• Keine Ergebnisse gefunden

Aktualität und Provokation

Nach diesem allzu kurzen Blick in die Dialektik seien nur wenige Momente an Kants Moralphilosophie hervorgehoben, die sie sowohl aktuell als auch provokativ machen:

1. Moralische Erziehung.Einige Gründe für Kants Aktualität sind schon genannt, zum Beispiel daß Kant in der „Methodenlehre“ eine Theorie moralischer Erziehung skiz-ziert, von der der heutige Schulunterricht „Ethik“ viel lernen könnte (s. o. Kap. 1.1). Sie stellt eine gewichtige Alternative zum Vorschlag dar, die Moral anhand von Dilemmata zu diskutieren. Wichtig ist beispielsweise, an den Hang der Vernunft anzuknüpfen, der sich auch bei Jugendlichen findet, „in aufgeworfenen praktischen Fragen selbst die sub-tilste Prüfung mit Vergnügen einzuschlagen“ (154, 17 ff.). Auch verlohnt es sich, „das Prüfungsmerkmal der reinen Tugend an einem Beispiele“ zu zeigen. „Man erzähle die Geschichte eines redlichen Mannes, den man bewegen will, den Verleumdern einer un-schuldigen, übrigens nicht vermögenden Person beizutreten. Man bietet Gewinne …,

E 

er schlägt sie aus. … Nun fängt man es mit der Androhung des Verlusts an … so wird mein jugendlicher Zuhörer stufenweise von der bloßen Billigung zur Bewunderung, von da zum Erstaunen, endlich zur größten Verehrung und einem lebhaften Wunsch, selbst ein solcher Mann sein zu können … erhoben werden. … Also muß die Sittlichkeit auf das menschliche Herz desto mehr Kraft haben, je reiner sie dargestellt wird“ (155, 19 ff.).

2. Existentielles Gewicht. Von einem Moralphilosophen, der häufig als Gegenspieler Kants angesehen wird, von Aristoteles, stammt der Gedanke einer nachdrücklich praktischen Philosophie (Nikomachische Ethik I 1, 1095a 5 f.). In Kants radikaler Grundlagenref lexion hinsichtlich der Moral sehen manche Interpreten den Gedanken der praktischen Philosophie entschwinden. Tatsächlich ist er nicht nur in derMetaphysik der Sitten, ihrerRechtslehreund ihrerTugendlehre, gegenwärtig. Auch der zweiten Kritik (und vorher schon derGrundlegung, selbst der ersten Kritik, vgl. B xxxi, B xxxv u. a.) liegt eine praktische, sogar existentielle Intention zugrunde. Gegen einen ethischen Skeptizismus, der die Gültigkeit moralischer Pf lichten grundsätzlich in Zweifel zieht, und gegen einen ethischen Empirismus, der an ihrer Reinigkeit und Strenge zweifelt, stellt Kant das gewöhnliche moralische Bewußtsein auf einen sicheren Grund und bestätigt es in seiner Unbedingtheit: als reines, von allen empirischen Elementen der Lust und Unlust unabhängiges Gesetz entspringt die Moral der Autonomie des Willens.

3. Kritik an Konsequentialismus und Utilitarismus. Nach einem beliebten Vorwurf sei Kants Ethik gegen das tatsächliche Wohlergehen konkreter Menschen gleichgültig und wegen dieser Gleichgültigkeit dem Utilitarismus unterlegen, der die Moral in Begriffen allgemeinen Wohlergehens definiert. In Wahrheit weiß Kant, wie schon gesagt, daß jedes endliche Vernunftwesen nach Glück verlangt (25, 12 f.); und die Sorge für das Wohl anderer hält auch er für moralisch geboten (34, 19 ff.; vgl. GMS IV 398; MS VI 450). Während der Utilitarismus aber sein Leitprinzip, das Wohlergehen anderer, nicht mehr philosophisch begründet, läßt sich Kant auf die – komplexe – Begründung ein.

Darüber hinaus stellt er für das Sittengesetz mit der Verallgemeinerung von Maximen ein Kriterium bereit.

