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Erforderlichkeit

Im Dokument Urteil vom 30. September 2021 (Seite 190-194)

720. Die angefochtene Verfügung bejaht die Erforderlichkeit der vorsorg-lichen Massnahme, weil Swisscom nur die Beibehaltung eines Layer 1-Angebots, nicht aber die sonstigen technischen Grundlagen für den Aus-bau ihres FTTH-Netzes vorgegeben werden.

721. Weitergehende inhaltliche Anordnungen, die von Seiten der Anzei-gerin beantragt worden waren, wurden von der Vorinstanz wegen der nicht dargelegten Erforderlichkeit der beantragten Massnahmen abge-lehnt. Die entsprechenden Anträge der Anzeigerin lauteten:

«[...]

3. Die Angezeigte sei zu verpflichten, den Netzzugang zu ihren FTTH-Netzen den Whosesale-Kunden weiterhin überall auf Layer 1 bzw.

als ALO anzubieten. Ortszentralen müssen dabei ein Versorgungsgebiet von mindestens 3'000 Anschlüssen erfassen.

4. Die Angezeigte sei zu verpflichten, die eigene Einführung und Vermarktung von auf XGS-PON (NG.PON) basierenden Diensten und Produkten im Endkundenmarkt (Retail) derart zu gestalten, dass die Wholesale-Kunden nicht unverschuldet benachteiligt werden. Dabei hat sie namentlich sicherzustellen, dass ihre Retail-Vermarktung erst dann erfolgt, wenn die Verpflichtung gemäss Rechtsbegehren 3 erfüllt ist.»

722. Mit ihrer Beschwerde vom 3. März 2021 verfolgt die Anzeigerin den inhaltlich über die angefochtene Verfügung hinausgehenden Antrag der Ziff. 3 ihrer Anzeige auf Gewährung eines Layer 1-Zugangs in modifizier-ter Form weimodifizier-ter, wobei als Layer 1-Zugang ausschliesslich das Produkt ALO zu verstehen sei.

(1) Vorbringen der Beschwerdeführerin

723. Hinsichtlich des Kriteriums der Erforderlichkeit erhebt die Be-schwerdeführerin keine konkreten Einwände. Allerdings macht sie gel-tend, dass die Vorinstanz den weitergehenden Antrag der Anzeigerin zu Recht als nicht erforderlich abgelehnt habe.

(2) Vorbringen der Vorinstanz

724. Die Vorinstanz hält an der angefochtenen Verfügung fest. Die hier-für vorgebrachten Aspekte werden im Rahmen der Würdigung durch das Gericht berücksichtigt.

(3) Würdigung durch das Gericht

725. Die Erforderlichkeit im Rahmen einer Verhältnismässigkeitsprüfung setzt voraus, dass kein milderes Mittel zur Verfügung steht, um den Zweck, der mit der behördlichen Massnahme angestrebt wird, zu errei-chen.

726. Die Anordnung der angefochtenen Verfügung, beim Bau von FTTH-Glasfasernetzen einen Layer 1-Zugang für andere Fernmeldeunterneh-men bereitzustellen, ist in der Sache erforderlich, weil zumindest zum jet-zigen Zeitpunkt kein milderes Mittel zur Verfügung steht, um die Beach-tung eines durch den Glasfaserstandard festgelegten diskriminierungs-freien und nicht monopolisierten Zugangs zum FTTH-Netz für dritte Fernmeldeunternehmen und damit eine offene Wettbewerbsmatrix si-cherzustellen.

