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5. Der Erzähler

5.2. Der Erzähler bei Haas

5.2.2. Der Erzähler in der Geschichte

Erst am Ende der Brenner-Serie wird das Geheimnis um die Identität des Erzählers gelüftet. Es handelt sich um den Untermieter von Brenners Großeltern, der bereits seit Brenners Kindheit das Mansardenzimmer bewohnt und sich immer so still verhält, dass er von Brenners Großmutter

„Hausgeist“ genannt wurde.719 Der Erzähler, der über annähernd sechs Romane ein heterodiegetischer ist, verwandelt sich auf den letzten Seiten des letzten Romans in einen homodiegetischen Erzähler. Genette vertritt die Ansicht, dass ein homodiegetischer Erzähler nur „entweder […] der Star oder ein bloßer Zuschauer“720 sein kann. Der Untermieter gibt dem Leser zu verstehen, dass er „immer mit einem gewissen Interesse verfolgt [hat], wie es dem Brenner so geht in der weiten Welt draußen“,721 dass aber sein

„oberstes Prinzip […] über all die Jahre das Prinzip der Nicht-Einmischung“722 gewesen sei. Er ist also tatsächlich die längste Zeit ein bloßer Zuschauer. Durch seine Metamorphose zum homodiegetischen Erzähler wird er zugleich zum Helden, der Brenner das Leben rettet, was jedoch augenblicklich seinen Tod zur Folge hat.

Genette, der in der ersten Version seines Diskurses der Erzählung noch der Meinung ist, dass eine feste Grenze zwischen dem hetero- und homodiegetischen Erzähltyp existiert, gelangt in der überarbeiteten Fassung zu einer anderen Sichtweise.723 Es existieren durchaus Texte, die sich „so nah an der Grenze befinden, dass man nicht mehr genau weiß, auf welcher Seite [sie] situiert“724 sind. Zu diesen Texten kann man zweifellos

718 Zu den Autoren, die Wolf Haas gerne liest, zählen z.B. Ernst Jandl und Elfriede Jellinek. Bei beiden spielt die Auseinandersetzung mit Sprache eine wichtige Rolle.

Siehe: Broich, 2003. Sowie: Haas, Santa Fe. Sowie: Haas, Berserker.

719 DeL, S.19, 120, 217.

720 Genette, 1998, S.176.

721 DeL, S.218.

722 DeL, S.218.

723 Genette, 1998, S.261.

724 Genette, 1998, S.262.

auch die Brenner-Romane zählen. Einerseits ist der Erzähler keine handelnde Figur in der Geschichte, weshalb er dem heterodiegetischen Erzähltyp zuzuordnen ist, doch andererseits gibt es diverse Hinweise darauf, dass der Erzähler ein Teil des diegetischen Universums seiner Romane ist. Der Erzähler lässt beispielsweise den Leser wissen, dass er sowohl Brenner als auch andere Romanfiguren persönlich kennt: „Und da hat man ihn [Brenner] schon gut kennen müssen, […]“725 „[…] wie ich ihn [Brenner] überhaupt noch nie gesehen habe.“726 „Mir auch sympathisch, […]“727 „[…] dass es mich heute noch freut, dass ausgerechnet der Czerny es ausbaden hat müssen.“728 Auch Wendungen wie „für uns“729 oder „bei uns (herunten)“730 lassen vermuten, dass der Erzähler zu den Einheimischen des jeweiligen Handlungsschauplatzes gehört.731 Von Zeit zu Zeit lässt er auch Informationen zu seiner eigenen Person in den Text einfließen, er erwähnt beispielsweise, dass er in Ägypten Urlaub gemacht hat,732 oder dass er sich ein Buch von Stephen Hawking gekauft hat.733 Genettes Theorie von der absoluten Abwesenheit des heterodiegetischen Erzähltyps734 weicht also einer neuen: Nicht nur die Anwesenheit des Erzählers, auch dessen

[…] Abwesenheit hat ihre Grade, und nichts gleicht so sehr einer schwachen Abwesenheit wie eine unscheinbare Anwesenheit. Oder einfacher: von welcher Distanz an beginnt man, abwesend zu sein?735

Besonders interessant erscheint mir an den Brenner-Krimis die widerrechtliche Überschreitung der Erzählebenen, die von Genette als Metalepse bezeichnet wird.736 Noch im Verlauf des letzten Brenner-Krimis

