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1. Einleitung

Das Konzept des Forschenden Lernens trat im Zuge der Einführung von Pra-xissemestern geradezu einen Siegeszug an, insofern in nahezu allen Varianten der Praxissemester, die in den verschiedenen Bundesländern in den Lehramts-studiengängen eingeführt wurden, Forschendes Lernen zum Leitprinzip erklärt und fest verankert wurde. Unter dem Begriff des Forschenden Lernens firmieren jedoch nicht nur zahlreiche konzeptionelle Zugänge mit vielfach divergenten Zielen (vgl. Katenbrink & Wischer, 2015), sondern der Begriff selbst ist sehr offen oder präziser: professionstheoretisch ungeklärt (vgl. z.B. Koch-Priewe & Thiele, 2009). Es ist zu vermuten, dass diese Diffusität oder z.T. gar Widersprüchlichkei-ten gerade nicht nachteilig für diesen Erfolg sind, sondern im Gegenteil genau diese Merkmale des Begriffs Forschenden Lernens zu seinem Erfolg geführt ha-ben. Denn zum einen erscheinen das generelle Konzept des Forschenden Lernens bzw. seine Versprechungen anschlussfähig an die verschiedenen Programmati-ken und Vorstellungen zur Lehrer/innenbildung. Zum anderen ist vermutlich für den Siegeszug mit Blick auf das Praxissemester vor allem das Versprechen einer produktiven Bearbeitung des Theorie-Praxis-Verhältnisses zentral (vgl.

dazu auch Hofer, 2013). So scheint Forschendes Lernen ein probater Weg zur Gewährleistung von Praxisnähe und Wissenschafts- bzw. Forschungsbasierung in der Lehrer/innenbildung zu sein. Zugespitzt ausgedrückt, wird gerade durch das Forschende Lernen sichergestellt, dass universitäre Praxissemester als solche erkennbar bleiben.

Die produktive Bearbeitung des Theorie-Praxis-Problems ist aber zunächst nur ein programmatisches Versprechen und bedarf der empirischen Überprü-fung. Entsprechend wird hier in einer ersten, explorativen Analyse die Frage aufgeworfen, welche Konkretisierungen der vagen Programmatik auf einer kon-zeptionellen Ebene zu finden sind. Dabei soll nicht diskutiert oder gar festgelegt werden, was oder wie Forschendes Lernen zu sein hat. Verfolgt wird vielmehr ein analytisch beschreibender Zugang über die Frage: Als was wird Forschendes Lernen in aktuellen Konzepten dargestellt?

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2. Vorgehen

Analysiert wurden dazu 23 Konzepte Forschenden Lernens aus der Erziehungs-wissenschaft und Fachdidaktik. Als Konzept verstehen wir konkrete Operatio-nalisierungen des Forschenden Lernens, die in schriftlicher Form veröffentlicht wurden. Diese umfassen die Darstellung der Ziele des eigenen Ansatzes und der konkreten Umsetzungen und Vorgehensweisen. Insofern auch Erfahrungsbe-richte oder auch Reflexionen des eigenen Konzeptes Teil der Beschreibungen waren, wurden diese ebenso analysiert. Diese Konzepte wurden einer rekons-truktiven Analyse unterzogen (vgl. Bohnsack 2017). Das heißt, gefragt wurde nicht nur, was in den Konzepten thematisch wird, sondern wie die jeweiligen Themen gesetzt, verfolgt und aufeinander bezogen wurden. Der Fokus lag dabei auf der jeweiligen Konstruktion des Theorie-Praxis-Verhältnisses und dessen Bearbeitung in den Konzepten. Konkret waren die forschungsleitenden Fragen, wie das Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Theorie und schulischer Praxis im Allgemeinen, zwischen der Forschung der Studierenden und der schulischen Praxis im Speziellen und zwischen wissenschaftlicher Theorie und universitärer Lehrpraxis bestimmt wird.

Festzuhalten ist, dass wir Konzepte untersucht haben und damit Aussagen über die programmatische Ebene Forschenden Lernens machen können. Wor-über wir keine unmittelbaren Aussagen treffen können, ist die Praxis Forschen-den Lernens. Durch Forschen-den rekonstruktiven Anspruch der Analyse wird es jedoch möglich, einen Blick auf den modus operandi der Konzepte zu werfen, den wir im Anschluss an rekonstruktive resp. praxeologische Methodologien als ein zen-trales strukturierendes Prinzip für die Praxis verstehen.

