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Entwicklung der behördlichen Entscheidungspraxis

Im Dokument Bahn 2021: Wettbewerb in den Takt! (Seite 84-87)

4.3 Regulierung der Zugangsentgelte

4.3.3 Bedenken in Bezug auf eine Kosten-Preis-Schere

4.3.3.2 Entwicklung der behördlichen Entscheidungspraxis

198. Die Bundesnetzagentur hat am 5. März 2021 den Antrag der DB Netz AG und der DB RegioNetz Infrastruktur GmbH vom 9. Oktober 2020 über die Entgelte und Entgeltgrundsätze für die Erbringung des Mindestzugangspaketes für die Netzfahrplanperiode 2020/2021 genehmigt.283 Zuvor hatte sie am 31. März 2020 bereits die entsprechenden Anträge vom 19. Oktober 2019 für die Netzfahrplanperiode 2021/2022 genehmigt.284 In beiden Beschlüssen hat sie unter anderem zu einem möglichen Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung des DB-Konzerns Stellung ge-nommen. Sie hat einen solchen Missbrauch in Form einer Kosten-Preis-Schere oder in Form eines Ausbeutungs-missbrauchs durch missbräuchliche Preisüberhöhung gemäß Art. 102 S. 2 lit. a AEUV abgelehnt.285 Die Ausführun-gen waren in den Beschlüssen durch das VorbrinAusführun-gen mehrerer HinzugezoAusführun-gener veranlasst.

199. Die Bundesnetzagentur hat ihre Beschlüsse auf Art. 106 Abs. 1 i. V. m. Art. 102 AEUV gestützt. Die Beschlüsse sind unter anderem insoweit zu hinterfragen, als die Bundesnetzagentur aus den zitierten Vorschriften eine eigene Befugnis zur Prüfung der in Rede stehenden Kosten-Preis-Schere abgeleitet hat. Dabei bedarf es hier keiner Stel-lungnahme zu der vom Bundeskartellamt und der Bundesnetzagentur zunächst unterschiedlich beantworteten Frage, welche der beiden Behörden zur Wahrung der Einhaltung von Art. 106 Abs. 1 AEUV (bei isolierter Betrach-tung) zuständig ist.286 Eine ausdrückliche Zuständigkeitsregelung findet sich im deutschen Recht insoweit zugunsten keiner der beiden Behörden. Die Beantwortung der Frage ändert aber nichts daran, dass jedenfalls eine Pflicht des Bundes im Außenverhältnis zu den Nutzern der Schienenwege besteht, die Vorgaben des Art. 106 Abs. 1 AEUV in

281 KG, 12. Dezember 2020, 2 U 4/12 Kart.

282 Art. 267 Abs. 1 AEUV; vgl. dazu Monopolkommission, XXII. Hauptgutachten, Wettbewerb 2020, Baden-Baden 2020, Tz. 416 (dort zu Art. 102 AEUV); Kühling/Geilmann/Weck, ZHR 182 (2018), 539 (565 f.); Kühling/Drechsler, NJW 2017, 2950 (2951 ff.); sowie für die Streitparteien erstellten Gutachten von Körber, Überprüfung regulierungsrechtlich gebilligter Eisenbahninfrastruktur-Nutzungs-entgelte nach deutschem und europäischem Kartellrecht?, Köln 2020; Schweizer, Das Verhältnis von Eisenbahnregulierungsrecht und Kartellrecht bei der rechtlichen Beurteilung von Eisenbahninfrastrukturnutzungsentgelten, Berlin 2020.

283 BNetzA, Beschluss vom 5. März 2021, BK10-20-0353_E.

284 BNetzA, Beschluss vom 31. März 2020, BK10-19-0178_E.

285 BNetzA, Beschluss vom 5. März 2021, BK10-20-0353_E, S. 100 ff.; Beschluss vom 31. März 2020, BK10-19-0178_E, S. 94 ff.

286 BNetzA, Beschluss vom 31. März 2020, BK10-19-0178_E, S. 22, 96 f.

Bezug auf einen Zugang zur Schieneninfrastruktur des DB-Konzerns zu angemessenen Bedingungen und ohne aus-beutende Preisüberhöhung einzuhalten. 287 Aus dieser Pflicht dürfte sich zumindest auch eine Befugnis der Bundes-netzagentur ableiten lassen, eine Genehmigung zu versagen, wenn der DB-Konzern diese missbräuchlich beantragt haben sollte.