Weiterhin hält er das Wohlergehen anderer nicht für die einzige Pf licht. Er kennt vielmehr zwei pf lichtgebotene Zwecke, neben der fremden Glückseligkeit auch die ei-gene Vollkommenheit (MS VI 385, 32). Außerdem stellt er sich der vom Utilitarismus vernachlässigten Frage, unter welchen apriorischen Bedingungen ein Subjekt überhaupt zur Moral fähig sei. Und im Widerspruch zu dem unter den Utilitaristen beliebten He-donismus antwortet er mit der Autonomie des Willens. Aus diesen Gründen erscheint die utilitaristische Ethik, von Kant aus gesehen, nicht einfach als falsch, wohl aber als moralisch und zugleich philosophisch ergänzungs- und zugleich korrekturbedürftig.

In- O H

sofern stellt sie weniger ein Gegenmodell zu Kant als eine nicht hinreichend gründliche, als eine zu kurz greifende Moralphilosophie dar.

Gegen den Utilitarismus spricht auch, daß er im Namen des Allgemeinwohls gegen die Gerechtigkeit zu verstoßen erlaubt. Weil Kant dagegen zu Recht Einspruch erhebt, mit dem Vorrang der engen Rechtspf lichten vor den weiten ethischen Pf lichten (vgl.

MS VI 390 – 394), weil beispielsweise das Tötungs- und das Betrugsverbot nicht um des Hilfsgebots willen verletzt werden dürfen, bietet er in der Tat gegenüber dem Utilitaris-mus nicht bloß die philosophisch, sondern auch die moralisch überlegene Alternative.

4. Zur Subjektivität der Moral.Viele Moralphilosophen begnügen sich mit einem höchs-ten Kriterium für Moral. Auch Kant befaßt sich mit dieser Aufgabe, sieht aber zu Recht, daß die Frage nach der Moral damit noch nicht beantwortet ist. Da es in der Moral auf die menschliche Verantwortung, genauer: deren höchste Stufe, ankommt, genügt es nicht, das Kriterium zu kennen, an dem sich die Verantwortung mißt. Wichtig ist auch die Frage, welches Subjekt zu dieser Verantwortung denn fähig ist. Zu diesem Behuf ist nach dem moralischen Subjekt zu fragen, wofür bei Kant der Maximenbegriff eine wich-tige Mittlerrolle einnimmt. Schon in der ersten Kritik versteht Kant darunter subjektive Gründe der Handlungen, d. i. subjektive Grundsätze (B 840). In seinen moralphilo-sophischen Schriften ergänzt er erläuternd, daß derartige Grundsätze eine allgemeine Bestimmung des Willens enthalten und mehrere praktische Regeln unter sich haben (§ 1; vgl. GMS IV 420 f.). AlssubjektiveGrundsätze können sie von Individuum zu In-dividuum verschieden sein, müssen es aber nicht. AlsWillensbestimmungen bezeichnen sie nicht Ordnungsschemata, die ein objektiver Beobachter dem Handelnden unter-stellt; es sind vielmehr Prinzipien, die der Handelnde selbst als die eigenen anerkennt.

Und alsGrundsätze, die mehrere Regeln unter sich haben, steht „unser ganzer Lebens-wandel“ auf dem Prüfstand (KrV B 840): Maximen beinhalten die Art und Weise, wie man sein Leben als ganzes führt, freilich bezogen auf bestimmte Grundaspekte des Lebens und Zusammenlebens, etwa auf Hilfsbedürftigkeit, Lebensüberdruß oder Be-leidigungen oder, so die Beispiele der zweiten Kritik, auf ein Rachebedürfnis (§ 1) und auf Habsucht (§ 4, Anmerkung).

Die Handlungsregeln, die unter die Maxime fallen, haben dagegen mit den wechseln-den Bedingungen des Lebens zu tun und fallen entsprechend verschiewechseln-den aus. Ohne daß es Kant im Rahmen seiner praktischen Vernunftkritik eigens hervorhebt, ist eine Maxi-menethik der verbreiteten Regel- oder NorMaxi-menethik mindestens vierfach überlegen:

1. Weil die Willensgrundsätze von den wechselnden Umständen absehen, wird in ih-nen das normative Grundmuster einer Handlung herauspräpariert. Infolgedessen sieht man, wieso unterschiedliches Handeln eine gemeinsame Qualität, die des Moralischen oder des Nichtmoralischen, haben kann, ohne deshalb in einen ethischen Relativismus auf der einen oder einen starren Regeldogmatismus auf der anderen Seite fallen zu müssen. Die Maxime gibt den normativen Grundriß an, der erst durch jene

„Kontext-E 

ualisierung“ zur konkreten Handlung wird, die eine moralisch-praktische Urteilskraft mittels produktiver Beurteilungsprozesse vornimmt. 

