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Einübung des bösen Blicks 2

Im Dokument Schwierigkeiten ästhetischer Bildung (Seite 51-66)

Exkurs: Die Wissenschaft von der Gesellschaft

II.2 Einübung des bösen Blicks 2

Entmündigung wie Entmächtigung des Subjekts sind nun aber keineswegs nur ein Problem soziologischer Konstitution des Sozialen, sondern tritt ebenso mit lebens-praktischen Wirkungen auf. Wenn ein Individuum zum ‘Folterknecht’ wird, kann man wohl auf zweierlei Weise sich dazu verhalten: entweder Verständnis entwickeln oder Zorn. Während Verständnis die Notwendigkeit der psychischen Struktur jenes Indivi-duums versucht, einsichtig zu machen und damit auch die (relative) Notwendigkeit seiner Tat, bürdet der Zorn diesem einen konkreten Individuum die volle Verantwort-lichkeit für sein Tun auf, ohne Rücksicht auf die Not des Individuums, die es wider die eigenen Interessen handeln läßt. Im vollen Verständnis für die Tat wird letzten Endes das ‘souveräne Subjekt’ in seiner Entscheidungsfähigkeit dadurch rigoros be-schränkt, daß externe Faktoren an seinem Handeln schuld sind.67 Was dann auch heißt, daß sich im Verständnis der Zorn auf das einzelne Individuum sublimiert hat.68

In der Lebenspraxis kann freilich der andere nicht so neutralisiert werden, wie etwa im psychoanalytischen setting, sondern jener andere greift in die eigene Lebenspra-xis ein. Dabei ist es oft unerträglich schwer, den Schein der Notwendigkeit zu erken-nen. Denken, das dabei den Zorn sublimiert, heißt dann stets fast schon zu verzei-hen. Auch Adorno hat seinen Zorn sublimiert.69 Gleichwohl hat er den vorwissen-schaftlichen Impuls, ohne den Denken nicht wäre (s.o.), in seine Theoriearbeit auf-gehoben:

“Weil noch die fernsten Objektivierungen des Denkens sich nähren von den Trieben, zerstört es in diesen die Bedingung seiner selbst. Ist nicht das Gedächtnis

67 Das ist einerseits sehr human, denn das Individuum ist aufgrund externer Schuldzuschreibung nicht per se ‘böse’, es ist von der Zumutung befreit, die Schuld bei sich zu suchen, anderer-seits ist das auch sehr teuflisch, denn das Individuum bleibt dabei auf der Strecke, es wird a-nonyme Variable im sozialen Kräftefeld.

68 Auch hier hilft womöglich ein Blick auf die Fragestellungen der Psychoanalyse. Dort stehen die Ich-Funktionen, also die Verantwortung des Individuums für sein Tun ebenso im Zentrum wie ihre Störung durch neurotische Anteile, also notwendig falsche Ich-Funktionen. Das volle Verständnis für die Notwendigkeit einer Neurose läßt den Anspruch auf ‘Heilung’ obsolet wer-den, denn die Neurose wendet eine Not, die sich anders nicht wenden ließe. Es muß also an der Neurose auch eine Dimension des nicht oder nicht mehr Notwendigen sein, an die das psychoanalytische Arbeitsbündnis anknüpfen kann, um den Heilungsprozeß zu initialisieren.

69 “Wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend: Denken hat die Wut sublimiert.” (KSG, 150)

trennbar von der Liebe, die bewahren will, was doch vergeht? Ist nicht jede Regung der Phantasie aus dem Wunsch gezeugt, der übers Daseiende in Treue hinausgeht, indem er seine Elemente versetzt? Ja ist nicht die einfachste Wahrnehmung an der Angst vorm Wahrgenommenen gebildet oder der Begierde danach? Wohl hat der objektive Sinn der Erkenntnis mit der Objektivierung der Welt vom Triebgrund immer weiter sich gelöst; wohl versagt Erkenntnis, wo ihre vergegenständlichende Leistung im Bann der Wünsche bleibt. Sind aber die Triebe nicht im Gedanken, der solchem Bann sich entwindet, zugleich aufgehoben, so kommt es zur Erkenntnis überhaupt nicht mehr, und der Gedanke, der den Wunsch, seinen Vater, tötet, wird von der Ra-che der Dummheit ereilt. Gedächtnis wird als unbereRa-chenbar, unzuverlässig, irratio-nal tabuiert. Die daraus folgende intellektuelle Kurzatmigkeit, die im Ausfall der histo-rischen Dimension des Bewußtseins sich vollendet, setzt unmittelbar die syntheti-sche Apperzeption herab, die Kant zufolge von der »Reproduktion in der Einbil-dung«, dem Erinnern, nicht zu trennen ist.” (MM, 158f)

