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Empirische Reflexionen: Was macht Macht?

Reflexionen zur Bedeutung von Macht in einem Forschungsprojekt mit Care Leaver*innen

4 Empirische Reflexionen: Was macht Macht?

Im Folgenden werden vor dem Hintergrund der oben entfalteten macht- und ungleichheitsthe-oretischen Überlegungen, Reflexionen zur Bedeutung von Macht im partizipativen Forschungs-projekt »Care Leaver erforschen Leaving Care« vorgestellt. Grundlage sind ethnografische Protokolle und Forschungstagebücher. Die Daten wurden erhoben, um den partizipativen Forschungsprozess zu reflektieren und auszuwerten. Hiermit verbunden ist auch die Reflexion der Grenzen von partizipativer Forschung und eine Untersuchung der Frage, was unter der Überschrift der Partizipation in den Prozessen gemeinsam im Team aus Wissenschaftler*innen, sozialarbeiterischen Fachpersonen und den jungen Erwachsenen mit Jugendhilfeerfahrungen hergestellt wird. Die Ergebnisse des Projektes werden hierbei nicht näher beleuchtet (vgl. hierzu Ahmed/Rein/Schaffner, 2019).

4.1 Adressierungen und Positionierungen: »Ich bin eine Care Leaverin«

Vor dem Hintergrund der Frage nach Macht- und Ungleichheitsverhältnissen in partizipativen Forschungen und mit Bezug zu den Überlegungen der Subjektivierungstheorie stellt sich die Frage nach Adressierungsprozessen im Rahmen des Forschungsprojektes. Dies wird im Folgenden an einer Beobachtungssequenz diskutiert.

Diese Beobachtungssequenz wurde beim ersten Treffen mit einer Kleingruppe von potenziell am Projekt interessierten jungen Erwachsenen erstellt. Der Kontakt zu den jungen Erwachsenen kam über Sozialarbeitende zustande, die mit ihnen aktuell oder noch von der stationären Jugend-hilfe aus in Kontakt sind oder waren. Vor dem Termin haben bereits bilaterale Treffen zwischen den wissenschaftlichen Mitarbeitenden im Projekt und den jungen Erwachsenen stattgefunden.

In diesen Vorkontakten hat sich gezeigt, dass der Titel des Projektes »Care Leaver erforschen Leaving Care« Erklärungen bedarf, da er so im Alltag der jungen Menschen bislang keine Rolle spielte. Im Gespräch haben sie erklärt, dass sie als Selbstbezeichnung eher »Heimkinder« nutzen würden. Care Leaver*in ist also kein lebensweltlicher Begriff, aber mit der Erklärung, dass es um Heimerfahrungen gehe, wurde eine für sie relevante Erfahrung thematisiert. So ist es in einem ersten Schritt gelungen, 15 Jugendliche und junge Erwachsene für eine Teilnahme am Projekt zu motivieren.

Die im Folgenden beobachtete Szene spielt sich vor einem Auftakttreffen in den Räumen der Hochschule ab:

Ich komme um 19.10 h in den Raum, vor dem ein Flipchart mit der Aufschrift »Herzlich will-kommen zum Care Leaver-Projekt«, steht. CL steht gerade an der Tür und wird von W1 begrüßt.

W1 wirkt auf mich sehr interessiert an CL, lächelt freundlich, fragt interessiert nach, lacht mit ihr.

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Rein/Mangold, Reflexionen zur Bedeutung von Macht

Sonderheft 16

Ich begrüße sie ebenfalls – wir stellen uns mit Vornamen vor und sie sagt »Ich bin eine Care Lea-verin« – und ich erfahre, dass sie zum ersten Mal hier ist, ebenso wie ich.

In der Sequenz wird der Treffpunkt für den Workshop beschrieben. Das Treffen findet in ei-nem Raum an der Hochschule statt, an dessen Schwelle ein Flipchart mit der Aufschrift »Care Leaver-Projekt« den Kontext des Treffens bezeichnet und zugleich den Raum als Projektraum markiert. In der Projektbezeichnung wird die Zielgruppe der »Care Leaver*innen« aufgerufen.

