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3. Entropische Desorientierung in Thomas Pynchons The Crying of Lot 49

3.5. Entropische Desorientierung

Schon die ersten Seiten von Pynchons CL 49 lassen den Leser im Text typische Merkmale eines Detektivromans erkennen: die Protagonistin scheint mit einer klar formulierten Aufgabe konfrontiert zu sein, die sich schnell als ein zu lösendes Rätsel entpuppt, die Ermittlungen, die zur Lösung des Rätsels führen sollen, bedürfen einer Reihe von durchdacht geplanten Schritten und auf dem Weg zur erfolgreichen Enthüllung des Geheimnisses lauern auf die Ermittlerin Gefahren, falsche Spuren zu verfolgen und durch falsches Deuten von Indizien Irrwege zu betreten, die die Ermittlung zu zahlreichen Sackgassen führen werden. Nicht allzu schnell wird dem Leser klar, dass seine der Spezifik der Detektivromane entnommenen Erwartungen konsequent enttäuscht werden, dass es hier nämlich keine Lösung des Rätsels in Sicht ist. Diese in der Makroperspektive der Lektüre wahrgenommene Irritation wird dem Leser das Aktivieren gesteigerter Wachsamkeit und Aufmerksamkeit abverlangen, da sich die aufrechterhaltende Unmöglichkeit der Sinnstiftung ihn zunehmend obsessiv an mögliches Übersehen der für die Bedeutungshervorbringung relevanter Geschehensmomente denken lässt. Die großkalibrigeren Strategien der Verwirrung in CL 49 sind meines Erachtens grob genommen epistemologisch und ontologisch fundiert, d.h. sie betreffen sowohl die Fragen der Erkenntnis der Phänomene als auch die Art, wie diese im Geschehen des Romans existieren. Die Verwirrung (auf) der ontologischen Ebene betrifft das, was Brian McHale „hesitation between alternative worlds (levels of reality, orders of being)“281 nennt. Das größte Dilemma hier resultiert aus der Unmöglichkeit des Bestimmens, welcher Art Entität das geheime System Tristero sei. Im Laufe ihrer Suche wurde Oedipa mit mehreren Existenzweisen von Tristero konfrontiert und „je mehr aber Tristero bedeuten könnte – und er scheint am Ende vielen Interpretationen offen –, desto wahrscheinlicher wird es, dass er vielleicht auch nichts bedeutet und Rätselhaftigkeit sein eigentlicher Inhalt ist.“282

‚Ontological hesitation‘ des Tristero konnte nicht mal innerhalb des Spiels The Courier’s Tragedy vermieden werden. In den unterschiedlichen Versionen des Spiels machte „this constantly shifting signifying chain […] indeed impossible to ’pin a signifier to a

281 Brian McHale, Constructing Postmodernism, London, New York, 1992, S. 208. McHale behauptet, die ontologische Störung markiere eine neue Qualität des Schreibens: „When ontological doubt, uncertainty about what is (fictively) real and what fantastic, insinuates itself into a modernist text, we might well prefer to consider this the leading edge of a new mode of fiction, an anticipation of postmodernism. S. 65.

282 Heinz Ickstadt (Hg.), Ordnung und Entropie. Zum Romanwerk von Thomas Pynchon, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 113.

84 signified.‘“283 Diese Strategie, die in Pynchons Texten so oft Einsatz findet, dieses Zuviel an Zeichen und Namen, das man als eine regelrechte Signifikantenüberflutung beschreiben kann, konfrontiert den Leser mit einem Zuviel an (möglichen) Bedeutungen. Das Tristero zum Beispiel „verweist auf sein immenses semantisches Potential, dessen Möglichkeitshorizont an Signifikaten völlig unkontrolliert wuchern kann.“284 Dabei bleibt nicht nur sein ontologischer Status unklar, es lässt sich auch nicht mit Sicherheit feststellen, ob es eine positive oder negative Entität sei: „Das Tristero-System in Lot 49 versinnbildlicht die ambivalente Diskrepanz zwischen einer neuen, konstruktiven Kraft einer noch unbenennbaren Ordnung und der destruktiven Kraft gegenüber dem etablierten semiotischen Regelwerk in dem sie wirkt.“285

Wesentlich komplexere und tiefere Verwirrungen als die der ontologischen Ebene bewirkt jedoch die Epistemologie von CL 49. Eine gezielte Untersuchung der epistemologischen Positionen der Protagonistin lässt, wie ich meine, drei unterschiedliche Erkenntniswege aussortieren. Der erste und sicherste Weg sollte durch minutiöse, linear strukturierte Recherche im Text führen. Oedipa scheint zunächst davon überzeugt zu sein, dass die einzige stabile Erkenntnis, d.h. der Gewinn der Bedeutung, nur diskursiv286 möglich sei. Ihre mühsame Suche und Analyse der sich unterscheidenden Textstellen von The Courier’s tragedy, ihr Interesse für die Geschichte der Briefmarken Inveraritys und für die Hintergründe der Entstehung der Wohnsiedlung Fangoso Lagoons zeugen davon, dass es eben der diskursive Erkenntnisweg ist, an dessen Erfolg Oedipa trotz des wiederholten Scheiterns bis zu Ende glaubt.

