• Keine Ergebnisse gefunden

Erstes Hauptstück: „Von einer Dialektik der reinen praktischen Vernunft überhaupt.“

Die Dialektik der reinen praktischen Vernunft

10.1 Erstes Hauptstück: „Von einer Dialektik der reinen praktischen Vernunft überhaupt.“

Sogleich der erste Abschnitt des Zweiten Buchs derKritik der praktischen Vernunftstellt den Leser, der mit Kants erster Kritik vertraut ist, vor erhebliche Verständnisschwierig-keiten. Denn die Behauptung, daß nicht nur die theoretische, sondern auch die prakti-sche Vernunft „jederzeit ihre Dialektik“ habe (107, 6), steht im Widerspruch zurKritik der reinen Vernunftvon 1781. Diese definierte ‚Dialektik‘ nämlich als eine „Logik des Scheins“, die das ‚Blendwerk‘ bloß vermeintlich objektiver Aussagen erzeugt (KrV A 61). Zwar hatte Kant auch dort, ganz ähnlich wie jetzt in der zweiten Kritik, die An-tinomien als segensreiche Verirrung bezeichnet, da sie die Vernunft nötigen, über ihre eigenen Grenzen zu ref lektieren und zwischen Phaenomena und Noumena, zwischen Erscheinungen und Dingen an sich, zu unterscheiden. Mit dieser Unterscheidung sollte aber zugleich die grundsätzliche Möglichkeit genuiner Moral gesichert sein, da sich das Sittengesetz eben nicht auf die Sinnenwelt, sondern auf Freiheit und damit auf ein Noumenon bezieht. Daß auch die praktische Vernunft eine Dialektik habe, hatte Kant dort noch bestritten. Ihr wies er deshalb einen „Kanon der reinen Vernunft“ (A 795 ff., vgl. auch A 12) zu, worunter er die Grundsätzea priorides richtigen Gebrauchs eines Erkenntnisvermögens verstanden wissen wollte: „wenn es überall einen richtigen Ge-brauch der reinen Vernunft gibt, in welchem Fall es auch einenKanonderselben geben muß, so wird dieser nicht den spekulativen, sondern denpraktischen Vernunftgebrauch betreffen“ (A 796 f.). Zu dieser Zeit glaubte Kant nämlich noch mit Rousseau, daß die wahren Grundsätze der Moral selbst von der gemeinen Menschenvernunft eingesehen würden.

Das änderte sich mit der ersten Rezension derKritik der reinen Vernunft, die 1782 in denGöttingischen Anzeigen von gelehrten Sachenerschienen war. Kant mußte nun

einse- E F

hen, daß nicht nur das Kanonkapitel mißverstanden worden war, sondern daß vor allem auch über die Grundsätze der Moral keine Einhelligkeit bestand. Deshalb sah er sich genötigt, eineGrundlegung zur Metaphysik der Sitten(1785) zu schreiben, deren Ziel die

„Aufsuchung und Festsetzungdes obersten Prinzips der Moralität“ (GMS IV 392, 3 f.) war.

Hier ist auch erstmals von einer „natürlichen Dialektik“ der gemeinen Menschenver-nunft die Rede, die in dem Hang bestehen soll, gegen die Strenge der Pf lichtgebote

„zu vernünfteln“, ihnen gelegentliche Ausnahmen und Einschränkungen zuzubilligen und sie somit unseren Wünschen und Neigungen angemessener zu machen (IV 405, 12 ff.). Damit werden die Pf lichtgebote um ihre eigentliche „Würde“ gebracht, die ge-rade in ihrer Reinheit und Strenge liegt. Eine Antinomie im Sinne der ersten Kritik – d. h. ein „Widerstreit der Gesetze … der reinen Vernunft“ (KrV A 407, vgl. Metaphy-sik Dohna: XXVIII 620) – ist damit aber noch nicht gegeben. Denn damit von einer Antinomie im eigentlichen Sinne die Rede sein kann, müssen sich zwei Sätze oder Ur-teile, deren Gültigkeit jeweils durch Vernunftprinzipien erwiesen ist, kontradiktorisch gegenüberstehen. Gerade darin sah Kant ja das Revolutionäre seiner Entdeckung der Antinomienproblematik, daß sie die Vernunft nötigt, nicht nur auf mögliche Fehler in ihren Schlußfolgerungen gefaßt zu sein, sondern auf einen Widerstreit in ihren eigenen Gesetzen.

