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Einordnung in den Forschungsstand der Phänomenologie

Im Dokument KARLS UNIVERSITÄT (Seite 27-31)

1. Forschungsstand

1.3. Einordnung in den Forschungsstand der Phänomenologie

Die Fragen, wie Epoché und Reduktion zu fassen sind, sowohl jeweils einzeln als auch in ihrer Wechselwirkung, und ob sie überhaupt einen ausgezeichneten Stellenwert für alle Arten der Phänomenologie einnehmen und einnehmen sollten, sind in der gegenwärtigen phänomenolo-gischen Forschung nach wie vor präsent (siehe: Bernet 2016: 312, Zahavi 2019 und Morley 2010). Die Epoché werde oft entweder ignoriert, für selbstverständlich gehalten oder missver-standen (vgl. Morley 2010: 225). Bezüglich des Stellenwertes gemahnt Husserl selbst, „ohne die Eigenheit transzendentaler Einstellung erfaßt und den rein phänomenologischen Boden sich wirklich zugeeignet zu haben“ (Husserl 1913: 179) bleibe Phänomenologie ein leeres Wort. Er insistiere, solange Epoché und Reduktion nicht ernst genommen würden, sei die Phänomeno-logie nicht zu verstehen. Dennoch werde genau dieses Insistieren in der phänomenologischen Literatur hinterfragt, und es sei umstritten, ob die Phänomenologen folgender Generationen, wie beispielsweise Heidegger, Merleau-Ponty oder Jean-Paul Sartre Epoché und Reduktion verworfen oder implizit vorausgesetzt haben. (vgl. Zahavi 2007: 24 und Zahavi 2019: 2) In der gegenwärtigen Debatte gibt es Argumentationen, welche die Epoché als Zentrum der Phäno-menologie betrachten und somit, beispielsweise ausgehend von Amedeo Giorgi’s Beiträgen zu einer Erneuerung der Psychologie, die Nutzbarkeit der Epoché gerade für angewandte Phäno-menologie propagieren (vgl. Morley 2010). Allerdings ebenso gegenläufige Argumentationen, die zwar den Wert von Epoché und Reduktion für eine philosophische Phänomenologie, insbe-sondere die transzendentale Phänomenologie, betonen, aber für eine angewandte Phänomeno-logie, die in der wissenschaftlichen Forschung beispielsweise mit SozioPhänomeno-logie, Psychologie oder Anthropologie arbeite, spielen diese keine besondere Rolle und können sogar verkomplizierend wirken (vgl. Zahavi 2019: 9ff.). Jenseits dessen gibt es die Forderung nach einem Paradigmen-wechsel in der Phänomenologie, nach dem diese als reine Praxis aufgefasst werden solle – denn Phänomenologie sei entweder angewandt oder überhaupt nichts (vgl. Depraz 2012: 9ff. und Depraz et al. 2003b: 213f.).

Dieser Widerstreit verdeutlicht zwei Aspekte: Erstens wurde und wird die Phänomenologie häufig als untrennbar mit ihrer Methode verbunden betrachtet oder sogar als Methode gesehen und daher ist zweitens die Methode untrennbar von der Frage nach der Phänomenologie selbst, nach ihrem Sinn und Zweck. Hierbei ist hervorzuheben, dass eben „in der Phänomenologie die

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Methode niemals preskriptiv sein kann, sondern in der methodischen Reflexion immer der »Sa-che« entnommen werden muss.“ (Schnell 2019: 23). Diese Verbindung von Methode und Sache führt zu der Frage nach der Sache der Phänomenologie. Es gibt allerdings keine Sache der Phänomenologie, weil es nicht die Phänomenologie gibt. So bemerkt Schnell, die Phänomeno-logie dürfe nicht in ihrem Wesen begrenzt werden, sie sei ein offenes, kein abgeschlossenes Projekt. Insofern sei die Frage, was Phänomenologie sei, immer auch die Frage, was sie sein könne. (vgl. Schnell 2019: 21ff., besonders Fußnote 1). Eine solche Sichtweise darf in keinem Fall, gerade im Angesicht der sich im Forschungsstand zeigenden Mannigfaltigkeit Epoché, als eine Trivialisierung missverstanden werden: Nicht jedes Forschungsprojekt, das sich um Vo-raussetzungslosigkeit bemüht und unter Zurückhaltung von Urteilen Phänomene betrachtet, ist zwangsläufig Phänomenologie. Ebenso ist nicht jede Person, die sich einer Art der Epoché be-dient Phänomenologin oder durch den Verzicht darauf zwangsläufig keine Phänomenologin.

(siehe auch Bernet 2016: 328ff.) Die genuine Offenheit und Unabgeschlossenheit der Phäno-menologie implizieren allerdings, dass sie noch an ihrer Abgrenzung arbeitet und diese stets neu zu bestimmen hat.