727. Die Beschwerdeführerin bestätigt zum einen ausdrücklich, dass ihre Netzbaustrategie 2020 keinen Layer 1-Zugang bietet und zum anderen legt sie nicht dar, welche Massnahme als milderes Mittel zu qualifizieren wäre. Vielmehr bringt sie gerade vor, dass keine tauglichen technologi-schen Varianten als Technologieanpassung vorhanden seien (vgl. E. 464 f.). Die von ihr ansonsten vorgebrachten Einwände mit einem gewissen Bezug zur Erforderlichkeit sind irrelevant. So stellt das von ihr als va-lables Alternativprodukt bezeichnete BBCS kein Substitutionsprodukt zu einem Layer 1-Zugang dar, wie bereits im Rahmen der Erfolgsprognose festgestellt wurde (vgl. E. 396 ff.). Gleiches gilt auch für die von ihr

er-wähnten Möglichkeiten des gesetzlich vorgesehenen Zugangs zur Kabel-kanalisation und dem Hausnetz für dritte Fernmeldeunternehmen.

728. Dass sich die angefochtene Verfügung mit allfälligen Möglichkeiten alternativer Topologien beschäftigt, die über die Netzbaustrategie 2020 von Swisscom hinausgehen, ist aus der Sicht einer ermittelnden Behörde verständlich, weil dies in einem engen Zusammenhang mit der Behand-lung und dem Verständnis der Angelegenheit steht. Gleiches gilt umge-kehrt für die von der Beschwerdeführerin im Laufe des Verfahrens vorge-nommenen Anpassungen ihrer Netzbaustrategie 2020 mit der Farbent-bündelung und der Glasfaserpartnerschaft. Allerdings ist dies aus Sicht der Rechtsmittelinstanz für die Beurteilung der Rechtslage im Ergebnis ir-relevant. Massgebend ist allein, dass die Netzbaustrategie 2020 von Swisscom einschliesslich der im Rahmen des vorliegenden Verfahrens vorgenommenen Anpassungen keine wettbewerbsrechtlich zulässigen Abweichungen vom Glasfaserstandard darstellen (vgl. E. 420 ff.). Es ist daher Sache der Beschwerdeführerin, im Rahmen des Hauptverfahrens eine taugliche Variante zur Sicherstellung eines Layer 1-Zugangs zu ih-rem FTTH-Netz vorzustellen und es ist Sache der Vorinstanz, eine allfällig vorgestellte Variante auf ihre wettbewerbsrechtliche Zulässigkeit hin zu prüfen. Auf die Beurteilung der Erforderlichkeit der angeordneten vorsorg-lichen Massnahme zum jetzigen Zeitpunkt hat dies jedenfalls keinen Ein-fluss.

729. Zutreffend ist allerdings die vorgenommene Einschränkung der vor-sorglichen Massnahme durch die angefochtene Verfügung auf die Anord-nung der Sicherstellung eines Layer 1-Zugangs, während der weiterge-hende inhaltliche Antrag der Anzeigerin mit Blick auf die Erforderlichkeit der Massnahme aus verschiedenen Gründen offensichtlich abzulehnen war.

730. Die Feststellung, dass eine bestimmte technologische Variante kei-ne taugliche Alternative zum Glasfaserstandard darstellt, ist wesentlich einfacher und mit geringerem Aufwand zu treffen, als die Feststellung, dass eine bestimmte technologische Variante die einzige taugliche Alter-native zum Glasfaserstandard bildet. Nur bei letzterer Feststellung könnte eine vorsorgliche Massnahme aber inhaltlich überhaupt auf eine be-stimmte technologische Variante als einzige Alternative eingeschränkt werden.

731. Wie bereits dargelegt, bezeichnet der Begriff ALO das Produkt von Swisscom, mit dem bislang ein Layer 1-Zugang im FTTH-Netz angeboten wird. ALO basiert dabei auf einem Vierfasermodell mit P2P-Topologie gemäss Glasfaserstandard. Soweit eine taugliche Alternative zum Glas-faserstandard mit Sicherstellung eines Layer 1-Zugangs im Rahmen ei-nes neuen FTTH-Netzes hergestellt werden würde, besteht keine Ver-pflichtung von Swisscom, das Produkt ALO für dieses neue FTTH-Netz anzubieten. Denn es steht schon aufgrund der unterschiedlichen techni-schen Ausgestaltung im freien Ermessen von Swisscom, den entspre-chenden Layer 1-Zugang unter dem gleichen oder einem anderen Pro-duktnamen anzubieten.

