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3. Entropische Desorientierung in Thomas Pynchons The Crying of Lot 49

3.1. Einführung

Thomas Pynchon gehört zu den wichtigsten amerikanischen Nachkriegsautoren und wird den counterrealists121 zugerechnet. Er gehört zu den – besonders in den 60er und 70er Jahren populären – Schriftstellern, die das problematische Verhältnis des zeitgenössischen Subjekts zu Symbolen, Zeichen und Pattern, sei es in dem psychologischen, soziologischen oder sprachwissenschaftlichen Bereich, zum Hauptthema seines Werks gemacht haben122. Die Vermengung von Erkenntnissen inkompatibler wissenschaftlicher Disziplinen und ihre literarische Bearbeitung ließ Texte entstehen, deren “narrative lines are full of hidden persuaders, hidden dimensions, plots, secret organizations, evil systems, all kinds of conspiracies against spontaneity of consciousness, even cosmic take-over.”123 Die Werke Pynchons registrieren, nicht zuletzt wegen ihrer enormen Komplexität der miteinander vermengten Ideen und Intuitionen – wie es Heinz Ickstadt treffend zusammenfasst – einen konstanten Abbau intersubjektiver Integrations- und Deutungsmodelle. Im Endeffekt lassen sich in seinen Geschichten kaum Fixpunkte lokalisieren,

„keine privilegierte Position des Überblicks – weder für die handelnden Figuren noch für den Leser, von der aus ein Zusammenhang erkennbar wäre: Pynchons wahrheitssuchende Protagonisten irren in einem Labyrinth nicht auflösbarer Widersprüche und Mehrdeutigkeiten, von endlos ineinander verschachtelten und daher nie abschließbaren Geschichten, aus dem sich nur scheinbar – nur durch die paranoide Setzung eindeutigen Sinns – befreien können.“124

Martin Klepper bemerkt, dass Pynchons Romane auf eine subtilere Art und Weise als die explizite Metafiktion die fundamentale Verunsicherung der Kategorien von Fiktion und

121 Zu den Autoren also, die sich bewusst gegen die Tradition des Realismus und des Naturalismus positioniert haben. Vgl. Peter L. Cooper, Signs and Symptoms, Berkeley, Los Angeles, London 1983, S. 1.

122 Vgl. Tony Tanner, City of Words. American Fiction 1950-1970, London 1971, S. 15.

123 Ebd., S. 16.

124 Heinz Ickstadt, Einleitung, in: Heinz Ickstadt (Hg.), Ordnung und Entropie. Zum Romanwerk von Thomas Pynchon, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 10.

37 Wirklichkeit, Natur und Konvention, Leser und Autor bewirken.125 In seinen Texten lassen sich Strategien finden, die langsam und konsequent Analogien zwischen den Situationen seiner Figuren und der Rezeptionssituation der Leser aufbauen. Klepper macht darauf aufmerksam, dass jene Analogien niemals explizit ausgesprochen werden:

„Sie drängen sich umso stärker und eindrücklicher auf, wenn am Ende der Romane die LeserInnen ohne jede Lösung, ja ohne ein auch nur provisorisches Ende der Handlung alleingelassen werden und die jeweiligen Romanwelten genauso rätselhaft in ihrem Bewusstsein zurückbleiben wie es die Erfahrungswelt für Stencil, Oedipa und Slothrop im Laufe des Romans wurde.“126

Seine Schlussfolgerung „das einheitsstiftende Prinzip für die Sinnkonstitution der LeserInnen wurde vom modernistischen mythischen Subtext, der eine transzendente Lektüre der Wirklichkeit möglich gemacht hatte […], in die Immanenz der Wahrnehmung der LeserInnen verlegt“127, macht darauf aufmerksam, wie radikal in der Postmoderne die Rolle des Rezipienten des literarischen Textes an Bedeutung gewonnen hat. So gesehen, ist die Lektüre der Romane Pynchons ständig mit der Notwendigkeit verbunden, die an den modernistischen Texten erprobten Deutungsstrategien aufzugeben.128 Die Werke Pynchons leben von der Ambivalenz, „especially about detecting and communicating patterns, linking correspondences and making them linguistic, using metaphors to account for a reality that is not directly accessible.”129 Es ist aber nicht nur Ambivalenz, die das Klima zunehmender Unsicherheit 130 stiftet und die Lektüre der Werke dieses Schriftstellers zur großen intellektuellen Herausforderung macht. In seinen Romanen jongliert Pynchon mit zahlreichen Termini und Phänomenen unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen, indem er seine Plots aus Begrifflichkeiten der Physik, Kybernetik, Soziologie, Psychoanalyse, Religion und Geschichte zusammenbastelt. Eine weitere Schwierigkeit für die Rezeption entspringt der Präsentationsweise dieses Wissens, das weniger informativ, sondern eher kritisch-provokativ