Was es aber von der ‘Dialektik der Aufklärung’ bis zur ‘Negativen Dialektik’, von den soziologischen bis zu den kulturtheoretischen Schriften und der ‘Ästhetischen Theo-rie’ in der Theoriebildung Adornos zu erinnern gilt, ist die Zivilisationskatastrophe, die wie unzulänglich auch immer mit dem Ortsnamen Auschwitz benannt ist. Detlev Claussen formuliert daher treffend: “»Ich denke an Auschwitz« muß alle meine Vor-stellungen begleiten können.” (Claussen 1988, 57)70 Der Impuls, der die Frage “Wie ist Auschwitz möglich?” antreibt, ist für Adorno der Angelpunkt eines gegenwärtig kritischen Denkens. Dieser insistierende Impuls bleibt transparent bis in die innerste Fiber all seiner Schriften. Ihm geht er deswegen auch im Modus qualitativer Sozial-forschung nach.71

Der Impuls ist etwa in dem Kapitel “Schuld und Abwehr” des Gruppenexperiments, das von Adorno verfaßt wurde, aufgehoben mit dem gleichsam handgreiflichen Ges-tus, jemand am Kragen zu packen und zu fragen “Warum hast du mitgemacht?”.

70 Die ‘Minima Moralia’, der ich den zitierten Passus ‘Intellectus sacrificium intellectus’ entneh-me, ist ebenso wie die ‘Dialektik der Aufklärung’ zeitnah zu diesem Zivilisationsbruch entstan-den. Hellsichtigkeit wie überbordende Kritik beider Bücher sind diesem Choc geschuldet. Det-lev Claussen war der erste und lange Zeit der einzige, der auf die Bedeutung von Auschwitz im Denken Adornos hingewiesen hat. Vgl. auch Tiedemann 1997.

71 Vgl. etwa die Begründung für qualitative Sozialforschung in der Einleitung zum Gruppenexpe-riment. (Pollock 1955, 3ff)

Während Adorno darin theoretische Askese übt, die individuellen Daten sprechen läßt und wenig deutet72, hat sein Denken in den ‘Studien zum autoritären Charakter’

(SaC) den Zorn sublimiert. In seinen Ausdeutungen des autoritären Charakters ist der Impuls nicht aufgehoben, sondern theoretisch in eine soziale Charakterologie sublimiert, deren typologischen Kategorisierungen funktional erstarren. Damit erhal-ten sie aber auch die Tendenz, den befragerhal-ten Anderen zu entmündigen. Dieser Im-puls, nur zu berechtigt durch die Angst vor oder den Haß auf autoritäre Charaktere, schlägt sich undurchschaut in der Typologie nieder.73 Der Zorn, der sich gleichsam in die gedachte Form der Typologie sublimierte, steckt unterschwellig inmitten der Form, weil er sich nicht vollends sublimieren läßt. Das kann dann so aussehen:

“Es gibt auch den irreligiösen Typus des Faschisten, der, von der Religion desillusio-niert, ganz zum Zyniker geworden ist und von Naturgesetzen, natürlicher Zuchtwahl und dem recht des Stärkeren redet. Aus den Reihen dieser Personen rekrutieren sich die echten Anhänger des Neu-Heidentums des radikalen Faschismus. Ein gutes Beispiel ist 5064, der Pfadfinderführer mit hohen Punktwerten, /.../. Nach seinem Glauben gefragt, bekennt er sich zur “Naturverehrung”, begeistert sich - wahrschein-lich aufgrund latenter Homosexualität - für Sport und Lagerleben. Er ist ein gutes Beispiel für das Syndrom, in dem heidnischer Pantheismus, “Machtglaube”, das kol-lektivistische Führerideal und eine allgemeine ethnozentrische und pseudokonserva-tive Ideologie sich verbinden.” (SaC, 287)