In derKritik der praktischen Vernunftbestimmt Kant die Dialektik deshalb auch nicht wie in derGrundlegungals den Antagonismus zwischen Vernunftgesetz und Maximen der Neigungen und Wünsche, sondern als Resultat des Vernunftverlangens nach der ab-soluten Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten. Damit ist in der Tat eine Annäherung an die Problematik der ersten Kritik gegeben, da auch die theoretische Vernunft ja durch ihr Streben nach dem unbedingten Erklärungsgrund alles Beding-ten bestimmt war (vgl. KrV A 307 f.) und sich gerade wegen dieses Strebens in einer Dialektik verfing. Im Falle der praktischen Vernunft muß diese Totalität, dieses Unbe-dingte, allerdings verstanden werden als deren ultimativer Gegenstand oder letztes Ziel, da das Unbedingte als Bestimmungsgrund des Willens bereits im Sittengesetz vorliegt.

Zu fragen bleibt jedoch, ob und in welchem Sinne mit diesem ultimativen Gegenstand auch der Widerstreit zweier notwendiger Vernunftbedingungen gegeben ist, der für eine Antinomie im Sinne der ersten Kritik konstitutiv ist. Schauen wir uns dazu zuerst den Begriff dieses Gegenstands der reinen praktischen Vernunft genauer an.

Diesen Gegenstand, der „das Ganze, das vollendete Gute“ (110, 35 f.) sein soll, in welchem Sittlichkeit und eine ihr entsprechende Glückseligkeit gleichermaßen enthal-ten gedacht sind, nennt Kant in Anlehnung an die Antike das höchste Gut. Schon früh hatte er sich mit den entsprechenden Theorien der Epikureer, Stoiker, Kyniker und Platoniker auseinandergesetzt (vgl. Düsing 1971). Dabei interessierte ihn vorrangig die Frage nach den Bedingungen einer möglichen Realisierung des höchsten Guts. Denn sobald Kant zu der Einsicht gekommen war, daß nicht Gott, sondern nur die Vernunft Ursprung des Sittengesetzes sein kann, mußte sich ihm die Frage nach den subjektiven

D D    V 

Gründen der Ausführung moralischer Handlungen oder den menschlichen Triebfedern in neuer Schärfe stellen. Wie kann aus der bloßen Einsicht in das sittlich Gute die ent-sprechende Tat folgen? Dies Problem zu lösen stellte sich Kant in der vorkritischen Phase als Stein der Weisen dar: „Wir können uns keinen Begriff machen, wie eine bloße [Vorstellung von der] Form der Handlung könne die Kraft einer Triebfeder haben. In-dessen muß dieses doch sein, wenn Moralität stattfinden soll, und Erfahrung bestätigt es“ (Ref lexionen XIX 183). Deshalb interessierten Kant unter den antiken Theorien vom höchsten Gut besonders diejenigen, denen zufolge dieses Gut ein Ideal höchsten Menschseins darstellt, das sie durch besondere Anstrengungen und Vorkehrungen im Laufe des Lebens zu erreichen trachteten. Das ist der Fall vor allem bei den Epikureern und den Stoikern. Vereinfacht ausgedrückt behauptet der Epikureer Kant zufolge, daß die bewußte Befolgung der Maximen der Glückseligkeit zugleich die Tugend bewirke, der Stoiker dagegen, daß sich seiner Tugend bewußt zu sein notwendig Glückseligkeit zur Folge habe (vgl. 111). Kants Kritik dieser Positionen wird uns im folgenden noch beschäftigen; hier sei nur darauf hingewiesen, daß in dem Moment, wo erkannt wird, daß die Vernunft durch sich selbst praktisch sein kann und die bloße Vorstellung des moralischen Gesetzes den Willen zum Handeln zu bestimmen in der Lage ist, das Pro-blem der Ausführbarkeit sittlicher Handlungen sich in dieser Form nicht mehr stellt.

Wird das Problem des höchsten Guts in derKritik der praktischen Vernunftalso erneut virulent, so muß es in einem anderen Bedeutungszusammenhang sein.