Mit dem »Herzlich Willkommen« wird sichtbar, dass die Autor*innen des Flipcharts in der Rolle sind, andere zu begrüßen und in das Projekt aufzunehmen. Der Flipchart kann als Ausdruck von Bildungs- oder Hochschulpraxis gelesen werden und wird bspw. oftmals auch in Weiterbildungen oder formalisierten Treffen im sozialarbeiterischen Kontext genutzt. Darin drückt sich also eine gewisse Form der Hochschulpraxis aus, und es wird darüber auch eine Formalität des Treffens hervorgebracht.

Neben der räumlichen Anordnung und der Beschreibung des Flipcharts soll hier auch eine soziale Interaktion beschrieben werden, die an der Schwelle zum Raum stattfindet. Eine Wissenschaftlerin begrüßt eine junge Erwachsene. Die Wissenschaftlerin nimmt die Rolle der Gastgeberin ein, die, wie auch auf dem Flipchart zum Ausdruck gebracht, die ankommenden Personen willkommen heißt. Sie führt an der Schwelle ein informell wirkendes Gespräch und fragt interessiert nach. Hier wird in der räumlichen Anordnung sichtbar, dass die Wissenschaft-lerin den Zugang zu den Räumen verwaltet und potenziell auch reguliert.

Die Beobachterin selbst wird in diese Ankommensszene involviert und die junge Erwachsene stellt sich ihr vor. Mit den Worten »Ich bin eine Care Leaverin« greift sie die Adressierungen des Forschungsprojektes auf. Die Formulierung »ich bin« wirkt wie eine Identifizierung und Verkörperung der Adressierung, die das Forschungsprojekt vorgenommen hat.

An dieser Sequenz dokumentiert sich, wie die jungen Erwachsenen über das Projekt zu »Care Leaver*innen« gemacht werden. In der Art, wie sich die junge Frau dazu ins Verhältnis setzt und die Positionierung verbal verkörpert, zeigt sich eine Bestätigung der Adressierung. Auch in weiteren Interaktionen mit jungen Menschen, die noch zum Treffen kommen, bleibt das Thema

»Aufwachsen in der Heimerziehung« Zentrum des Gespräches. Andere Lebensbereiche, die thematisiert werden, wie bspw. alleinerziehend zu sein, werden dabei in Verbindung mit dem Thema der Übergänge aus der Heimerziehung gebracht.

Die Transkripte der Interviews, aber auch die Diskussionen in den Auswertungssitzungen zeigen ferner, dass die Erfahrungen und Themen im Zusammenhang mit der stationären Jugendhilfe von den co-forschenden Care Leaver*innen geteilt wurden. Allerdings zeigte sich auch, dass gewisse Themen, die in anderen Forschungsprojekten mit Care Leaver*innen thematisiert werden, hier kaum aufgegriffen wurden. Dies sind bspw. Erfahrungen von Rassismus oder von Ausgrenzung als LGBTIQ*-JJugendliche, Erfahrungen der Abwertung geistiger und körperlicher Fähigkeiten oder Ausgrenzungen in anderer Hinsicht (vgl. Rein 2016; 2018a). Die geteilten Lebenswelten im Heim ermöglichen es offensichtlich, mit den Peers offen über die Heimerfahrungen zu reden und sich gegenseitig zu bestärken. Andere Erfahrungen von Ausgrenzung und das Gefühl, nicht der Norm zu entsprechen, scheinen aber mit diesem Zugang nicht selbstläufig thematisierbar zu sein.

4.2 Erfahrungen berichten vs. Expert*in sein

Der Gewinn partizipativer Forschungsprojekte mit Care Leaver*innen wird darin gesehen, dass durch ihre Beteiligung auch ihre lebensweltlichen Erfahrungen mit in die Forschungen einfließen.

Hier wird auf die Verschränkung von Wissen zwischen Wissenschaftler*innen und Co- oder auch Peer-Forschenden hingewiesen.

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In der Betrachtung der ethnografischen Protokolle und der Forschungstagebücher fällt auf, dass mit den verschiedenen Rollen Spannungsfelder einhergehen. In den Workshops mit den Care Leaver*innen im Rahmen des Projektes spielen informelle Gespräche eine große Rolle. So findet zum Beispiel in der gemeinsamen Auswertung von Datenmaterial eine unterschiedliche Art der Verbindungssetzung mit Themen statt, die in den Daten erscheinen. Hier zeigt sich eine Differenz zwischen Wissenschaftler*innen und den Care Leaver*innen in der Rolle als Co-Forschende. So bringen die Care Leaver*innen häufig sehr persönliche biografische Erfahrungen ein und tauschen sich auch untereinander erzählend über ihre verschiedenen Erfahrungen aus.