5064 ist nur noch ein ‘gutes Beispiel’, das Individuum wird quantifizierbaren Katego-rien subsumiert. Das Individuum wird zum Fall. Der induktive Schluß von ‘Sport und Lagerleben’ auf ‘latente Homosexualität’ beendet das lebendige Gespräch mit dem anderen Individuum. Es kann unterm Kategorienraster die Gründe für seine Vorlie-ben nicht mehr mitteilen. Der Soziologe Adorno hat so zwar seinen Zorn auf den

72 “Was unsere qualitative Analyse zu Tage fördern kann, sind Sinnzusammenhänge, ideologi-sche Syndrome.” (Pollock 1955, 283)

73 Soziologische und psychoanalytische Erkenntnis sind in den ‘Studien’ nur miteinander kombi-niert, aber noch nicht vermittelt. Das ist ein Problem der Arbeitsteilung am Institut für Sozial-forschung, das durch den Weggang Erich Fromms zum Zeitpunkt der ‘Studien’ ohne einen Experten für Sozialpsychologie auskommen mußte. Dadurch wird aber die analytische Sozial-psychologie Frommscher Provenienz auch noch in den ‘Studien’ beibehalten. Ein überbor-dender Soziologismus, der die Individuen entmündigt. Die Kritik Helmut Dahmers an Erich Fromm mag hier auch Adorno treffen: “Fromm subsumiert die Individuen (unbeschadet ihrer individuell-zufälligen Charaktereigenschaften) total dem Sozialcharakter.” (Dahmer 1982, 479)

deren sublimiert, aber nicht den Zorn überhaupt. Der Zorn verschafft sich sein Recht, indem durch die psychischen Kategorien hindurch das konkrete andere Individuum nivelliert wird. Der Impuls, der zur Soziologie nötigte, verpufft in abstrakter Schuldzu-schreibung, die durch die soziale Charakterologie vom Akteur abstrahiert und ihn so entmündigt. Auch wenn einem die Deutung Adornos eventuell sympathisch sein mag, überzeugt auch seine Verteidigung dieser Vorgehensweise nicht ganz: “Indivi-dualismus, der sich dem unmenschlichen Klassifizieren entgegenstellt, kann schließ-lich zum bloßen ideologischen Schleier in einer Gesellschaft werden, die tatsächschließ-lich unmenschlich ist, und die ihren inneren Zwang zum »Subsumieren« offenbart, in-dem sie die Menschen selbst klassifiziert. In anderen Worten, die Kritik der Typologie darf nicht übersehen, daß die große Zahl von Menschen nicht mehr »Individuen« im Sinne der traditionellen Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts sind oder es so-gar niemals waren.” (SaC, 107)

Traditionelle Philosophie konnte es sich tatsächlich leichter bei der Schuldzuschrei-bung machen: “Wie aber die Handlungen nach ihrem äußerlichen Dasein Zufälligkei-ten der Folgen in sich schließen, so enthält auch das subjektive Dasein die Unbe-stimmtheit, die sich auf die Macht und Stärke des Selbstbewußtseins und der Be-sonnenheit bezieht,”, schreibt Hegel in den ‘Grundlinien der Philosophie des Rechts’

und fährt fort, “- eine Unbestimmtheit, die jedoch nur in Ansehung des Blödsinns, der Verrücktheit, u. dgl. wie des Kindesalters in Rücksicht kommen kann, weil nur solche entschiedenen Zustände den Charakter des Denkens und der Willensfreiheit aufhe-ben und es zulassen, den Handelnden nicht nach der Ehre, ein Denkendes und ein Wille zu sein, zu nehmen.” (Hegel 1986, 226) Während Hegel also auf der bestimm-ten Zurechnung von Handlungen zu Individuen beharrt, somit das handelnde Indivi-duum nicht entmündigt, sondern nach der ‘Ehre’ nimmt, ‘ein Denkendes und ein Wille zu sein’, sieht Adorno die gesellschaftliche Tendenz eines Verschwindens des Indivi-duums hier fast schon als abgeschlossenes und determiniertes sozialhistorisches Resultat an. Wer freilich in psychoanalytischen Bahnen zu denken lernte, wird sich den Ausnahmen nicht verschließen können, die für eine Unbestimmtheit des subjek-tiven Daseins bei Hegel in Rücksicht kommen: Blödheit, Verrücktheit und Kindesal-ter. Denn die gesellschaftlichen Tendenzen begünstigen ja tatsächlich die Auflösung des in sich selbst widersprüchlichen Individuums. Momente der Regression, des Wahnsinns und der Verdummung sind durchaus als sozial produzierte