200. Die eigene Bindung der Bundesnetzagentur an Art. 106 Abs. 1 AEUV bedeutet allerdings noch nicht, dass die Bundesnetzagentur im Rahmen eines Verfahrens zur Genehmigung von Trassenentgelten nach §§ 45 f. ERegG zu einer umfassenden und eigenständigen Prüfung einer Kosten-Preis-Schere des DB-Konzerns befugt wäre. Zum einen liegt die formelle Zuständigkeit zur Prüfung von Marktmachtmissbräuchen nach Art. 102 AEUV in Deutschland grundsätzlich beim Bundeskartellamt (§ 50 Abs. 1 GWB). Dieses wäre somit im Wege der Amtshilfe (§§ 4 ff. VwVfG) einzubeziehen und das Verfahren der Bundesnetzagentur bis zum Abschluss der Prüfung des Bundeskartellamts auszusetzen. Allenfalls könnte die Bundesnetzagentur eine Genehmigung unter Vorbehalt einer kartellbehördlichen Missbrauchsprüfung erteilen. Zum anderen sind in materieller Hinsicht die Vorgaben des Art. 102 lit. a AEUV ge-trennt von den Pflichten nach Art. 106 Abs. 1 AEUV zu sehen.

201. Insbesondere gilt auch im Kontext regulierter Trassenentgelte, dass das Regulierungsrecht im Hinblick auf eine mögliche Kosten-Preis-Schere – entgegen der Annahme der Bundesnetzagentur – keine Konkretisierung der Art.

106 Abs. 1 i. V. m. Art. 102 AEUV darstellt.288 Insofern ist speziell in diesem Zusammenhang von Bedeutung, dass eine Kosten-Preis-Schere auch dann nicht auszuschließen ist, wenn das EReG eingehalten wird. Dies erklärt sich dadurch, dass eine Kosten-Preis-Schere ein zweigliedriger Behinderungsmissbrauch ist. Dieser erschöpft sich nicht in der Forderung der nach §§ 45 f. ERegG genehmigungspflichtigen Trassenentgelte. Die Behinderungswirkung tritt vielmehr erst auf den nachgelagerten Märkten für Schienenverkehrsdienstleistungen ein, die im Verfahren zur Ge-nehmigung der Trassenentgelte nicht Gegenstand der Untersuchung sind. Der Europäische Gerichtshof – und ihm folgend der Bundesgerichtshof – haben entschieden, dass eine Kosten-Preis-Schere nach Art. 102 AEUV gänzlich unabhängig von der Erteilung einer regulierungsrechtlichen Genehmigung zu prüfen ist.289 Die Reichweite des uni-onsprimärrechtlichen Art. 102 AEUV ist nach alledem autonom und unabhängig vom lediglich sekundärrechtlich und national ausgestalteten Regulierungsrecht zu bestimmen.290

202. Dennoch dürfte die Rechtsansicht der Bundesnetzagentur zumindest insoweit zutreffen, als dass die Bundes-netzagentur eine den Bund nach Art. 106 Abs. 1 AEUV bestehende Pflicht verletzen dürfte, wenn sie Trassenentgelte bei entsprechenden Anhaltspunkten (z. B. Wettbewerberbeschwerden) ohne Entscheidung über die Frage geneh-migen würde, ob diese Entgelte für eine Kosten-Preis-Schere genutzt werden:291

• Zwar stellt die Kosten-Preis-Schere – insoweit entgegen den Annahmen der Bundesnetzagentur – aus-schließlich ein unternehmerisches Verhalten dar, für das nicht der Bund nach Art. 106 Abs. 1 AEUV, sondern allein der DB -Konzern nach Art. 102 lit. a AEUV verantwortlich ist. Ein unternehmerisches Verhalten ist ins-besondere nicht dadurch ausgeschlossen, dass der konzernzugehörige Betreiber der Schienenwege nach

§ 45 Abs. 2 Satz 1 und 2 ERegG für das Erbringen des Mindestzugangspakets keine anderen als die geneh-migten Entgelte vereinbaren darf. Auf die genehgeneh-migten Entgelte kommt es bei der Prüfung von Art. 102 AEUV jedoch nicht an. Ausreichend ist insoweit vielmehr, dass der DB-Konzern einen Antrag bei der