3. Ergebnisse

Zentral ist die Feststellung, dass sich in den konzeptionellen Bearbeitungen des Theorie-Praxis-Verhältnisses ein doppeltes Legitimationsproblem der Ansätze forschenden Lernens dokumentiert: Als universitäre Lehrerbildung müssen die Konzepte resp. die Verfasser/innen auf der einen Seite Anschluss an das Wissen-schaftssystem nehmen, da sie sonst nicht mehr legitim den Selbstanspruch einer akademischen (Aus-)Bildung vertreten könnten. Auf der anderen Seite müssen die an Lehrer/innenbildung beteiligten Disziplinen und insbesondere die Do-zierenden, die im Rahmen von Praxisphasen lehren, beraten usw., Anschluss an schulische Praxis herstellen. Unter dieser Perspektive finden sich vier Typen un-terschiedlicher Anschlussnahmen, die sich wiederum zu zwei Typfamilien bün-deln lassen, die sich – professionalisierungstheoretisch gesehen wenig

überra-Varianten Forschenden Lernens 197

schend – nach Einheit und Differenz unterscheiden (vgl. Kolbe & Combe, 2008;

Hedtke, 2000). Vereinfacht gesagt, wird bei der Typenfamilie Einheit letztlich die Einheit oder unmittelbare Vermittelbarkeit von Theorie und Praxis impli-ziert, während in der Typenfamilie der Differenz genau die grundlegende und unauflösliche Differenz von Theorie und Praxis konstitutiv ist.

3.1 Typfamilie Einheitskonzepte

Zur Typfamilie Einheit kann die Mehrzahl der Konzepte gezählt werden. Dabei ist besonders stark der Typ Affirmation vertreten. Einheitskonzepte sind davon gekennzeichnet, dass die Vermittelbarkeit bzw. die unmittelbare Anschlussnah-me von Theorie und Praxis zugrundegelegt und damit letztlich von einer Einheit von Theorie und Praxis ausgegangen wird. Wissenschaftliche Theorie ist gemäß dieser Vorstellung relativ bruchlos auf Praxis zu übertragen bzw. diese Theorie kann für das Handeln in Praxis leitend sein. Ein konstitutiver Unterschied in den Eigenlogiken von Wissenschaft und Praxis wird damit nicht gesetzt. Wis-senschaftlichem Wissen werden zugleich mit Blick auf die Praxis spezifische Zwecke zugeschrieben. So kann beispielsweise praktische Unsicherheit durch eindeutiges, sprich evidentes Wissen überwunden werden. Allgemeiner gefasst liefert theoretisches Wissen ein generalisiertes Regelwissen über die Praxis. Was wiederum impliziert, dass Wissenschaft vor allem eine modellhafte Abbildung schulischer Praxis leistet.

Das Forschende Lernen ist hier in der schulischen Praxis situiert. Gleichsam als ersten Schritt nehmen die Studierenden die Lehrer/innenrollen ein oder set-zen sich zumindest intensiv mit der Lehrer/innenperspektive auseinander. Nicht selten sollen die Studierenden in der Praxis theoretisch angeleitet handeln und dabei primäre oder eben authentische Erfahrungen in der schulischen Praxis sammeln. So wird bereits das Anwenden des wissenschaftlichen Wissens beim praktischen Handeln eingeübt. Beim Forschen soll ausgehend von den authen-tischen Erfahrungen ein praktisch relevantes oder auch echtes schulpraktisches Problem wissenschaftlich, empirisch untersucht werden.

