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Mira** ist vierjährig, als ihre Eltern von Portugal in die Schweiz ziehen. Sie wol- len hier ein besseres Einkommen für die Familie erzielen. Das Kind wird zu-erst von der Grossmutter mütterlicher-seits betreut, dann von der Schwester der Mutter und anschliessend von der

Schwester des Vaters. Immer wie der ein neues Umfeld, die Eltern sind fern.

Einmal pro Woche haben die Eltern mit dem Kind telefoni schen Kontakt.

Nach der Grundschule in Portugal ent-schliessen sich die Eltern, die Tochter

in die Schweiz nachziehen zu lassen.

Hatte Mira zuerst die Eltern vermisst, die sie praktisch nicht kannte, vermis-ste sie jetzt das Leben in Portugal. Die Eltern sind mit Arbeiten beschäftigt und haben wenig Zeit, sich tagsüber um ihre Tochter zu kümmern; die

Ju-Internetplattformen wie Skype erleichtern Eltern in der Schweiz und ihren Kindern in der Ferne die Kommunikation über Grenzen hinweg.*

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gendliche ist mit der Schule überfor-dert und mit ihren Problemen meist auf sich allein gestellt. Sie kommt in eine sozialpädagogische Einrichtung.

Mittlerweile hat sie die obligatorische Schulzeit hinter sich und strebt eine Lehre im Detailhandel an. Die Schwie-rigkeiten in der Familie halten weiter-hin an.

Pionierstudie

Das ist eines von mehreren Beispielen, wie sie im Forschungsprojekt « Tren-nungssituationen von Eltern und Kin-dern in transnationalen Familien » zur Sprache kommen. Nicht alle Konstella-tionen verlaufen so schwierig, aber die allermeisten der untersuchten Fami-lien sind grossen Belastungen ausge-setzt. Beim Forschungsprojekt handelt es sich um eine Pionierstudie. « Wir untersuchen hier im Bereich der Mig-rationsthematik ein Feld, das national bisher gar nicht und international nur wenig erforscht wurde », sagt Prof. Dr.

Thomas Geisen von der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, der zusammen mit Prof. Dr. Luzia Jurt die Untersu-chung leitet.

Neben den konkreten Umständen, die eine Familie zur Migration veranlass-ten, soll die Studie verdeutlichen, wie die Trennungsphase organisiert wur-de und wie die Kontakte aufrechter-halten werden. Schliesslich interessie-ren auch die Beweggründe, warum und zu welchen Zeitpunkten die Kinder nachgezogen werden und wie diese Fa-milienzusammenführung gestaltet wird. Es ist eine Studie, die den ganzen Migrationsprozess von der Entschei-dung über die Trennung von den Kin-dern bis zur familialen Rekonfigurati-on rekRekonfigurati-onstruiert.

Aus der ganzen Welt

Für die Studie wurden 20 Migrations -familien ausgewählt. « Wir haben be-wusst ganz unterschiedliche Familien

gesucht. Sie stammen aus verschiede-nen Ländern. Auch die Familienkons-tellationen sind ganz unterschiedlich », sagt Thomas Geisen. Es hat Zwei-El-tern-Familien darunter, ebenso wie Flüchtlinge oder Sans-Papiers. Es gibt die Familie, die ihr Kind aus Bil dungs-gründen vorübergehend wieder in das Herkunftsland zurückgeschickt hat.

Und es gibt jenen Fall, wo der Anstoss zum Nachziehen des Kindes von den Grosseltern kam, die im Herkunfts -land der Eltern die Kinder betreuten.

Im Mittelpunkt der Studie steht damit nicht der Vergleich von spezifischen na - tionalen Herkunftskontexten. Es geht vielmehr darum, Entscheidungspro-zesse und Handlungsverläufe in Mig-rationsfamilien zu rekonstruieren. Ein wichtiger Fokus der Studie ist nicht zu-letzt, wie die Beziehungen in der Tren-nungszeit auf Distanz aufrechterhalten werden. Untersucht wird daher auch, welche Kommunikationsmittel einge-setzt werden. Ebenso die Bedeutung der Kommunikation für die Aufrecht-erhaltung der Familienbeziehungen über grosse räumliche Distanzen.