Die erste Erfahrung der Offenbarung im Sinne einer nicht-diskursiven, d.h. rational plausibilisierbaren Erkenntnisvariante, sucht Oedipa in Form einer Wahrnehmung heim, die die Existenz einer anderen Erkenntnisfrequenz ankündigt.287 Die Gefühle, die die Erfahrung dieser Art hervorrief, blieben jedoch ambivalent und ließen den Zustand einer Hellhörigkeit entstehen, der jedoch ohne den Willen zur radikalen Umstellung der epistemologischen Einstellung zur Enttäuschung und Isolation führen muss: „[…] this tantalizing web of partial revelation, […] inveigle the reader into mimicking solipsistic and paranoid protagonists who isolate themselves even more profoundly in the course of their epistemological quests.“288

283 Hanjo Berressem, a.a.O., S. 97.

284 Annibale Picicci, a.a.O., S. 96.

285 Ebd, S. 69.

286 Siehe: Fn. 3, S. 3.

287 Siehe das Zitat S. 41f.

288 Peter L. Cooper, Signs and Symptoms, Berkeley, Los Angeles, London 1983, S. 40.

85 Wie wäre also die Erkenntnisbilanz Oedipas am Ende ihrer Queste zu deuten? Hat sie die – durch ihre Ambivalenz enttäuschende – Erfahrung der Hierophanien auf irgendwelche Art und Weise bereichert und wäre es eine schützende „Verstrickung in die Labyrinthe subjektiver Projektion“289? Diese Möglichkeit, die erkenntnistechnisch der Paranoia nahe liegt, bleibt jedoch eine stets unsichere und „however conscious she becomes of her possible instability, Oedipa seems to have only marginal insight into why she might project fantasies.”290 Ickstadt situiert daher vorsichtig die Protagonistin von CL 49 „drinnen wie auch draußen, an der Schwelle einer Offenbarung von Totalität.“291 Sollte sie sich „zwischen Fiktion als paranoiden Gewissheit und einem Nichts an Sinn“ entscheiden, so würde sie

„Fiktionen von Sinn im Bewusstsein ihrer möglichen Nichtigkeit“292 wählen.

Die permanente Instabilität des ontologischen Status‘ des Tristero und die wachsende Unsicherheit, welcher Erkenntnisweg tatsächlich zu seinem Geheimnis führt, bilden meines Erachtens die wichtigsten, zur Desorientierung führenden Momente in CL 49. Die von Pynchon erprobten Textstrategien, die sich hinter diesem Effekt bergen, lassen sich – wie ich zu zeigen versuchte – mit dem Phänomen der Entropie einleuchtend beschreiben, das die Mechanismen der Entdifferenzierung, des Rauschens und folglich des Sinnentzugs in sich vereint. Auf höchst ausgeklügelte Art und Weise jongliert Pynchon in CL 49 mit Zeichen, indem er diese einführt und bald verschwinden lässt, bevor ihnen ein Minimum an Bedeutung entnommen werden kann, und es ist meines Erachtens eben das Fehlen dieses Minimums, dass den Leser konsequent daran hindert, die ihn überflutenden Informationen und Ereignisse sinnhaft miteinander verknüpfen zu können. Die Handlung scheint somit, wie es Baran treffend auf den Punkt bringt, ihren Höhepunkt in Entropie zu erreichen – „der perfekten Ordnung des völligen Widersinns.“293

Der desorientierte Leser findet sich am Ende der Lektüre mit dem Dilemma konfrontiert, inwieweit sich noch aus der Menge der von der Protagonistin gefundenen Spuren Bedeutung des ganzen Romangeschehens herauspräparieren lässt. Seine mentale Arbeit ähnelt dann sozusagen einer Verhandlung des Sinns.294 Der Ausweg aus der Desorientierung muss

289 Heinz Ickstadt, a.a.O., S. 118f.

290 Peter L. Cooper, a.a.O., S. 147.

291 Heinz Ickstadt, a.a.O., S. 122.

292 Ebd.

293 Bogdan Baran, Postmodernizm i końce wieku [Der Postmodernismus und die Enden des Jahrhunderts], Krakòw 2003, S. 169. [„doskonałym porządku zupełnego absurdu.] Baran bemerkt dabei, dass „‘Entropie’ die post-moderne Entsprechung der traditionellen Kulmination des dramatischen Fadens“ sei. [„’Entropia’ [...]

stanowi post-moderny odpowiednik tradycyjnej kulminacji dramatycznego watku.”]