interpretier-bar.74 Ob Selbstverschulden oder Fremdverschulden, diese Fragestellung transfor-miert sich dann in die Frage nach dem Verhältnis, wie sehr Verblödung, Wahn und Regression gesellschaftlich bedingt auf das Individuum übergegriffen haben. Allein dieser Fragestellung wegen bleibt Psychoanalyse, die versucht, mit leibhaften Indivi-duen so ins Gespräch zu kommen, daß diese ihr Unteilbares mitteilen können, rele-vant für eine Wissenschaft von der Gesellschaft. Während die Psychoanalyse aller-dings das Soziale als Abhub archaischer psychischer Phänomene zu sehen geneigt ist, versucht Adorno Soziales und Individuum zu vermitteln.

“Freud hatte recht, wo er unrecht hatte. Die Gewalt seiner Theorie zehrt von seiner Verblendung gegenüber der Trennung von Soziologie und Psychologie, die aller-dings das Resultat jener gesellschaftlichen Prozesse ist, die manche Revisionisten, in der Sprache der deutschen philosophischen Tradition, die Selbstentfremdung des Menschen nennen. Haben diese sich gerade durch kritische Einsicht in die destrukti-ven Seiten der Trennung dazu verführen lassen, so zu tun, als ob durch Psychothe-rapie der Antagonismus zwischen privatem und gesellschaftlichem Sein des Indivi-duums zu heilen sei, so hat Freud eben durch seine psychologische Atomistik einer Realität, in der die Menschen tatsächlich atomisiert und durch eine unüberbrückbare Kluft voneinander getrennt sind, adäquat Ausdruck verliehen. Das ist die sachliche Rechtfertigung seiner Methode, in die archaischen Tiefen des Individuums einzudrin-gen und es als ein Absolutes zu nehmen, das nur durch Leiden, Lebensnot an die Totalität gebunden ist.” (Soz I, 33)

Gerade weil Freud ‘bloß’ Psychologie betreibt, gelingen ihm soziologische Einsich-ten, die jenen versagt bleiben, die allein auf die soziologische Karte setzen. Das So-ziale hätte so seinen Ursprung im Zwang der Natur, deren Totalität darin besteht, Leid zuzufügen und das Leben zur Not zu machen, was wiederum im Sozialen sei-nen adäquaten Ausdruck findet. Auf die konsequente Spitze getrieben, heißt das für Adorno: “Sogar die Veranstaltungen, welche die Gesellschaft trifft, um sich auszurot-ten, sind, als losgelassene, widersinnige Selbsterhaltung, zugleich ihrer selbst unbe-wußte Aktionen gegen das Leiden.” (ND, 203)

74 Vgl. Mario Erdheim: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. Frankfurt 1982

Diese ‘unbewußten Aktionen gegen das Leiden’ aufzuklären und bewußt zu machen, ist gemäß psychoanalytischer Lehre Aufgabe des ‘Ichs’, das das Leiden und die Le-bensnot wenden soll. Vor Freud mußte es mühselig sublimieren, nach ihm kann es die Notwendigkeit der Sublimation einsehen lernen. Indem aber dem ‘Ich’ die Funkti-on aufgebürdet wird, Leid und Not zu wenden, rutscht es gleichsam aus der Dimen-sion des Sozialen heraus. Dem vermag Adorno nicht zu folgen:

“Der Inbegriff der selbsterhaltenden Rationalität der je einzelnen ist zur Irrationalität verdammt, weil die Bildung eines vernünftigen gesellschaftlichen Gesamtsubjekts, der Menschheit, mißlang. Daran laboriert umgekehrt auch wieder jeder einzelne. Das Freudsche Gesetz: »Wo Es war, soll Ich werden«, behält etwas stoisch Leeres, Un-evidentes. /.../ Noch die gelungene Kur trägt das Stigma des Beschädigten, der ver-geblichen und sich pathisch übertreibenden Anpassung. Der Triumph des Ichs ist einer der Verblendung durchs Partikulare. /.../ Indem der Geheilte dem irren Ganzen sich anähnelt, wird er erst recht krank, ohne daß doch der, dem die Heilung mißlingt, daran gesünder wäre.” (Soz I, 56f)

Denn das individuelle Ich bleibt in seinem Leid für sich allein, da das Soziale seine Entstehung im Wechsel von Rebellion und Konformität gegen die Not des zwangs abschneidet und das ‘Ich’, das die Not wenden sollte, um so mehr im Natur-zwang festnagelt. Die Not des Sozialen wiederholt sich so einsichtslos im Indivi-duum. Die Art und Weise aber der Wiederholung vollzieht sich in der Dimension der Geschichte, inmitten der das ‘Ich’ als Leidensprodukt selbst steht.

“Das Ich, als entsprungenes, ist ein Stück Trieb und zugleich ein anderes. Das kann die psychoanalytische Logik nicht denken und muß alles auf den Nenner dessen bringen, was das Ich einmal war. Indem sie die Differenzierung, die Ich heißt, revo-ziert, wird sie selber, was sie am letzten wollte: ein Stück Regression. Denn das We-sen ist nicht das abstrakt Wiederholte, sondern das Allgemeine als Unterschiede-nes.” (Soz I, 84)

Zur Lebensnot, also zur Realität, kann sich das individuelle Ich nach Freud nur posi-tiv anerkennend verhalten, da sie prinzipiell vorausgesetzt wird. Daß es sich jedoch überhaupt zur Realität verhalten kann, also seine Triebe und Bedürfnisse so an ihr

modellieren kann, daß es relative Autonomie gewinnt, ist für Freud der Beginn des Humanen. (s.u.) Seitdem wiederholt sich abstrakt diese Urgeschichte der Individuati-on in jedem Kind. Für Adorno soll das Ich aber ‘zugleich ein anderes sein’, ein ‘Ich’, das nicht nur Realitätstauglichkeit anstrebt, sondern Einsicht gewinnt in den Preis solcher Humanisierung, den die Formung der Triebe und Bedürfnisse nach Maßgabe einer prinzipiellen Realität mit sich bringt. Das ‘abstrakt Wiederholte’, das seine Ge-nese in der Urgeschichte konkreter Notwendigkeit verdanken mag und unabdingbar die Realisierung einer vorliegenden Realität forderte, trifft heute auf eine veränderte Realität. Um etwa der Gefahr zu entgehen, nicht vom Vater erschlagen zu werden, war es womöglich notwendig, das ‘Gesetz des Vaters’ anzuerkennen. In einer Welt jedoch, in der die Gesetze nicht mehr von einem Vater gemacht, sondern einer weit-gehend anonymen Verwaltung zugerechnet werden müssen, ist die Anerkennung dieser Notwendigkeit anachronistisch geworden. Oder wenn jedes Verliebtsein nur

“aus Neuauflagen alter Züge besteht und infantile Reaktionen wiederholt”75, also letztlich immer nur Iokaste geliebt wird, dann läßt sich jede Liebe, die mit dem Reali-tätsprinzip kollidiert, auch pathogen schimpfen.

Dennoch wird abstrakt wiederholt, das Individuum muß seinen Trieben und Bedürf-nissen weiterhin entsagen und sich dem ‘Realitätsprinzip’ anpassen, ohne dieses selbst noch auf sein geschichtliches Überholtsein prüfen zu können.