287 Zu den Voraussetzungen im Einzelnen siehe Tz. 48 ff. in diesem Sektorgutachten.

288 Abweichend BNetzA, Beschluss vom 31. März 2020, BK10-19-0178_E, S. 98.

289 EuGH, Urteil vom 14. Oktober 2010, C-280/08 P - Deutsche Telekom/Kommission, Slg. 2010, I-9555, ECLI:EU:C:2010:603, Rz. 80 ff.;

BGH, Urteil vom 29. Oktober 2019, KZR 39/19 – Trassenentgelte, Rz. 24; so auch Monopolkommission, Mehr Qualität und Wettbe-werb auf die Schiene, Baden-Baden, 2019, Tz. 172.

290 Abweichend BNetzA, Beschluss vom 31. März 2020, BK10-19-0178_E, S. 97.

291 Vgl. BNetzA, Beschluss vom 31. März 2020, BK10-19-0178_E, S. 97 (letzte beide Absätze).

desnetzagentur gestellt hat, der zur behördlichen Genehmigung und im Anschluss zu entsprechend berech-neten überhöhten Vorleistungsentgelten für die Nutzung der Schienenwege und gegebenenfalls zu einer Behinderungswirkung auf den Märkten für Eisenbahnverkehrsdienstleistungen führt.292

• Allerdings kann die behördliche Genehmigung durch die Bundesnetzagentur (Hoheitsakt) auch losgelöst vom Verhalten des DB-Konzerns gegen Art. 106 Abs. 1 AEUV verstoßen. Denn die Genehmigung hat auf-grund von § 45 Abs. 2 Satz 1 und 2 ERegG zur Folge, dass zukünftig ein eigenverantwortliches Verhalten des DB-Konzerns hinsichtlich der Geltendmachung der beantragten und genehmigten Entgelte ausgeschlossen wird. Der DB-Konzern kann nach einer Genehmigung also im Wettbewerb mit anderen Eisenbahnverkehrs-unternehmen darauf verweisen, dass die dort eintretende Margenbeschneidung (margin squeeze) unver-meidlich ist. Mit der Genehmigung überhöhter Trassenentgelte bei gleichzeitig (wettbewerbsbedingt) ge-ringen Margen im Geschäft mit Eisenbahnverkehrsdienstleistungen wird also für den DB-Konzern notwen-digerweise eine „Lage geschaffen […], in der dieses Unternehmen einen […] Missbrauch begeht“.293 Der Verstoß gegen Art. 106 Abs. 1 AEUV liegt folglich darin, dass die Bundesnetzagentur die Entstehung dieser Lage nicht durch die Versagung der Genehmigung verhindert. 294

Der Bundesnetzagentur kommt auch nicht etwa ein Entscheidungsspielraum in dem Sinne zu, dass sie einen Verstoß des DB-Konzerns gegen Art. 102 AEUV im Genehmigungsverfahren nur bei Vorliegen „ausreichender Anhaltspunkte“

beachten musste.295 Eine solche Vorgehensweise wäre mit der Pflicht aller mitgliedstaatlichen Stellen zur effektiven Durchsetzung von Art. 102 AEUV in laufenden Verfahren unvereinbar.296 Sie widerspricht speziell im Kontext des eisenbahnrechtlichen Genehmigungsverfahrens auch den Anforderungen des Art. 106 Abs. 1 AEUV.297

203. Damit die Bundesnetzagentur für die Umsetzung der Pflicht des Bundes sorgen kann, die Vorgaben des Art. 106 Abs. 1 AEUV einzuhalten, hätte sie somit ausgehend von den Wettbewerberbeschwerden in den Verfahren zu den Mindestzugangspaketen für die Netzfahrplanperioden 2020/2021 und 2021/2022 der Frage nachgehen müssen, ob die von den Antragstellerinnen geltend gemachten Kosten künstlich überhöht sind. Sie hätte sich also nicht be-schränken dürfen zu prüfen, ob diese Kosten als Vollkosten tatsächlich anfallen. Sie hätte vielmehr auch in Betracht ziehen müssen, dass der DB-Konzern die Kosten, z. B. durch eine nicht marktübliche Eigenkapitalquote und Abwei-chungen von einem marktüblichen Verhalten gezielt in die Höhe treibt.298 In Bezug auf eine Kosten-Preis-Schere des DB-Konzerns wäre außerdem zu untersuchen gewesen, ob der DB-Konzern zugleich die Entgelte für Eisenbahnver-kehrsdienstleistungen künstlich so niedrig hält, dass damit keine Marge erzielt werden kann. Die nähere Untersu-chung dieser Frage wäre durch das Bundeskartellamt im Wege der Amtshilfe vorzunehmen gewesen (siehe oben Tz.