3.1.1 Typ Technologie

Für den Typ Technologie lässt sich festhalten, dass im engen Anschluss an Pa-radigmen der empirischen Lehr-Lern-Forschung evidentes Wissen in der Praxis selbst generiert wird, das dort eindeutige Entscheidungen z.B. über das ,beste‘

didaktische Vorgehen bei einem bestimmten Thema oder konkrete Maßnahmen zur Verbesserung von Schüler/innenkompetenzen erlaubt. Diese häufig in

Fach-198 Nora Katenbrink & Daniel Goldmann

didaktiken vorzufindende Form Forschenden Lernens versteht als zentrale Auf-gabe universitärer Fachdidaktik die Produktion dieses evidenten Wissens. Das heißt, die Lehrenden selbst forschen gemäß diesem Paradigma und binden die Studierenden in ihre eigenen Forschungen ein. Erwartet wird nicht nur, dass die Alltagstheorien bzw. subjektiven Theorien der Studierenden über Lernen, Di-daktik und Unterricht durch (bessere) und vor allem empirisch fundierte Theo-rien ersetzt werden, sondern auch, dass durch Aneignung von Forschungskom-petenz eine dauerhafte, über das Studium hinausgehende RezeptionskomForschungskom-petenz von empirischen Ergebnissen angebahnt wird, damit die fachdidaktischen For-schungsergebnisse in der Praxis umgesetzt werden.

3.1.2 Typ Affirmation

Für den Typ Affirmation ist die Annahme einer Dignität der schulischen Praxis bzw. die Dignität der Erfahrung von schulischer Praxis zentral. Die Praxis selbst und die handelnde Erfahrung in der Praxis haben somit bereits einen Eigenwert.

Das heißt, forschendes Lernen ist unmittelbar in Praxis situiert. Forschung ist dabei Evaluation, bei der die modellhafte wissenschaftliche Abbildung mit der schulischen Praxis mit dem Ziel, eines der beiden gegebenenfalls zu verbessern, abgeglichen wird. Indem der Praxis bzw. Praxiserfahrung eine eigene Dignität zugeschrieben wird, wird diese als Wert gesetzt und Kritik bzw. der identifizierte Verbesserungsbedarf müssen minimal gehalten werden. Die Praxis hat Vorrang vor einer Theorie, die wiederum ausschließlich der Bewertung der Praxis dient.

Gemäß dieses Vorrangs der Praxis ist die Kopplung an Wissenschaft relativ lose, indem die Festlegung auf Methoden oder gar Theorien und Methodologie un-terbleibt und auch das Bewertungsmaß flexibel gehalten wird. Diese Variabilität ermöglicht Anpassung der eigenen wissenschaftlichen Normen und Modelle an die jeweilige Praxis, um darüber die grundlegende Bestätigung der Praxis nicht zu gefährden. Die Nähe zur Praxis ermöglicht – so könnte man sagen – ‚passge-naue‘ Kritik/Verbesserungsvorschläge.

3.2 Typfamilie Differenzkonzepte

Der Typfamilie der Differenzkonzepte wurden wesentlich weniger Konzeptdar-stellungen Forschenden Lernens zugeordnet: der Typ Kritik nur zwei Mal, der Typ Verstehen lediglich drei Mal. Bei letzterem ist zudem festzuhalten, dass es sich hier ausschließlich um fachdidaktische Fälle handelt1. Die beiden Typen 1 Wir rechnen kasuistisch-rekonstruktive Varianten der Lehrer/innenbildung dem Typ Verstehen zu, die jedoch – zumindest in den älteren Veröffentlichungen – nicht

Varianten Forschenden Lernens 199

dieser Familie zeichnen sich durch die Annahme einer prinzipiellen Differenz zwischen Wissenschaft und schulischer Praxis aus. Dies dokumentiert sich u.a.

darin, dass als zentrale Abgrenzungsfolie wiederholt Alltagstheorien und Com-mon-Sense-Vorstellungen über das Funktionieren von Schule und Unterricht herangezogen werden. Im Besonderen eindeutige Ursache-Wirkungs-Prinzipien bzw. Technologievorstellungen werden als häufige Vorstellungen von Studieren-den aber auch in der schulischen Praxis als unterkomplex problematisiert und als Anspruch an Wissenschaft zurückgewiesen.