732. Ungeachtet dessen, ob eine taugliche Alternative zum Glasfaser-standard gefunden wird oder nicht, umfasst die Anordnung zur Gewähr-leistung eines Layer 1-Zugangs das Vorhandensein eines diskriminie-rungsfreien und nicht monopolisierten Zugangs zu einem FTTH-Netz.

Dabei würde der Anordnung durch eine formale Erweiterung auf das Pro-dukt ALO inhaltlich keine sachdienliche Spezifizierung beigefügt. Soweit keine taugliche technologische Alternative zum Glasfaserstandard exis-tiert, entspricht einem Layer 1-Zugang ohnehin ausschliesslich das Pro-dukt ALO. Soweit allerdings taugliche technologische Alternativen zum Glasfaserstandard geschaffen würden, würde eine Beschränkung auf das Produkt ALO faktisch den Ausschluss einer tatsächlichen Nutzung dieser Alternativen darstellen und somit den Anforderungen an die Erforderlich-keit nicht genügen.

733. Bei dieser Ausgangslage ist insbesondere unter Berücksichtigung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes demnach nicht ersichtlich, aus welchem Grund eine entsprechende ausdrückliche Anordnung mittels ei-ner erweiterten vorsorglichen Massnahme gerade für den Zeitraum bis zu einem Entscheid in der Hauptsache vorgenommen werden müsste.

734. Da im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes angesichts der Anforderung der Dringlichkeit eine möglichst rasche Entscheidung zu tref-fen ist, sind sachlich abgesicherte Anordnungen grundsätzlich auch zeit-nah zu verfügen und nicht bis zur vollständigen Abklärung von darüber hinaus gehenden theoretisch möglichen Alternativen aufzuschieben. Dies gilt auch bei Schutzobjekten, die einen Dauerzustand herbeiführen, un-geachtet dessen, dass die Dringlichkeit in diesen Fällen kontinuierlich an-steigt. Die Vorinstanz hat demzufolge mit der Anordnung der Gewährleis-tung eines Layer 1-Zugangs und ohne das endgültige Ergebnis

umfas-sender Abklärungen zu technischen Alternativen abzuwarten, eine korrek-te Ermessensentscheidung getroffen.

735. Die weitergehenden Anträge der Anzeigerin weisen angesichts der tatsächlich vorgenommenen Anordnung durch die angefochtene Verfü-gung daher keine entscheidungserhebliche Bedeutung für den Erlass von vorsorglichen Massnahmen durch die Vorinstanz im Hinblick auf den ge-genteiligen Antrag der Beschwerdeführerin auf.

736. Die vorstehend dargestellten Aspekte des einstweiligen Rechts-schutzes gelten nicht nur für das Kartellverwaltungsverfahren, sondern auch für das vorliegende Rechtsmittelverfahren. Das Gericht hat so rasch als möglich, d.h. soweit dies angesichts der sich stellenden komplexen und erstmaligen Sach- und Rechtsfragen in einem summarischen Prü-fungsverfahren möglich ist, über die vorliegende Beschwerde der Be-schwerdeführerin zu entscheiden. Gleiches gilt im Parallelverfahren der Beschwerde der Anzeigerin gegenüber der angefochtenen Verfügung, welches wegen deren erforderlicher Anonymisierung erst deutlich später eingeleitet wurde. Daher ist ungeachtet der grundsätzlich bestehenden Möglichkeit einer Vereinigung dieser beiden Verfahren zunächst über die aufgrund der inhaltlich beschränkten Anträge mit einem geringeren Auf-wand zu befindende vorliegende Beschwerde der Beschwerdeführerin und erst danach unter Erbringung des höheren notwendigen Aufwands über die Beschwerde der Anzeigerin mit inhaltlich weitergehenden Anträ-gen zu entscheiden.

737. Aus diesen Gründen hat das Gericht auf eine Vereinigung der bei-den Beschwerdeverfahren verzichtet.

Im Dokument Urteil vom 30. September 2021 (Seite 190-194)