125 Vgl. Martin Klepper, Pynchon, Auster, De Lillo. Die amerikanische Postmoderne zwischen Spiel und Rekonstruktion, Frankfurt/Main New York 1996, S. 99.

126 Ebd., S. 98. Stencil ist der Protagonist Pynchons ersten Romans V, Oedipa ist die Hauptfigur des von mir untersuchten The Crying of Lot 49, Slothrop ist eine der Figuren im Pynchons bekanntesten Werk Gravity’s Rainbow.

127 Ebd., S. 224.

128 Vgl. LiisaSaariluoma, Der postindividualistische Roman, Würzburg 1994, S. 150.

129 Peter L. Cooper, Signs and Symptoms, Berkeley, Los Angeles, London 1983, S. 204.

130 Auf die Rolle der Unsicherheit, die die Atmosphäre Pynchons Romane determiniert, haben viele Interpreten hingewiesen. Hier z.B. Cooper: „Uncertainty, for example, is not just a theme: it is also a technique, or rather an ultimate effect that Pynchon achieves through all of his fictional techniques. A favorite stratagem is to build a weird story that strains the reader’s ‘willing suspension of disbelief’, but to build it around a real phenomenon, an actual scientific experiment, or a verifiable bit of history that itself seems weirder than the fiction. As a result, the surreal proves real, and the real becomes surreal.” S. 174.

38 mit den verwirrenden wissenschaftlichen Beziehungen, Regeln und Diskursen, die das Wissen organisieren, spielt.131 Eine einleuchtende und zugleich warnende Zusammenfassung der Pynchonschen Schreibweise formulierte treffend Tony Tanner:

„If Pynchons books are confusing, then it is because he is charting and evoking a state of affairs in which authentic inter-subjectivity has all but vanished. He communicates an increasing failure in communication, and is the plotter of a growing disarray. If there is tension and uncertainty in his tone it is because his style is taking issue with the entropy to which it knows it must, like all styles, succumb.”132

Nicht zuletzt wegen ihrer inhaltlichen und formalen Komplexität werden Pynchons Texte von den Literaturwissenschaftlern gern und intensiv untersucht. Eine strikte, im akademischen Kontext betriebene Textanalyse seiner Werke berge in sich jedoch, wie es Richard Poirier behauptet, die Gefahr,

„treating each of the formal or stylistic or allusive elements in a work as a clue to meaning, a point of possible stabilization. This is an especially inappropriate way to treat Pynchon because each of these elements is in itself highly mobile and dramatic. Each is a clue not to meaning so much as to chaos of meaning, an evidence of the impossibility of stabilization.”133

Der Hinweis Poirers meint zweifelsohne die Notwendigkeit einer besonderen Sensibilisierung während der Konfrontation mit einer Literatur, die programmatisch auf die Desorientierung der Leser zu zielen scheint. Letztendlich mögen es aber eben aufmerksame, interdisziplinär agierende Literaturwissenschaftler sein, die dieses herausfordernde Werk überzeugend zu entschlüsseln vermögen.

Der von mir untersuchte Roman The Crying of Lot 49134 subvertiert das herkömmliche Schema des Genres des Kriminal- und Spionageromans, indem er „den Handlungsknoten im Verlauf des Romans nicht auflöst, sondern immer weiterknüpft. Jede Entdeckung impliziert eine neue Verwicklung, jede Lösung fordert noch einen nächsten Schritt.“135 CL 49 präsentiert sich als eine Verschachtelung von detektivisch motivierten Ermittlungen, Erinnerungen, Vermutungen, Analogien, Buchstaben- und Wortspielen oder Metaphern. Die Handlung bleibt dabei offen,

131 Vgl. Robert L. McLaughlin, Mediating the Past: Narrative, History, and Teaching Vineland, in: Thomas Schaub (ed.), Approaches to Teaching Pynchon’s The Crying of Lot 49 and Other Works, New York 2008, S. 114.