Folglich sollen beim Forschenden Lernen nicht Forschungstechniken erlernt werden, die relativ schnell und gut vermittelbar sind, sondern erwartet wird das Einnehmen einer kategorial anderen Perspektive, die sich von der alltäglichen und dem in der schulischen Praxis vorhandenen Modus grundlegend unter-scheidet. Dies zeigt sich z.B. darin, dass nicht wie in Konzepten der Typfamilie der Einheitskonzepte das Einnehmen der Lehrer/innenrolle als zentrale Anfor-derung formuliert wird. Daher wird im Kontrast zu der Typfamilie der Einheits-konzepte die Identifikation mit der Rolle der Lehrkräfte und daraus erwach-sende unmittelbare Verwertungsinteressen für die eigene spätere Berufspraxis grundlegend problematisiert.

3.2.1 Typ Kritik

Der zentrale Unterschied zwischen dem Typ der Kritik und dem Typ Verste-hen liegt in der Frage, welche Primärfunktion Wissenschaft und damit dem Forschenden Lernen zugewiesen wird. Wie die Typbezeichnung dokumentiert, versteht dieser Typ Reflexivität als Ermöglichung von Kritik an der bestehenden schulischen Praxis, an den Studierenden wie auch an der eigenen Lehrpraxis.

Diese zielt auf das Lernen der Studierenden bzw. die Reform der Praxis. Anders als beim Typ Affirmation erfolgt Veränderung bzw. Verbesserung nicht auf Basis einer weitgehenden Bestätigung der studentischen bzw. schulischen Praxis, son-dern es erfolgt eine Grundsatzkritik, die grundlegende Strukturen und Vorstel-lungen infrage stellt (z.B. Zurückdrängen von Frontalunterricht).

In der Lehrpraxis erfolgt dies in den Projekten Forschenden Lernens zwei-phasig: In der ersten Phase gehen die Studierenden in die schulische bzw. unter-richtliche Praxis und vollziehen diese. Nach dieser Einlassung auf die Praxis und dem Vollzug einer eigenen Handlungspraxis setzt die wissenschaftliche Reflexi-on ein, indem die Anforderung gestellt ist, die eigene Praxis sowie die Praxis der

unter dem Label Forschendes Lernen firmieren. Dies kann das Fehlen von erzie-hungswissenschaftlichen Fällen in unserem Datenkorpus erklären und relativiert die gefundenen quantitativen Verhältnisse.

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Lehrkräfte in der Schule kritisch in den Blick zu nehmen, indem schulische und eigene Vorannahmen und Perspektiven als unterkomplex erkannt werden. Diese (Selbst-)Kritik wird auch von den Lehrenden vollzogen. In beiden Fällen formu-lierten die Autoren der Konzepte in den Konzeptdarstellungen selbst Kritik, die den eigenen Ansatz in grundlegenden Annahmen kritisch hinterfragt.

Der Typ Kritik operiert dabei über ein weitgehendes Verstehen der jeweiligen Praxis und schließt damit an zahlreiche erziehungswissenschaftliche Wissensbe-stände an. Jedoch wird diese verstehende Perspektive zugunsten der Möglichkeit der Kritik eingeschränkt.

3.2.2 Typ Verstehen

Beim Typ Verstehen erfolgt an keiner Stelle eine Kritik an der schulischen oder unterrichtlichen Praxis. So dient der Verweis auf Alltags- oder Common-Sense-Theorien in den Konzeptdarstellungen lediglich der Darstellung sowohl der eigenen Theorie als auch der Normalitätsvorstellung der Studierenden, und da-mit der kategorialen Differenz zwischen der studentischen Erwartungshaltung und den universitären Lernerwartungen. Im Vergleich zum Typ Kritik, der das Verhältnis von Wissenschaft zu Praxis über die Kritik an der Praxis relationiert, erfolgt beim verstehenden Zugang die Kommentierung der Praxis über einen weiteren Schritt. Nach dem Verstehen der Praxis über Forschung vollzieht sich eine explizit normative Wendung – zumindest in den analysierten Fällen aus der Didaktik: Das Verstehen problematisiert die Praxis in einer bestimmten Dimen-sion und zeigt anschließend Alternativen aus der Didaktik auf, die einen ande-ren Umgang mit der Situation beschreiben. Zentral ist dabei, dass dieser andere Umgang im Modus der möglichen Alternativen präsentiert wird. Formuliert werden nicht richtige und zu ziehende Konsequenzen, sondern Möglichkeiten, für die es plausible Begründungen gibt. Diese werden sprachlich nicht als besser, sondern nur als anders dargestellt.