Die ersten Resultate zeigen, dass Tren-nungssituationen in transnationalen Familien sehr vielfältig sind und ganz unterschiedliche Verläufe und Ausprä-gungen annehmen. Es zeigen sich aber auch Gemeinsamkeiten über die unter-suchten Familien hinweg. So hätten vie- le Eltern etwa eine Vorstellung darü ber, wie und wann sie ihr Kind nachziehen wollten, sagt Luzia Jurt. « Aber diese lässt sich in den allermeisten der von uns untersuchten Fällen nie so reali-sie ren. Es kommt immer anders. » Doch trotz der möglichen Schwierigkeiten holen die untersuchten Familien, unab- hängig von Status oder Herkunft, frü-her oder später ihre Kinder in das neue Land nach. Das gilt selbst für Sans-Pa-piers, die sich und ihre Kinder dadurch einem grossen Risiko aussetzen.

Wissensbox:

Interviews mit Familien

Trennungssituationen von Familien-mitgliedern stellen eine wichtige Grunderfahrung von Migration dar.

Meist fokussiert sich die Forschung je-doch auf die Erwachsenen, und die Sichtweise von Kindern geht verges-sen. Untersuchungen, die die Perspek-tive aller Familienmitglieder berück-sichtigen, sind eher selten. Das hat zum Teil mit den methodischen Her-ausforderungen zu tun. Um die unter-schiedlichen Perspektiven einzufan-gen, sind Interviews mit Eltern und Kindern nötig. Gerade bei sensiblen Themen, wie sie familiäre Trennungs-situationen darstellen, willigen nicht immer alle Familienmitglieder in ein Interview ein. Gründe dafür können sein, dass das Thema in der Familie tabuisiert oder es für einzelne zu schmerzhaft ist, darüber zu sprechen.

Auch wollen manchmal Jugendliche in der Adoleszenz nicht über persönliche Erlebnisse in der Familie berichten oder sind Eltern( teile ) bestrebt, ihre Sichtweise der Trennung durchzuset-zen. Eine weitere methodische Heraus - forderung ist die Interviewsituation mit Kindern, die es altersadäquat anzu- pas sen gilt. Ein multiperspektivischer Zugang bei Familien eröffnet im vor-liegenden Falle die Möglichkeit, Tren-nungserfahrungen aus unterschiedli-chen Sichtweisen zu erfassen, Über-einstimmungen in der Bewertung der Erlebnisse zu identifizieren und Unter-schiede herauszuarbeiten.

* Inszenierte Aufnahme. ** Name der Redaktion bekannt.

Projektteam

Projektleitung: Prof. Dr. Thomas Geisen und Prof. Dr. Luzia Jurt Projektbeteiligte: Christophe Roulin lic. phil., Projektmitarbeiter

Projektfinanzierung

Schweizerischer Nationalfonds ( SNF ), Abteilung I: Geistes- und Sozialwissen-schaften

Schlüsselwörter

Migration, transnationale Familien, multilokale Familien, Migrationspolitik, Integrationspolitik

Projektvolumen CHF 300 000.—

Projektlaufzeit

1. Juni 2010 – 31. Mai 2013 ( 36 Monate )

Doppelte Trennung

Oftmals würden Eltern aufgrund von Schuldgefühlen unter der Trennungs-situation leiden, ist eines der vorläufi-gen Ergebnisse. Andererseits zeigt die Studie, dass das Getrenntsein auch für viele Kinder enorm belastend ist. Lu-zia Jurt: « Viele machen eine doppelte Trennung durch: Zuerst von den El-tern, später wieder von ihren Bezugs-personen, die sie betreut haben. Das gegenseitige Vertrauen über all die Jah- re aufrechtzuerhalten ist für alle eine Herausforderung. »

Auch wenn die Grundlagenforschung nicht unmittelbar mit der Praxis ver-bunden ist, würden die Daten und Er-kenntnisse der Studie in den Alltag ein-fliessen und die Reflexion in der profes-sionellen Tätigkeit im Migrationsbe - reich verbessern, sagt Geisen. Die Ergebnisse der Studie könnten da zu beitragen, die Bedürfnisse von Famili-en im Kontext von Migration sichtbar zu machen und differenzierter zu beurtei len. « Neues Wissen über die Lebenslage von Migrationsfamilien wird in der Sozialen Arbeit sehr ge-schätzt. Beratende Personen und Ins-titutionen in diesem Umfeld werden für die Auswir kun gen solcher Tren-nungssituationen besser sensibilisiert und können gezieltere Unterstützun-gen anbieten. »

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Das Integrations-Brücken-Angebot Zug ( I-B-A ) vermittelt ausländischen Jugendlichen, darunter solchen aus transnationalen Familien, die phasen - weise von ihren Eltern getrennt wa-ren, Kenntnisse für ein Leben in der Schweiz. Ein Gespräch mit Ruedi Beglinger, stellvertretender Leiter I-B-A Zug.