Die Dialektik der reinen praktischen Vernunft soll nach Kant nun gerade in der ge-nauen Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut zu finden sein. Um die entsprechen-den Überlegungen richtig einzuschätzen, sei zuerst an entsprechen-den ‚Fehler der Alten‘ mit diesem Begriff erinnert, auf den Kant im zweiten Hauptstück der „Analytik“ hingewiesen hatte und der seiner Meinung nach darin bestand, daß die Griechen das sittlich Gute in den Begriff des höchsten Guts, „mithin eines Gegenstandes setzten, welchen sienachherzum Bestimmungsgrunde des Willens im moralischen Gesetze zu machen gedachten“ (64, 28 – 30; Hervorhebung vom Verf.). Dagegen hatte er gezeigt, daß gar kein dem Gesetz äußerer Gegenstand, wie auch immer gefaßt, Bestimmungsgrund des reinen Willens sein kann, sondern lediglich das Sittengesetz selbst. Dieses ist folglich formal und abstra-hiert von allen Gegenständen. Es abstraabstra-hiert aber nur von allen Gegenständen, sofern es um den Bestimmungsgrund des reinen Willens geht. Denn natürlich ist ein Wollen ohne Objekte (im weitesten Sinn) genausowenig denkbar, wie ein Gesetz ohne einen Gegenstandsbereich, den es regelt. Betrachtet man den gleichen Sachverhalt aus der Perspektive möglichen Handelns, so ist eine Abstraktion von den Gegenständen oder Zwecken des Wollens nicht mehr sinnvoll. In einer vollständigen Beschreibung des sitt-lichen Bewußtseins bilden Willensbestimmung und Objekt des Handelns immer eine Einheit. Entsprechend schreibt Kant auch, „das moralische Gesetz muß allein als der Grund angesehen werden, jenes [d. h. das höchste Gut als das System solcher Zwecke]

und dessen Bewirkung oder Beförderung sich zum Objekte zu machen“ (109, 23 – 25).

 E F

Damit ist lediglich noch einmal zusammengefaßt, was als Resultat der Analytik der reinen praktischen Vernunft gelten kann. Allerdings formuliert Kant dieses Resultat im letzten Abschnitt unseres Kapitels in einer Weise, die über das Bisherige hinaus-zugehen scheint und die zu erheblichen Kontroversen unter seinen Interpreten geführt hat. Wenn im Begriff des höchsten Guts neben der Glückseligkeit das Sittengesetz als oberste Bedingung der Tugend „schon mit eingeschlossen ist“ (109, 35 f.), dann ist das höchste Gut eben „nicht bloßObjekt, sondern auch sein Begriff und die Vorstellung der durch unsere praktische Vernunft möglichen Existenz desselben zugleich der Bestim-mungsgrunddes reinen Willens“ (Z. 36 ff.). Damit scheint Kant der gerade aufgestellten Behauptung zu widersprechen, wonach das höchste Gut „nicht für den Bestimmungs-grunddesselben zu halten“ ist (Z. 23). Weiter insistiert Kant nun darüber hinaus, daß die menschliche Vernunft sich zu ihren Handlungen den möglichen Erfolg dieser Hand-lungen wenigstens muß denken können. Wäre das höchste Gut als letzter Zweck des Willens selbst unmöglich, so müßte das Sittengesetz, das seine Realisierung fordert und zugleich eines seiner Bestandteile sein soll, selbst falsch, weil unrealisierbar sein: „Ist also das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich, so muß auch das moralische Gesetz, welches gebietet dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein“ (114, 6 – 9).

Diese Formulierungen Kants haben den Widerspruch zahlreicher Interpreten her-vorgerufen, die in der Aufwertung des höchsten Guts zu einem Bestimmungsgrund des Willens eine Preisgabe der Autonomie sehen (vgl. hierzu den Literaturüberblick in Al-brecht 1978, 152 – 166). So schreibt etwa Lewis White Beck in seinem Kommentar zur zweiten Kritik: „[W]ir dürfen uns nicht der Täuschung hingeben, wie es m. E. Kant tat, die Möglichkeit des höchsten Gutes für eine notwendige Bedingung der Sittlichkeit zu halten oder zu glauben, es sei unsere sittliche Pf licht, es zu befördern, – unabhängig von der Pf licht, die durch die Form und nicht durch den Inhalt oder den Gegenstand des moralischen Gesetzes definiert wird“ (Beck 1974, 228).

Offensichtlich hängt die Deutung dieser schwierigen Passagen der zweiten Kritik da-von ab, in welchem Sinne (1) das höchste Gut (im Kantischen Sinn) „nicht bloß Objekt“

ist und wie (2) seine Unmöglichkeit die Falschheit des Sittengesetzes implizieren könne.