200). Als mögliches Indiz hierfür kann es angesehen werden, wenn Eisenbahnverkehrsunternehmen des DB-Kon-zerns auf längere Zeit in nicht kostendeckender Weise betrieben werden, insbesondere wenn diese Eisenbahnver-kehrsunternehmen aufgrund ihrer Marktposition eigentlich in der Lage sein müssten, kostendeckende Preise im Markt durchzusetzen. Zur Indizwirkung trägt bei, wenn andere Eisenbahnverkehrsunternehmen die verfügbaren

292 EuGH, Urteil vom 6. Dezember 2012, C-457/10 P – AstraZeneca, ECLI:EU:C:2012:770, Rz. 105-109.

293 Siehe schon oben Tz. 52 und die dort zitierte EuGH-Rechtsprechung.

294 Vgl. insoweit auch die Auffassung des BKartA im Schreiben vom 1. März 2021, wonach „Art. 102 AEUV im Rahmen des Genehmi-gungsverfahrens umfassend zu berücksichtigen“ ist; BNetzA, Beschluss vom 5. März 2021, BK10-20-0353_E, S. 21.

295 Ebenso BKartA im Schreiben vom 1. März 2021 (Fn. 294); anders aber BNetzA, Beschluss vom 5. März 2021, BK10-20-0353_E, S. 114 f.

296 EuGH, Urteil vom 7. Dezember 2010, C‑439/08 – VEBIC, Slg. 2010, I-12471, EU:C:2010:739, Rz. 56; siehe auch EuGH, Urteil vom 19. März 1992, C60/91 – Batista Morais, Slg. 1992, I-2085, EU:C:1992:140, Rz. 11 (zu Art. 4 Abs. 3 EUV).

297 Siehe dazu erneut Tz. 48 ff.

298 Vgl. hierzu Monopolkommission, 7. Sektorgutachten Bahn (2019), a. a. O., Tz. 130 f., 171.

Preissetzungsspielräume grundsätzlich ausnutzen.299 Insofern ist im vorliegenden Zusammenhang auf die eigene Feststellung der Bundesnetzagentur in ihrem Beschluss vom 31. März 2020 zu verweisen, wonach die Gesamtum-satzrentabilität durch die fehlende Rentabilität der zum DB-Konzern gehörenden DB Cargo AG trotz dominanter Stellung „stark in den negativen Bereich (2018: -5,3 %) gezogen wird, während die nichtstaatlichen EVU mit +5,5 % in 2018 für sich genommen ein deutlich positiveres Ergebnis erzielen konnten“.300 Die Ausführungen im Beschluss vom 5. März 2021 sind aufgrund des Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Rentabilität weniger aussage-kräftig.301 In Bezug auf eine missbräuchliche Preisüberhöhung (Ausbeutungsmissbrauch) hinsichtlich der Trassen-entgelte hätte auf eine Überprüfung der Entgelte und Margen bei den Eisenbahnverkehrsdienstleistungen im Be-schluss vom 31. März 2020 freilich verzichtet werden können.302

204. Die Bundesnetzagentur hat sich in ihren Entscheidungen demzufolge nicht hinreichend mit den Vorgaben des europäischen Wettbewerbsrechts auseinandergesetzt. Zur Nichtberücksichtigung der maßgeblichen Grundsätze des europäischen Wettbewerbsrechts trug die Wahl eines am Regulierungsrecht angelehnten Prüfungsmaßstabs bei, durch den die Bundesnetzagentur sich die Berücksichtigung einer Kosten-Schere bzw. ausbeutenden Preis-überhöhung gleichsam selbst verschlossen hat. Dem stand dann auch nicht mehr entgegen, dass durch die Entschei-dung des Bundesgerichtshofs im Oktober 2019, die eigenen Feststellungen der Bundesnetzagentur und das Vorbrin-gen mehrerer HinzugezoVorbrin-gene eiVorbrin-gentlich Anlass für eine vertiefte Prüfung eines solchen Wettbewerbsverstoßes ge-boten hätten.303

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