294 Vgl. Dorota Korwin-Piotrowska, Powiedzieć świat. Kognitywna analiza tekstów literackich na przykładach [Die Welt sagen. Kognitive Analyse literarischer Texte mit Beispielen], Kraków 2006, S. 97. Zum Wesen der

86 zwangsläufig über Kompromisse führen, in denen man auf Eindeutigkeit, Klarheit und Stabilität der Bedeutung des Textes verzichten muss und die Wahrscheinlichkeit mehrerer möglicher Deutungen in Betracht zieht. CL 49, wie auch andere Romane Pynchons, führen die Leser allzu gern zu interpretatorischen Sackgassen und versetzen sie in den Zustand des permanenten Zweifels an der Überzeugungskraft ihrer provisorisch konstruierten Deutungen.

Wie bereits erwähnt, habe ich CL 49 als ein Beispiel einer sich erst konstituierenden literarischen Postmoderne eingestuft. Eine dynamisch (kreierte und konstant) zunehmende Ambivalenz wird m.E. zum Hauptcharakteristikum dieses Romans. „Das Bewusstsein von der Austauschbarkeit […] der Werte, Regungen, Handlungen, Aussagen“295 wird somit zur wichtigsten Entdeckung, die der Rezipient von CL 49 während oder am Ende der Lektüre gewinnen wird. Diese in erster Linie durch das enthierarchisierte Informationsüberangebot entstandene Ambivalenz möchte den Leser herausfordern, ihm eine neue Art der Lektüre erzwingen296, ihn an ein (neuartiges) „multiples, ästhetisches Entkodieren denken lassen.“297 Die ambivalente Situation Oedipas, begriffen „als Zusammenwirken einander entgegengesetzter Regungen“298 sollte den Leser auch an mögliche Konsequenzen solcher ambivalenten Lage erinnern, nämlich an Paranoia. Zu den die Ambivalenz stiftenden Strategien gehören in CL 49 auch die Affirmation der Oberfläche und das Thematisieren des Undarstellbaren. „Das Hervortreten […] einer neuen Oberflächlichkeit im wortwörtlichen Sinne“299 wird im Pynchons Roman besonders deutlich in der Szene sichtbar (wahrnehmbar), in der Oedipa einen sich aus den Buchstabenverschiebung ergebenden Druckfehler auf dem Umschlag des Briefes bemerkt.300 Eine trickreiche Verschiebung der Aufmerksamkeit des Lesers auf die Textoberfläche wird desweiteren durch das Einführen der seltsamen Namen der Figuren provoziert. Eine Art literarästhetische Krönung dieses Verfahrens bildet meiner Meinung nach der auf der letzten Seite rezipierte Teil des Satzes: „[…] was all Schrift would tell her.“ ( CL 49, 126) Die letzte wichtige Information im Roman erfährt Oedipa also von einem Herrn Schrift, und es war auch nicht viel, was ihr Schrift sagen konnte. Wenn aber Schrift – im Sinne von einer Reihe von Zeichen gedacht – nicht viel sagen, d.h.

sprachlichen Kommunikation gehört, dass sie in sich sowohl die Möglichkeit der Verständigung als auch die Unzulänglichkeit trägt. Der Prozess des Kommunizierens könnte man daher als Verhandlungen des Sinns verstehen. Solche Verhandlungen zielen generell auf einen Konsens ab. Vgl. ebd.

295 Peter Zima, Moderne/Postmoderne: Gesellschaft, Philosophie, Literatur. Tübingen Basel 1997, S. 254f.

296 Vgl. die Zitate von Christoph Bode auf S. 34 und von Elisabeth Neureuter auf S. 49.

297 Christoph Bode, Ästhetik der Ambiguität : zu Funktion und Bedeutung von Mehrdeutigkeit in der Literatur der Moderne, Niemeyer Tübingen 1988, S. 290.

298 Peter Zima, a.a.O., S. 303.

299 Andreas Huyssen, Postmoderne – eine amerikanische Internationale, in: Andreas Huyssen, Klaus R. Scherpe (Hg.), Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 54.

300 Siehe meine Analyse der Szene auf S. 73.

87 kommunizieren, d.h. bedeuten kann, dann sind wir (mit Oedipa) an den Punkt gelangt, an dem uns jede Bedeutungstiefe entzogen wurde, dann sind wir in der Postmoderne angekommen.

88

4. Hyper-Subversive Desorientierung in Elfriede Jelineks Lust