(1) Obwohl die „Analytik“ das Sittengesetz als bloß formal bestimmt, weist Kant doch auch dort schon darauf hin, daß es sich dabei nicht um ein Verbotsgesetz handelt, son-dern daß es vielmehr ein Gesetz ist, das der Sinnenwelt „die Form einer Verstandeswelt

… verschaffen“ soll, und daß sein „Gegenbild in der Sinnenwelt … existieren soll“, so daß sich beide wie „natura archetypa“ zu „natura ectypa“ verhalten. Damit versetzt uns das Sittengesetz der Idee nach in eine Natur, „in welcher reine Vernunft, wenn sie mit dem ihr angemessenen physischen Vermögen begleitet wäre, das höchste Gut hervorbringen würde“ (43, 11 ff.). Das höchste Gut ist folglich kein dem Willen externes Objekt, von dem „nachher“ eine Willensbestimmung ausgehen kann oder auch nicht. Es ist viel-mehr die Realisierung des Sittengesetzes in dieser Welt. Damit ist das Gesetz (als die

D D    V 

Bedingung eines ihrer Teile, nämlich Tugend) im Begriff des höchsten Guts etwa so mit

„eingeschlossen“, wie ein Grundriß in der Idee des fertigen Hauses enthalten ist (mit dem wichtigen Unterschied, daß das Gesetz, nicht der Grundriß, zugleich sein „Gegen-bild“ in der Sinnenwelt fordert). Nur in diesem Sinn kann die Vorstellung des höchsten Guts auch moralisch willensbestimmend sein.

Realisiert werden muß es aber (soweit dies möglich ist) von Menschen, d. h. von end-lichen Vernunftwesen, die sich dadurch zum Handeln bestimmen, daß sie sich Zwecke setzen. Alle individuellen Zwecke müssen in letzter Instanz unter das Sittengesetz sub-sumiert werden, wodurch wiederum sittliche Zwecke entstehen, die mit den Zwecken aller anderen Vernunftwesen übereinstimmen. Ein praktisches Gesetz wie das Sitten-gesetz zeichnet sich nämlich dadurch aus, daß es „alles einstimmig macht“ (28, 9) und allen vernünftigen Wesen ein gemeinsames Ziel oder „ein und dasselbe Objekt“ gibt (Z. 13). Deshalb spricht Kant auch von praktischen Gesetzen als den Gesetzen eines

„Reichs der Zwecke“, worunter er ein Ganzes aller Zwecke – der sittlichen wie der in-dividuellen – in systematischer Verknüpfung versteht (GMS IV 433). In diesem Sinne ist die Beförderung des höchsten Guts als eines Reichs der Zwecke also ein uns durch das Sittengesetz vorgeschriebenes Ziel.

(2) Nun gehört die eigene Glückseligkeit zu den Zwecken eines endlichen Vernunft-wesens, die dieses unvermeidlich und aufgrund seiner endlichen Natur sich setzt. Die Realisierung der eigenen Glückseligkeit ist zwar keine Pf licht, denn, wie Kant in der Metaphysik der Sittenbetont, was jeder schon von Natur aus will, kann nicht zur Pf licht gemacht werden (vgl. MS VI 386). Sie kann aber auch deshalb kein rein sittliches Ziel, kein gemeinsames Objekt sein, weil die Bedingungen des eigenen Glücks für jeden ver-schieden sind und von empirischen Umständen abhängen. Wohl ist sie das Ziel „jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens“ (25, 12 – 14). Aber sie ist kein Bestimmungsgrund des reinenWillens, denn dies kann nur ein praktisches Gesetz sein, das „für alle vernünftige Weseneben denselben Bestimmungsgrunddes Willens“ enthalten muß (Z. 23 f.). Insofern ist also die Vorstellung der eigenen Glückseligkeit im Begriff des höchsten Guts nicht moralisch willensbestimmend. Allerdings können wir festhalten: Wenn es ein Reich der Zwecke geben können soll und das höchste Gut in dieser Welt realisierbar sein soll, dann müssen sittliche und natürliche Zwecke derjenigen Vernunftwesen, die diese Realisie-rung befördern sollen, zumindest im Prinzip systematisch verknüpft werden können.

Wäre also die Natur, in der allein ich meine Zwecke realisieren kann und von der ich selbst ein Teil bin, dergestalt, daß sie eine der Tugend entsprechende Glückseligkeit systematisch ausschließen würde, so müßte dies einem Vernunftwiderspruch (d.h. ei-ner Antinomie) gleichkommen, da es ja „immer nur eine und dieselbe Vernunft“ (121, 4 f.) ist, die uns einerseits das Sittengesetz vorschreibt, andererseits einen „nicht abzu-lehnenden Auftrag von Seiten der Sinnlichkeit“ (61, 26 f.) hat, sich um Glückseligkeit zu kümmern. Oder, wie Kant es auch ausdrückt: „[D]er Glückseligkeit bedürftig, ihrer

 E F

auch würdig, dennoch aber derselben nicht teilhaftig zu sein, kann mit dem vollkomme-nen Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte, wenn wir uns auch nur ein solches zum Versuche denken, gar nicht zusammen bestehen“ (110, 27 – 31).

10.2 Zweites Hauptstück: „Von der Dialektik der reinen Vernunft