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Die Einübung des bösen Blicks 1 50

Im Dokument Schwierigkeiten ästhetischer Bildung (Seite 39-43)

Am Ende seines Rundfunkbeitrags “Erziehung nach Auschwitz”, dessen Titel mittler-weile zur Formel geronnen ist, kommt Adorno auf eine Frage seines Freundes Walter Benjamin zu sprechen: “Walter Benjamin fragte mich einmal in Paris während der Emigration, als ich noch sporadisch nach Deutschland zurückkehrte, ob es denn dort noch genug Folterknechte gäbe, die das von den Nazis Befohlene ausführten. Es gab sie. Trotzdem hat die Frage ihr tiefes Recht. Benjamin spürte, daß die Menschen die es tun, im Gegensatz zu den Schreibtischtätern und Ideologen, im Widerspruch zu ihren eigenen unmittelbaren Interessen handeln, Mörder an sich selbst, indem sie die anderen ermorden.” (EzM, 104) Der Skandal, den Benjamin verspürt, daß Men-schen wider ihr eigenes rationales Interesse handeln, könnte ein Motiv sein, sich ü-ber die Gesellschaft Gedanken zu machen. “Die Erfahrung vom widerspruchsvollen Charakter der gesellschaftlichen Realität ist kein beliebiger Ausgangspunkt, sondern das Motiv, das die Möglichkeit von Soziologie überhaupt erst konstituiert. Nur dem, der Gesellschaft als eine andere denken kann denn die existierende, wird sie, nach Poppers Sprache, zum Problem; nur durch das, was sie nicht ist, wird sie sich enthül-len als das, was sie ist, und darauf käme es doch wohl in einer Soziologie an, die nicht, wie freilich die Mehrzahl ihrer Projekte, bei Zwecken öffentlicher und privater Verwaltung sich bescheidet.” (Soz I, 564) Denn daß Menschen, unter welchen Be-dingungen auch immer, gegen ihre eigenen Interessen verstoßen, stößt gesellschaft-liches Denken so an, daß man beginnt, den Referenzrahmen zu suchen, in dem Menschen ihre rationalen Interessen verfehlen. Wie kann man in diesem Referenz-rahmen jedoch das spezifische Gesellschaftliche in den Blick bekommen, wenn Ge-sellschaft sich weder begrifflich definieren noch beispielhaft zeigen läßt?51 Da kein Phänomen von alleine ausdrückt, das es auf Gesellschaftliches referiert, “während doch die sozialen Phänomene unabweislich ihren Begriff fordern, ist dessen Organ die Theorie”. (Soz I, 11)

50 Die Überschrift ist entnommen dem Text “Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute”, in dem Adorno schreibt: “Die Seminare hätten bezeichnet werden können als Übung zur Entwicklung jenes bösen Blicks, ohne den kaum ein zureichendes Bewußtsein von der contrainte sociale zu gewinnen ist.” (Soz I, 177)

51 Vgl. Soz I, 11

Obwohl die Frage Benjamins nicht sehr theoretisch klingt, sondern in den Ohren der Nachgeborenen womöglich schrecklich naiv klingen mag, gesteht Adorno ihr ein ‘tie-fes Recht’ zu. Ihr tie‘tie-fes Recht liegt eben darin, daß die Frage die ubiquitäre Fungibili-tät der Individuen bezweifelt, daß Menschen also nicht gesellschaftlich beliebig zu

‘Folterknechten’ verwandelt werden können. So gestellt ist die Frage gewiß vorwis-senschaftlich, aber: “Wissenschaft, die vorwissenschaftliche Impulse nicht verwan-delnd in sich aufnimmt, verurteilt sich nicht weniger zur Gleichgültigkeit als eine ama-teurhafte Unverbindlichkeit. Im verrufenen Bereich des Vorwissenschaftlichen ver-sammeln sich die Interessen, welche der Prozeß der Verwissenschaftlichung cou-piert, und es sind nicht die unwesentlichen. So gewiß ohne wissenschaftliche Diszip-lin kein Fortschritt des Bewußtseins, so gewiß paralysiert die DiszipDiszip-lin gleichzeitig die Organe der Erkenntnis.” (Soz I, 300)

Was nämlich auf die ‘Organe der Erkenntnis’ so lähmend wirkt, ist, daß sobald wir versuchen, soziologisch Ordnung in die mannigfaltigen gesellschaftlichen Phänome-ne zu bringen, also Gesellschaft als funktioPhänome-nelles System betrachten, wir vergessen müssen, daß es ja die Unordnung war, die uns nötigte, gesellschaftlich zu denken.

Gleichzeitig prallt jedoch der vorwissenschaftliche Impuls, also Benjamins Frage, ob und warum es noch Folterknechte gebe, an der Glätte des sozialen Funktionszu-sammenhangs deswegen ab, weil in ihm nur noch das gedacht werden kann, was in ihm aufklärungswürdig dünkt. Der Impuls bleibt so am Individuum kleben. “Das All-gemeine ist so sehr der Fall, daß es nichts durchläßt, was nicht der Fall wäre. Je kompletter die objektive Totalität, desto höriger sieht das erkennende Bewußtsein auf ihre subjektive Reflexionsform sich beschränkt, /.../. Der Zusammenhang, überwälti-gend geworden, wird unsichtbar.” (Soz I, 238)

Der überwältigend gewordene Zusammenhang zieht die Erkenntnis in seinen Bann.