725 AdT, S.23.

726 KsT, S.187.

727 Gemeint ist die Kellnerin der Grillstation. (K, S.109.)

728 KsT, S.47.

729 AdT, S.51.

730 K, S.36, 62.; KsT, S.211.

731 Siehe z.B. auch: AdT, S.100.; K, S.147.; DeL, S.71, 101, 199.

732 K, S.97.

733 KsT, S.167. Weitere Beispiele siehe: KsT, S.141-142.; DeL, S.87-88.

734 Genette, 1998, S.175.

735 Genette, 1998, S.263.

736 Genette, 1998, S.167-169. Es ist möglich, zwischen einer ontologischen Metalepse und einer diskursiven Metalepse zu unterscheiden. (Siehe: Fludernik, Monika: Einführung in die Erzähltheorie. Darmstadt. Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 2006. S.175.) Von der ontologischen Metalepse, die stets illusionsstörend wirkt, soll an dieser Stelle die Rede sein. Die diskursive Metalepse hingegen findet ausschließlich auf der Diskursebene statt, so z.B. wenn der Erzähler den Leser auffordert, mit ihm gemeinsam Brenner beim Observieren zu beobachten: „Jetzt hat einmal ein gescheiter Mann gesagt, wenn du den Beobachter beobachtest, dann veränderst du allein dadurch sein Verhalten, und dadurch weißt du erst recht wieder nicht, wie er es ohne dich gemacht hätte. Das stimmt natürlich, aber ich sage, so viel wird es schon nicht ausmachen, schauen wir dem Brenner einfach ein bisschen über die Schulter. Er wird deshalb schon nicht gleich einen Blödsinn machen.“ (WdT, S.138.)

spricht der Erzähler von sich selbst in der dritten Person, was, hält man sich an Genette, unweigerlich zu der Überzeugung führt, dass der Untermieter nicht der Erzähler sein kann:737 „[…] der [Untermieter] hat das Mansardenzimmer ja schon bewohnt, wie der Brenner ein Kind war, und immer so still, dass die Großmutter ihn »Hausgeist« genannt hat.“738 Doch der letzte Satz des vorletzten Kapitels impliziert eine Abkehr vom heterodiegetischen Erzähltyp: „Und für mich war es [Brenners lautes Moped] auch gut, weil dadurch hab ich sie natürlich sofort gehört, wie sie vor dem Haus vorgefahren sind.“739 Es ist die Angst um Brenners Leben, die den Erzähler dazu veranlasst, von der Diskursebene in die Handlungswelt zu wechseln.

Du musst wissen, mein oberstes Prinzip war über all die Jahre das Prinzip der Nicht-Einmischung. Interesse ja, Sympathie ja, Einmischung nein. Aber soll ich vielleicht durch das Schlüsselloch zuschauen, wie mir der Heinz den Brenner erschießt?740

Der geschwätzige Erzähler, der sich - zwar nur auf der Diskursebene – aber dennoch permanent einmischt, indem er ungefragt zu allem seine Meinung kundtut,741 sieht keine andere Möglichkeit, als an dieser Stelle des Romans in das Geschehen einzugreifen, um Brenner der Gefahr zu entreißen, was er jedoch mit seinem eigenen Leben bezahlt. Mit dem Tod des Erzählers endet zwangsläufig auch die Serie um Detektiv Brenner, denn ein Erzählen ohne Erzähler, ohne Stimme,742 ist nicht möglich, oder, um es mit den Worten des Erzählers zu sagen:

Weil altes Gaunersprichwort: Wer redet, bleibt. Wer schweigt, geht.743

737 Genette, 1998, S.263.

738 DeL, S.19. Siehe auch DeL, S.120, 132.

739 DeL, S.215.

740 DeL, S.218.

741 Häufig leitet der Erzähler dies mit den Worten „ich persönlich“ ein. Siehe z.B.

AdT, S.13.; KsT, S.120, 162.; S, S.87.; WdT, S.13.; DeL, S.7.

742 Siehe Genette, 1998, S.132. Die zentrale Frage zu dem, was bei Genette als Stimme bezeichnet wird, ist: Wer spricht?

743 DeL, S.18.