Deutsch lernen, Mathematik vertiefen, die berufliche Ausbildung kennen ler-nen: Das Integrations-Brücken-Ange-bot hilft fremdsprachigen Jugendli-chen, sich in der Schweiz beruflich und sozial einzugliedern. Die Stadt Zug hat zusammen mit dem Kanton Zug schon vor rund zwanzig Jahren ei-nen Integrationskurs eröffnet, der zum I-B-A geworden ist.

Rund sechzig Jugendliche und jun ge Erwachsene zwischen 14 und 21 Jah-ren besuchen das I-B-A Zug. Sie stam-men aus der ganzen Welt und aus ganz verschiedenen sozialen Schichten und Familien-Konstellationen. Einige von ihnen lebten zeitweise von ihren Eltern getrennt. Die meisten sprechen kein Deutsch, wenn sie eintreten. Das Er-lernen der deutschen Sprache hat im ersten Jahr Priorität, aber auch Mathe-matik, Englisch und weitere Fächer stehen im Angebot. Im zweiten Jahr ist die Berufswahl zentral, damit für alle eine Anschlusslösung gefunden wer-den kann.

Auch Jugendliche aus transnationalen Familien, die von ihren Eltern lange getrennt waren, besuchen das I-B-A.

Gibt es dabei spezielle Probleme?

Es sind anspruchsvolle Konstellatio-nen. Unsere Erfahrung zeigt aber, dass sehr viele Jugendliche in Anbetracht dessen, was sie erlebt haben, sehr flexi - bel und anpassungsfähig sind und die Umstellungen recht gut verarbeiten.

Was sind Schwierigkeiten dabei?

Sie resultieren daraus, dass Jugendli-che etwa bei ihren Grosseltern im Her-kunftsland aufgewachsen sind und nun hier in der Schweiz mit ihren El-tern leben sollen, zu denen sie weitge-hend den Kontakt verloren haben. Viele wären lieber im Herkunftsland geblie-ben. Sie sind gezwungen, sich mit ihren Eltern und auch mit der neuen kulturel - len Situation auseinanderzusetzen. Das kann zu Problemen führen.

Wie äussern sich diese?

Fehlende Motivation, Desinteresse oder die Verweigerung, Deutsch zu ler-nen. Bisweilen auch eine soziale Abson - derung. Das kann in der ersten Phase vorkommen. In unserem Angebot hat jeder Lernende einen Coach, der bei Schwierigkeiten erklärt, unterstützt, teilweise auch mit den Eltern zusam-men. Wir haben gute Ressourcen, die wir hier in Zug einsetzen können. Das hilft enorm, damit die Jugendlichen ihren Weg finden.

Ist die Trennungssituation ein Thema?

Sicher. Die Eltern sagen es manchmal selber, dass dies ein wesentlicher Grund der Schwierigkeiten sei. Sie ha-ben den Kontakt zu ihren Kindern et-was verloren. Zudem sind sie schon an eine neue Kultur gewöhnt, während die nachgezogenen Jugendlichen sich erst noch zurecht finden müssen.

Wie gehen Sie vor, wie stärken Sie die Jugendlichen?

Wir versuchen herauszufinden, wo ge-nau die Konflikte liegen. Dann

spre-chen wir darüber, zeigen Wege auf.

Sehr wichtig ist es zu erkennen, was die Jugendlichen unabhängig von ih-ren noch ungenügenden Deutschkennt-nissen für Potenziale haben, und diese zu fördern. Das ermöglicht eine geziel-te Betreuung. Dann klappt es. Wir ma-chen sehr gute Erfahrungen.

Glauben Sie, dass die Problematik solcher Trennungssituationen bei Bera tungsstellen und Organisationen genügend bewusst ist?

Ich kann schlecht für alle sprechen.

Aber jene Beratungsstellen oder Orga-nisationen, die ich kenne, sind für die-se Problematik durchaus die-sensibilisiert.

Was kann da eine wissenschaftliche Grundlagenforschung zu diesem The-ma bieten? Was erwarten Sie?

Wenn die Grundlagenforschung praxis - nah umgesetzt werden kann, ist das si-cher gut und wertvoll. Ich denke auch an Politiker, die sich oft auf Grundla-genstudien und weniger auf praktische Erfahrungen berufen. Sie werden pro-fitieren von den Erkenntnis sen. Und für die Integrations-Angebote ist es inter-essant, wenn sie ihre Alltagserfahrun-gen auf eine wissenschaftliche Grund-lage gestellt sehen. Wenn sich die Er-kenntnisse einer solchen Studie mit dem decken, was wir in der Praxis erle-ben, ist das gut und wird uns stärken.

Weitere Informationen:

http://www.zug.ch/behoerden/

volkswirtschaftsdirektion/iba

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