2. Als gemeinsame Lebensgrundsätze verhindern Maximen, daß sich die Biographie eines Menschen in eine unübersehbare Mannigfaltigkeit von Regeln oder gar unendlich viele Einzelhandlungen aufsplittert. Durch Maximen werden die Teile eines Lebens zu einheitlichen Sinnzusammenhängen verbunden, die das Sittengesetz bzw. der kategori-sche Imperativ auf ihre moralikategori-sche oder aber nichtmoralikategori-sche Qualität hin beurteilt.

3. Weil Maximen von den wechselnden Randbedingungen der Person und der Ge-sellschaft absehen, kommt in ihnen der Charakter des Menschen zum Ausdruck. Nicht Normen, sondern Maximen sind der angemessene Gegenstand für Fragen der morali-schen Identität, der moralimorali-schen Integrität und der moralimorali-schen Erziehung.

4. Schließlich erlaubt erst eine Maximenethik, die Moral im Sinne von Moralität zu prüfen. Denn nur bei den letzten, selbstgesetzten Grundsätzen des Begehrens läßt sich feststellen, ob das Handeln bloß pf lichtgemäß, also legal, oder aus Pf licht, mithin mo-ralisch, geschieht.

Die Allgemeinheit, die in jeder Maxime steckt, ist freilich erst eine subjektive und relative Allgemeinheit, nicht die objektive: absolute und strenge Allgemeinheit, die schlechthin jedes Vernunftwesen umfaßt. Deshalb prüft der zweite Gesichtspunkt im Sittengesetz, die Verallgemeinerung, ob der subjektive Lebenshorizont einer Maxime auch als objektiver Lebenshorizont sowohl einer einzelnen Person (vgl. 28, 25 f.) als auch einer Gemeinschaft von Personen gelten kann. Im bunten Strauß subjektiver Grundsätze werden die moralischen von den nichtmoralischen geschieden, und der Handelnde ist aufgefordert, nur den moralischen Maximen zu folgen.

Ziehen wir zurKritik der praktischen Vernunft eine vorläufige Bilanz: Auch wenn man Kant nicht in allen Argumenten folgt, so ist ihm zumindest darin zuzustimmen, daß die kritische Begründung einer sachgerechten Moralphilosophie mindestens vier Aufgaben zu erfüllen hat: (1) eine semantische Aufgabe: die Bestimmung des Begriffs der Mo-ral bzw. des moMo-ralisch Guten; (2) eine kriteriologische Aufgabe: die Begründung eines höchsten Gesetzes oder einer höchsten Regel für die Moral; (3) eine subjektivitätstheo-retische Aufgabe: die Bestimmung der dem Begriff und dem Gesetz entsprechenden moralischen Subjektivität; (4) Überlegungen zum Problemfeld höchstes Gut und Pos-tulatenlehre, nämlich zur Frage, wie sich die „naturale“ Bestimmung des Menschen, sein Verlangen nach Glück, zur Vernunftbestimmung, der Moral, verhält.

Blickt man auf die gegenwärtigen dominierenden Moralphilosophen, etwa auf Rawls, die Diskursethik und den Utilitarismus, so erscheinen sie alle insofern als eklektisch, als sie sich mit weniger Aufgaben als Kant zufriedengeben und ihr Weniger von der Sache her kaum überzeugt. Somit dürfte auch nach mehr als zwei Jahrhunderten dieKritik der praktischen Vernunftschon hinsichtlich der reicheren Aufgabenstellung ihresgleichen su-chen. Und gute Gründe sprechen für die Annahme, daß dies auch für die Lösung der

 O H

Aufgaben gilt: (1) Die Moral meint ein schlechthin objektives Gesetz; (2) ihr Kriterium liegt in der Verallgemeinerung der Maximen und (3) ihr subjektiver Ursprung in der Au-tonomie des Willens. (4) Und wenn man das Problem des höchsten Gutes nicht länger verdrängt, so erscheint es ohne eine Postulatenlehre oder zumindest ein gleichwertiges Äquivalent als kaum lösbar. Infolgedessen darf man Jean Paul abwandeln: Kaufen Sie sich um Himmels willen Kant; und langt es nur zu einem Buch, dann sollte es dieKritik der praktischen Vernunftsein.

2