Diesem Gedanken und der Darstellung des Forschungsstandes folgend, kann sich eine Ar-beit, die sich um einen Aufweis der Epoché in ihrer existentiellen Tiefendimension, also als Vollzug und Geschehen, bemüht, nicht ausschließlich mit Phänomenologie auseinandersetzen und ebenso wenig nur mit dem sogenannten abendländischen Denken. Epoché tangiert allge-meinere Fragen, wie die der Verbindung von einer wie auch immer gearteten philosophischen oder, noch allgemeiner, einfach anderen Einstellung und der sogenannten alltäglichen, gewöhn-lichen oder natürgewöhn-lichen Einstellung. Wie angemerkt, versteht sich die Arbeit dennoch als phä-nomenologisch, insofern aus der Phänomenologie entlehnte Konzepte ihr als methodische Ori-entierungshilfe dienen und insofern sie implizite Sympathien für einige phänomenologische Positionen hat und diesen folgt. Die Phänomenologie bietet der Epoché eine Möglichkeit ein Stück weit zu sich selbst zu kommen. Dennoch ist dies nicht mit einem Urteil darüber, was Phänomenologie sei oder nicht sei verbunden, sondern das Vorgehen der Untersuchung ist schlicht weder phänomenologie-geschichtlich noch hinsichtlich der implizierten Annahmen vollkommen neu.

Die vorliegende Untersuchung teilt sich neben der Anlehnung an Stein und Husserl fol-gende Annahmen mit Depraz et al., Sepp und Morley: Die Epoché ist nicht nur phänomenolo-gische Methode oder überhaupt eine Methode mit einem bestimmten Zweck. Sie ist wesentlich mehr als ein Werkzeug oder eine Technik und besitzt daher einen Sinn vor und außerhalb jeder

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Theorie. Sie ist eine Geste, eine radikale Lebensmodifikation und -form, welche die existenti-elle Situation des Menschen, sowohl seinen Ausgriff oder sein Engagement gegenüber der Welt als auch seine leibliche Position in ihrer Gänze, betrifft. Ebenso ist sie zwar nicht Teil einer Ethik oder Moral, aber dennoch ein Weg zu leben, sie entspricht einem gewissen Ethos, einer gewissen Haltung. Ihr Geschehen setzt gerade vor jeder Ethik oder Moral an. Um dieser Be-deutung gerecht zu werden, muss die Epoché jenseits der Phänomenologie, sogar jenseits von philosophischen Theorien und in einem interkulturellen Rahmen als Vollzug oder Geschehen, als Praxis untersucht werden. (vgl. Depraz et al. 2003: 25, 184ff., Depraz 2012: 229ff., Sepp 2003: 200, Sepp 2012a: 266, Sepp 2017: 36f. und Morely 2010: besonders 229f.) Die vorlie-gende Arbeit folgt diesen Annahmen, ohne allerdings einen Paradigmenwechsel der Phäno-menologie zu propagieren oder mit dem Ziel, die phänomenologische Forschungstradition hin-ter sich zu lassen (wie Depraz 2012). Dennoch verlangt eine Erforschung der Epoché sich weder in die phänomenologische noch eine andere theoretische Tradition zu verstricken, sondern zwar deren jeweiligen Standpunkt einzunehmen, sich aber im Durchlaufen gleichsam wieder davon zu lösen, um die Epoché selbst in den Blick zu rücken.

Im Zug einer Einordnung in den Forschungsstand der Phänomeologie ist ebenfalls zu be-tonen, wie viel schon für die vorliegende Untersuchung geleistet wurde. Hierbei ist nicht nur auf die erwähnten Forschungsarbeiten von Sepp und Depraz et al. zu verwiesen, sondern ebenso die Reflexionen Husserls selbst zu diesem Thema, die Forschungen seines Assistenten Fink, die Analysen Jan Patockas, den Aufsatz zu einer Phänomenologie der Epoché von Ströker, die Phänomenologie der Phänomenologie von Sebastian Luft sowie Arbeiten von vielen anderen Phänomenologinnen zu diesem Thema. Bezüglich dem, was Phänomenologie sein könnte, kann im Hinblick auf das eben Dargelegte festgehalten werden, dass sie immer ähnlich dem hier beschriebenen méthodos war; eine Methode zur Selbstvergewisserung des Denkens, eine Viel-zahl an historischen Versuchen, die letztlich an demselben Projekt arbeiteten und arbeiten.

Eben hierzu möchte die vorliegende Arbeit einen bescheidenen Beitrag leisten: Das Auf-decken der Tiefendimension der Epoché ermöglicht einerseits ein Verstehen der existentiellen Motivationslage und Situation, die der Epoché zugrunde liegen und damit andererseits eine Rückbindung des Theoretischen an die existentielle Erfahrung, um die Methode besser zu ver-stehen. Die Kennzeichnung der Epoché als interkulturelles Phänomen ermöglicht den Entwurf eines Tableaus, in dem Beispiele aus unterschiedlichen Zeiten und Kulturen in einen Dialog gebracht und im Anschluss daran integral zusammengeführt werden können. Die Untersuchung

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ist damit auch ein Angebot zur Lösung der Methodenfrage. Drüber hinaus leistet sie einen Bei-trag zur Gewinnung des Potentials der Epoché als lebensverändernde Kraft. Schlussendlich eb-net die Hervorhebung des Verhältnisses von Epoché und Alterität zudem den Weg in eine ent-haltende Haltung dem Anderen gegenüber.

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