Die Rolle der Forschenden wirkt im Vergleich distanzierter und sie stellen eher Vergleiche mit anderen Interviewstellen her.

Die folgende Sequenz aus einem Beobachtungsprotokoll zeigt, wie diese unterschiedlichen Wissensformen aufeinandertreffen und welche Spannungsfelder damit verbunden sind. Hier berichtet eine Care Leaverin von der Praxis der Urinproben im Heim. Diese Praxis verfolgt das Ziel der Kontrolle des Drogenkonsums. Die junge Frau bewertet dies rückblickend als eine disziplinierende Praxis, die wenig wirkungsvoll ist:

»CL berichtet auch von Urinproben und W1 fragt nach und erzählt, was sie darüber weiß. W1 wirkt empört über diese Praxis, von der sie schon oft gehört habe und W2 stimmt ihr zu, während CL von ihren Erfahrungen damit berichtet. W1 klingt dabei wie eine Expertin, die schon viel über das Thema gehört hat und eine feste Meinung dazu hat. Im Vergleich zur Gesprächsatmosphäre bei den Themen davor nehme ich eine Kluft zwischen CL als Betroffener von Urinproben und W1 als Bewertender ›dieser Praxis‹ wahr, wobei ich W1 und W2 immer noch als sehr interessierte Zuhörerinnen wahrnehme, aber W1 bei ihren Ausführungen zu Urinproben auf mich anders wirkt als beim Plaudern [ein wenig zugespitzt formuliert wie eine ›dozierende Expertin‹]«

Im Beobachtungsprotokoll wird auf den Bruch der Art der Gesprächsatmosphäre aufmerk-sam gemacht. Vorab wurde die Gesprächsatmosphäre, in der auch die Care Leaver*innen von Erfahrungen im Heim berichten und die Wissenschaftler*innen interessiert zuhören und dazu Statements im Stil von Alltagsgesprächen abgeben, eher als informell beschrieben. So bekräftigen die Wissenschaftler*innen bspw. die Aversion, die die junge Frau gegenüber einer Professionellen der Sozialen Arbeit hat, die »penetrant« sei, und sagen, dass sie das auch nicht mögen würden, wenn Personen so aufdringlich seien. Auch in Bezug auf andere Themen, über die hier gesprochen wird, wie Piercings oder Kinder, wirken die Wissenschaftler*innen interessiert. Sie hören aktiv bei den Erzählungen der Care Leaver*innen zu und geben zum Teil noch aufmunternd wirkende Kommentare ab. In den Gesprächen geben hin und wieder auch die Wissenschaftler*innen Ein-blicke in ihren Lebensalltag, vergleichsweise stehen sie damit aber sehr viel weniger im Fokus.

An dieser Stelle hingegen scheint die Wissenschaftlerin in der Wahrnehmung der Beobachterin die Rolle einer Expertin einzunehmen, die sich mit der Praxis von Urinproben in der stationären Jugendhilfe beschäftigt hat und vor diesem Hintergrund eine kritische Bewertung dieser Praxis vornimmt. Dies wirkt dabei distanziert zu den Erfahrungen, von denen die Care Leaverin hier berichtet. So beansprucht die Wissenschaftlerin als Expertin die Rolle, die Erfahrung der Care Leaverin zu verorten und eine übergeordnete Aussage dazu treffen zu können. Im weiteren Verlauf des Workshops wird deutlich, dass die Care Leaver*innen viel von ihren Erfahrungen berichten und diese mit Verletzungen, Emotionen und Ungerechtigkeiten verbunden sind. Die Wissenschaftler*innen sind hierbei zum größten Teil eher in einer zuhörenden Rolle, sie fragen nach oder geben auch kürzere, unterstützend wirkende Kommentare zu den Erzählungen. Die Expert*innenrolle wird dabei eher selten eingenommen. Dennoch zeigt sich an der Stelle deut-lich, wie distanzierend und auch machtvoll es wirkt, aus der Rolle der Expert*in zu sprechen.

