeling open my clapped hands, every book, for me, is the bal-ance of YES and NO, even this one, my last one, especially this one. (ELIC 17)157

Hier wird die Verbindung zwischen Trauma, Schrift, Wort, Gestik und Aus-druck offensichtlich. Das Motiv dieser Verbindung von Wort, Aussage und sinnli-cher Wahrnehmung durchzieht den gesamten Roman, oftmals am Beispiel der Hände des Großvaters. Als Oskar ihn fragt, ob er ihm seine Geschichte erzählen darf, öffnet dieser seine Hand zur Zustimmung, „[s]o I put my story into it” (ELIC 238), und der Großvater gebraucht die Wörter YES and NO teils als Synonym für seine Hände, etwa wenn er seine Skulpturen formt („I worked the clay with YES and NO“ ELIC 277, 281) oder die Großmutter berührt: „her hand was squeezing YES […] her hand was open, I put YES into it“ (ELIC 281, vgl. auch ELIC 276). Das Wort ist hier Körperteil, Bewegung, Gefühl und Aussage zugleich. Wie die beschrifteten Hände werden auch die Aufzeichnungen des Großvaters mehrfach personifiziert:

He took a pen from his shirt pocket but there was nothing to write on. I gave him my open hand. He wrote, I want to get you some magazines. […] I wanted to slap him with his words. (ELIC 306f.)

she cried and cried and cried, there weren’t any napkins nearby, so I ripped the page from the book – „I don’t speak. I’m sorry.“ – and used it to dry her cheeks, my explanation and apology ran down her face like mascara (ELIC 31)

instead of singing in the shower I would write out the lyrics of my favorite songs, the ink would turn the water red or green, and the music would run down my legs (ELIC 18)

157 Neben der Kombination von Sprache und Gestik integriert Foer hier natürlich auch eine selbstre-flexive Aussage, indem er das Medium des Buches als mögliche Vereinigung von Gegensätzen beschreibt: Indirekt verweist er so auf die Fähigkeit von Literatur, mehrere Perspektiven differenziert wiederzugeben und ein Gleichgewicht unterschiedlicher Wahrnehmungsmöglichkeiten zu schaffen (vgl. auch 6.1. Subjektivität und Wahrnehmung: eine Frage der Perspektive).

Foer arbeitet, wie hier deutlich wird, häufig mit Kombinationen von Schrift und sinnlicher Wahrnehmung. Extremely Loud & Incredibly Close lässt vor allem den Elementen Text und Schrift eine besondere Rolle zukommen. Auffällig ist in Foers Roman eine generelle Verknüpfung der Motive Trauma, Geschichte und Schrift sowie die häufige Personifikation literarischer Elemente, die zumeist mit Metaphern sinnlicher Erfahrung verknüpft wird: in den oben beschriebenen Beispie-len „fühlt“ man Schrift. Foer verweist somit auf die Thematik der (inneren und äußeren) Empfindung und setzt diese in Zusammenhang mit geschriebenen Worten.

Dieser Vorgang kann als indirekte Betonung der emotionalen Stärke literarischer Darstellung interpretiert werden.

Die Darstellung von Literatur, Sprache und Text in den Werken von Peltzer, DeLillo und Foer ist auffällig häufig mit Motiven visueller oder haptischer Reize verknüpft.158

158 Indirekt kann auch die häufige Verwendung der Form des Screenplays in The Good Life als Beispiel für die kombinierte Thematisierung von Schriftlichkeit und Bildlichkeit interpretiert werden;

eine explizite Auseinandersetzung mit der Gattung findet sich hier jedoch genauso wenig wie Verweise auf die visuelle oder haptische Komponente von Text und Buchstaben.

Der Exkurs zeigt, dass Bryant Park vor allem die Plastizität und Zeichenhaftigkeit von Schrift betont und die sinnliche Wahrnehmung des Mediums somit auf ästhetischer Ebene akzentuiert. Falling Man betont hingegen eher den Zusammenhang zu inhaltlichen Motiven. Extremely Loud & Incredibly Close stellt Text und Schrift durch Personifikationen als etwas Plastisches, Fühlbares und Erfahrbares dar und hebt die räumlich-haptischen Eigenschaften von Buchstaben oder Papier hervor. Erneut wird die These einer unterschiedlichen Tendenz zwischen amerikanischer und europäischer Verarbeitung deutlich: Neben einer impliziten Gegenüberstellung von Schriftlichkeit und Bildlichkeit nutzen vor allem DeLillo und Foer diese Motivik zusätzlich zur Akzentuierung sozialer Beziehungen oder indivi-dueller Erlebnisse und Traumata. Peltzer hingegen verweist eher auf visuelle Aspekte seines Codes und betont vor allem die Zeichenhaftigkeit und den Entstehungsmo-ment von Geschichten. Auch hier wird die Akzentuierung von theoretischen Verweisen bei den europäischen Romanen gegenüber der inhaltlich-emotionalen Wertlegung der amerikanischen Texte deutlich.

Im Dokument Bildlich gesprochen (Seite 148-155)