“Die Aporie weist auf die Psychoanalyse als solche zurück. Einerseits gilt ihr Libido als die eigentliche psychische Realität; Befriedigung als positiv, Versagung, weil sie zur Erkrankung führt, als negativ. Andererseits aber nimmt sie die Zivilisation, welche die Versagung erzwingt, wenn nicht geradezu unkritisch, so doch resigniert hin. Im Namen des Realitätsprinzips rechtfertigt sie die seelischen Opfer des Individuums, ohne das Realitätsprinzip selber einer rationalen Prüfung auszusetzen.” (Soz I, 39)

Während das ‘Ich’ also in der Psychoanalyse wesentlich nach der Funktion der Ab-wehr der Triebbedürfnisse konzipiert ist, diese nach innen staut und sich so auf de-ren Kosten einen zivilisatorischen Freiraum verschafft, kann sich Adorno mit der um-standslosen Sanktionierung des Realitätsprinzips nicht anfreunden. Er verlangt nicht nur, daß das Ich die Realität prüft, um seine Triebansprüche ihr anzugleichen,

75 So Freud in den “Bemerkungen über die Übertragungsliebe”. (Freud 1992, 108)

dern daß das Ich das Realitätsprinzip selbst prüft, um seine Triebansprüche mit der Realität in Einstand zu bringen, also nicht sich an die Realität anpasst, sondern an ihr leidet, weil sie Versagung aufbürdet, und dies erkennt und aushält, ohne in Ratio-nalisierungen zu flüchten. Dadurch verändert sich aber auch die Konzeption des Ichs, das nach psychoanalytischer Logik seine Funktion darin hat, die Triebbedürf-nisse abzuwehren.

“Im Narzißmus ist die selbsterhaltende Funktion des Ichs, zumindest dem Schein nach, bewahrt, aber von der des Bewußtseins zugleich abgespalten und der Irratio-nalität überantwortet. Narzißtisches cachet haben alle Abwehrmechanismen: das Ich erfährt seine Schwäche dem Trieb gegenüber wie seine reale Ohnmacht als »narziß-tische Kränkung«. Die Leistung der Abwehr wird aber nicht bewußt, kaum vom Ich selber vollbracht, sondern von einem psychodynamischen Derivat, einer gleichsam verunreinigten, aufs Ich gerichteten und dabei unsublimierten und undifferenzierten Libido. Fraglich selbst, ob das Ich die Verdrängungsfunktion, die wichtigste der so-genannten Abwehr, ausübt. Vielleicht wäre das »Verdrängende« selbst als von ihren realen Zielen abgeprallte und darum aufs Subjekt gerichtete, narzißtische Libido an-zusehen, die dann freilich mit spezifischen Ichmomenten fusioniert wird. Dann wäre die »Sozialpsychologie« nicht, wie man es heute gern hätte wesentlich Ichpsycholo-gie, sondern Libidopsychologie.” (Soz I, 72f)

Indem Adorno so das Ich aus dem Funktionszusammenhang des psychologischen Kleinbetriebs loslöst und ihm die Aufgabe zumutet, die Realität sich nicht mehr vom Über-Ich vorgeben zu lassen, sondern sie selbst kritisch zu prüfen, wird das Ich ü-berhaupt erst zu einer Geschichte ohne Schicksal befähigt. Das heißt zwar nicht, dass das Überich schwindet, aber ein ‘bewußtes’ Überich würde für das Ich so trans-parent, dass das Ich dessen Autorität transzendieren könnte. Ebenso wenig würde auch das Leid schwinden, nur das Ich wäre dann in die Lage versetzt, dieses Leid aushalten zu können, ohne in haltlose Rationalisierungen flüchten zu müssen. Für Adorno hat das Ich diese wie schwach auch immer ausgeprägte Kraft, den funktio-nierenden Herrschaftszusammenhang zu transzendieren.

Für die radikale Aufklärung der Psychoanalyse unterliegt ein so konzipiertes Ich frei-lich einem Metaphysikverdacht, ist bloße Illusion. Denn ihrem Verdikt nach ist das Ich

nicht Herr im eigenen Haus, sondern eher Knecht. Damit wird aber das reale Knechtsein theoretisch nur verdoppelt und überhistorisch festgeschrieben.76 Das kann Adorno so nicht gelten lassen: “So wird Psychoanalyse das Opfer eben der

nicht Herr im eigenen Haus, sondern eher Knecht. Damit wird aber das reale Knechtsein theoretisch nur verdoppelt und überhistorisch festgeschrieben.76 Das kann Adorno so nicht gelten lassen: “So wird Psychoanalyse das Opfer eben der

Im Dokument Schwierigkeiten ästhetischer Bildung (Seite 51-66)