In Bezug auf die theoretischen Überlegungen, dass in partizipativen Projekten unterschiedliche Wissensformen zusammen kommen und lebensweltliche Perspektiven mit wissenschaftlichen

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oder auch fachlichen Perspektiven in Verbindung treten, zeigt sich als Gefahr, dass Erfahrun-gen der Care Leaver*innen durch die Wissenschaftler*innen überformt und enteignet werden.

Durch die Verbindung von wissenschaftlichem Wissen mit den beschriebenen Erfahrungen von Co-Forschenden kann immer eine Form der Bewertung entstehen und oft wirkt es so, als ob Expert*innen zu einer Einschätzung kommen, die eine höhere Bedeutung hat. Die Verletz-barkeit ist hier bei den Care Leaver*innen sehr viel höher, da ihre konkreten Erfahrungen im Mittelpunkt der Diskussionen stehen.

Gleichzeitig wird deutlich, dass in den Workshops aber teilweise auch die Wissenschaftler*innen von ihrem Alltag berichten. So gibt es Sequenzen, in denen es um die Themen Kinder, Geburten oder Beziehungen geht. Hier haben sich je nach Erfahrungen verschiedene Rollen ergeben und auch die Care Leaver*innen nehmen Expertisen für sich in Anspruch, vor deren Hintergrund sie den Wissenschaftler*innen Tipps geben. Allerdings stehen vor dem Hintergrund des For-schungsgegenstandes die Care Leaver*innen insgesamt sehr viel stärker als Personen im Fokus als die Wissenschaftler*innen.

An anderen Punkten wird sichtbar, dass methodologische Prinzipien im Forschungsprozess stark infrage gestellt wurden. So haben die Care Leaver*innen im Prozess der Leitfadenentwicklung und beim Verfassen von Ergebnistexten sehr stark an der Sprache der Wissenschaftler*innen Kritik geäußert. Diese Kritik betrifft zum Teil Begriffe wie »Peers« oder »Ambivalenzen«. Ebenfalls haben die Care Leaver*innen auch Prinzipien des aktiven Zuhörens bei Interviews hinterfragt, weil sie diese Praxis »unnatürlich« finden und dies aus ihrer Sicht auch zu einer Distanz zu den befragten Care Leaver*innen führen würde. Entsprechend haben die Care Leaver*innen Bestandteile der Schulung für die Interviewführung nicht umgesetzt. Ebenso wurde das Insistie-ren der Wissenschaftler*innen, dass es mit Nachteilen verbunden ist, wenn gute Freund*innen interviewt werden, umgangen.

Mit einer subjektivierungstheoretischen Perspektive wird deutlich, dass die Subjektpositionen von Wissenschaftler*innen und Care Leaver*innen mit ungleichem Verletzungspotenzial einher-gehen. Das Aufwachsen in der stationären Jugendhilfe ist immer auch mit ent-normalisierenden Erfahrungen verbunden (vgl. Rein, 2018a). Es besteht die Gefahr, diese über Forschungsarrange-ments aufzurufen und die jungen Menschen in Subjektpositionen hineinzurufen, die mit diesen verletzenden Adressierungen verbunden sind. Vor diesem Hintergrund ist es bedeutsam, mit den Erwartungen an die Co-Forschenden, lebensweltliche Erfahrungen in den Forschungsprozess einzubringen, sensibel umzugehen. Denn hier besteht für die Co-Forschenden ein sehr viel hö-heres Risiko im Forschungsprozess als für die Wissenschaftler*innen. Zwar bieten die anderen Care Leaver*innen eine Ressource, um sichtbar zu machen, dass die Erfahrungen nicht nur individuelle Probleme sind, sondern auch andere Jugendliche mit Heimerfahrungen mit verlet-zenden Adressierungen konfrontiert waren. Dennoch bleibt die Rolle von Wissenschaftler*innen als Expert*innen vor dem Hintergrund ihrer theoretischen und empirischen Beschäftigung mit dem Thema weitaus weniger riskant. Vielmehr bringt diese Rolle die Gefahr einer selektiven Auf- oder Abwertung von lebensweltlichem Wissen mit sich, wenn durch das Sprechen in der Rolle der Expert*in manche Aspekte und Themen verstärkt und andere in den Hintergrund gerückt werden.

5 Mögliche Ansatzpunkte für einen machtsensiblen Umgang in