Wir können uns dieses Problem vielleicht an einer Diskussion deutlich machen, die -vermeintlich harmlos52 - zeitlich wie örtlich weit ab liegt. 1552 veröffentlicht der Bi-schof von Chiapas in Mexiko, Bartolomé de Las Casas, seinen für Karl V.

52 “Es gibt nichts Harmloses mehr.”, schreibt Adorno in den Minima Moralia (MM, 21). Das ver-gangene und exotische Ereignis aus der Frühzeit wissenschaftlicher Untersuchung wirft aber ein Licht auf die nahe Gegenwart, in der sich Wissenschaft auch heute noch genötigt sieht, gegen die Leugnung der Realität diese buchhalterisch aufzurechnen. (Vgl. Wolfgang Benz (Hg.): Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus.

München 1994

ten ‘Kurzgefassten Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder’. (Las Ca-sas 1981) Im Medium aufklärender Wissenschaft versucht Las CaCa-sas darin, gegen die Ausrottung der karibischen, mittel- und südamerikanischen Indianer zu protestie-ren, eine wahrhaftige Darstellung der kolonialen Praxis zu geben und ihre Zusam-menhänge offenzulegen. Die Disputation von Valladolid, die sich an die Veröffentli-chung des Berichts anschloß, ist ein Muster dafür, wie der soziale Zusammenhang Erkenntnis bannt. Der Streit entbrannte daran, ob Las Casas’ Zahlenmaterial stimmt.

Ob es also richtig sei, daß die Zahl von 15 Millionen ausgerotteten Indianern bis zur Niederschrift seines präzisen und nüchternen Berichts stimmt, oder ob es sich nicht eher um acht oder fünf oder eventuell nur drei oder auch um 20 oder 25 Millionen handelte. “Die Arithmetik an dieser Stelle zeigt, wovon abgelenkt wird: davon daß der Mann Las Casas ja nicht als Statistiker geschrieben hat; daß er eine nicht nur wis-senschaftlich ernst zu nehmende Quelle über jene Vorgänge darstellt; daß er sie nicht darstellt als Selbstzweck, sondern solidarisch /.../ mit den Ausgerotteten und nicht, um es einmal überspitzt auszudrücken, solidarisch mit den Zahlen, mit der A-rithmetik.” (Heinrich 1993, 53)

Das Zählen lenkt zwar ab von der Tatsache, daß eine Unzahl von Menschen ausge-rottet wurde53, stiftet zugleich aber eine Ordnung der Zahlen.54 In ihrem neut-ral(isiert)em Licht erscheint der Umstand selbst fast schon als notwendige Funktion von kolonialer Gewalt. Mit der theoretischen Einsicht in die Notwendigkeit, daß nun mal koloniale Praxis mit Gewaltmitteln einhergehe, kann ein darüber empörtes Ge-müt durchaus befriedet werden. Denn zugleich ist eine solche Aussage durchaus

53 Das heißt nicht, daß Zählen unnütz ist, sondern nur daß es beitragen kann zur Verdrängung des Sachverhalts. Um dem Zählen daher auch Genüge zu tun: allein in Mexiko sind im Zuge der Conquista 19 Millionen Menschen zu Tode gekommen - nicht nur durch unmittelbare Ge-walt, sondern auch durch mittelbare wie eingeschleppte Seuchen und Infektionskrankheiten.

(Nach H.M. Enzensberger, in Las Casas 1981, 131)

54 Adorno schreibt dazu in “Zur Metakritik der Erkenntnistheorie”: “In den Zahlen spiegelt sich der Gegensatz des ordnenden und festhaltenden Geistes zu dem, was er sich gegenüber fin-det. Erst reduziert er es, um es sich gleich zu machen, zum Unbestimmten, das er dann be-stimmt als das Viele. Noch zwar nennt er es nicht mit ihm identisch oder auf ihn zurückführ-bar. Aber es wird ihm bereits ähnlich. Es büßt als Menge von Einheiten seine besonderen Qualitäten ein, bis es sich als abstrakte Wiederholung des abstrakten Zentrums enthüllt. Die Schwierigkeit, den Zahlenbegriff zu definieren, stammt daher, daß sein eigenes Wesen der Mechanismus der Begriffsbildung ist, mit dessen Hilfe er zu definieren wäre. Der Begriff selbst ist Subsumtion und enthält damit ein Zahlenverhältnis. Die Zahlen sind Veranstaltungen, das Nichtidentische unter dem Namen des Vielen dem Subjekt kommensurabel zu machen, dem Vorbild von Einheit. Sie bringen das Mannigfaltige der Erfahrung auf seine Abstraktion.” (ME, 17f)

gerechtfertigt; durch die Komplexitätsreduktion, die im Abzählmodus ja auch liegt, ist es möglich, immerhin zu dieser Einsicht in den Funktionszusammenhang zu kom-men. Sie kommt einem als Sozialwissenschaftler auch meist recht gut zu pass, da man mit (einigermaßen) guten Gewissen den Blick von den Erschlagenen ab- und der Funktion von Gewalt im Kolonialisierungsprozeß zuwenden kann. Der abgewen-dete Blick, der durchaus sein Recht auch hat, kann einem zum Problem werden oder auch nicht.

Im Dokument Schwierigkeiten ästhetischer Bildung (Seite 39-43)