132 Tony Tanner, a.a.O., S. 180.

133 Richard Poirier, The Importance of Thomas Pynchon, in: Harold Bloom (ed.), Thomas Pynchon, New York, New Haven, Philadelphia 1986, S. 50.

134 Weiter zitiert unter Verwendung der Sigle CL 49.

135 Heinz Ickstadt, Thomas Pynchon: Die Versteigerung von No 49, in: Heinz Ickstadt (Hg.), Ordnung und Entropie. Zum Romanwerk von Thomas Pynchon, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 111.

39 „weil sie metaphorische Gleichungen immer weiter ausspinnt und so einen Zusammenhang des Zusammenhanglosen entstehen lässt, der ebenso willkürlich wie bedeutungsschwer – zu einer interpretatorischen Agonie, nicht nur Oedipas [d.i. der Protagonistin – K.S.], sondern auch des Lesers führt.“136

Die Interpreten Pynchons haben in ihren Analysen von CL 49 unterschiedliche Momente und Textstrategien des Romans hervorgehoben und als zentral für die Konstitution der Bedeutung des Textes bestimmt. Dana Medoro weist z.B. auf die Sprache hin, die in CL 49

„in almost all of its components: comunication, interpretation, sacred and profane signification, silence and noise“137 untersucht wird, für Hanjo Berressem sind es Beziehungen zwischen der Sprache und der Subjektivität, Peter Freese untersucht insbesondere das Phänomen der Entropie, das im Roman explizit und implizit thematisiert wird und Liisa Saariluoma sieht das Thema des Werkes in der Frage, ‚ob die Wirklichkeit mehr anbiete, als das, was auf der Oberfläche erscheine‘. Der Roman scheint verschiedene Annäherungsweisen willkommen zu heißen, obwohl es kaum möglich ist, einen „sophisticated enough theoretical apparatus into which to fit this work“138, zu finden.

Das Ziel meiner Untersuchung von CL 49 ist es, Irritations-, Verwirrungs- und folglich Desorientierungsquellen im Roman zu lokalisieren und ihr Störungspotential für die Konstitution der Bedeutung des gesamten Romantextes zu sondieren. Durch die Skizzierung der Erzählperspektiven möchte ich zunächst die Darstellungsweise des Romangeschehens untersuchen. Des Weiteren wird die geistige Lage der Protagonistin angesichts der Reizüberflutung, die sie im Laufe ihrer detektivischen Ermittlungen erfährt, diagnostiziert und ihr Einfluss auf die Situation des Lesers sondiert. Im letzten Teil wird die Entropie im Roman in ihrer doppelten Funktion analysiert. Die folgende Untersuchung von CL 49 sucht zwei Thesen zu begründen: Die Desorientierung darf hier als eine ‚entropische‘ bezeichnet werden, da die erzählte Welt auf eine Art und Weise dargestellt wird, die den Prozess der konsequenten Entdifferenzierung des Geschehenen in Gang setzt, die in den radikalen Zuwachs der ‚kommunikativen‘ Entropie mündet. Im Gegensatz zu der prozesshaft verlaufenden (auf die Desorientierung zielenden) Entdifferenzierung suchen darüber hinaus Passagen von CL 49 punktuell, einer (Art) Offenbarung und dem Undarstellbaren einen Ausdruck zu geben. Dieses Unterfangen bleibt jedoch erfolglos, denn „unmediated revelation may never appear in a body of language. Yet Pynchon seems to feel that language can suggest

136 Ebd., S. 112f.

137 Dana Medoro, Menstruation and Melancholy: The Crying of Lot 49, in: Niran Abbas (ed.): Thomas Pynchon:

Reading from the margins. Madison, NJ 2003, S. 71.

138 Hanjo Berressem, Pynchon’s Poetics Interfacing Theory and Text, Urbana and Chicago 1993, S. 1.

40 what it cannot present.” 139 Dieses ästhetisch raffiniert inszenierte Suggerieren des momentanen Eindringens einer unbekannten Entität ins Wahrnehmungsfeld der Protagonistin bildet – so meine zweite These – eine weitere, sowohl ontologisch als auch epistemologisch fundierte Verwirrungsquelle in der Darstellung der erzählten Welt von CL 49.

139 Peter L. Cooper, Signs and Symptoms, Berkeley, Los Angeles London 1983, S. 204.

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