Lineare Systeme
6.3 Eigenwertprobleme und Separationsansatz
In den Eigenwerten und Eigenvektoren einer n × n Matrix A sind wesentliche Informa-tionen ¨uber das lineares Gleichungssystemen
Ax = b bzw. ¨uber die entsprechende lineare Abbildung
ϕ : Rn → Rn, x 7→ A
enthalten. ¨Ahnliches gilt auch f¨ur lineare Randwertprobleme.
Definition 6.3 Sei x ∈ I = [a, b] und a0, a1, a2 ∈ C(I,R). F¨ur einen linearen Differentialoperator
Lu := a2u00 + a1u0 + a0u
mit homogenen Randbedingungen R1u = 0, R2u = 0 versteht man unter dem Eigenwertproblem(EWP) die Aufgabe λ ∈ Cund eine Funktion u ∈ C2(I,C), u 6= 0 zu finden, sodass gilt
Lu = λu, R1u = 0, R2u = 0. (6.6) Die Zahl λ nennt man Eigenwert von L, die Funktion u nennt man Eigen-funktion zum Eigenwert λ.
Die Eigenwerte sind genau die Werte λ ∈ C f¨ur die das RWP eine nichttriviale L¨osung hat. Mit u ist auch cu, c ∈ C, c 6= 0 Eigenfunktion. Aus den S¨atzen 6.2 und 6.3 erh¨alt man unmittelbar die folgende Charakterisierung von Eigenwerten.
Satz 6.6 Sei u1(x, λ), u2(x, λ) ein Fundamentalsystem der DG a2u00 + a1u0 + (a0 −λ)u = 0.
Die Zahl λ ∈ C ist genau dann ein Eigenwert des EWP (6.6), wenn gilt det
µ R1u1(., λ) R1u2(., λ) R2u1(., λ) R2u2(., λ)
¶
= 0. (6.7)
Eigenwertproblem und Exponentialansatz
Die Eigenwerte und Eigenfunktionen enthalten nicht nur Information ¨uber den linearen Differentialoperator L, sie liefern auch spezielle L¨osungen von zeitabh¨angigen linearen
partiellen DG der Form
ut = Lu (6.8)
oder
utt = Lu. (6.9)
Eine L¨osung ist eine Funktionu(x, t),t ∈ Rundx ∈ I, f¨ur die alle in der DG auftretenden Ableitungen existieren und die beim Einsetzen in die DG diese identisch erf¨ullt. Zus¨atzlich sollen die Randbedingungen R1u(., t) = 0 und R2u(., t) = 0 erf¨ullt sein.
Um eindeutige L¨osungen zu erhalten, die f¨ur t ≥ 0 definiert sein sollen, muss man Anfangswerte vorgeben. Im Fall der Gleichung (6.8), die bez¨uglich t erster Ordnung ist, kann man
u(x,0) = f(x), x ∈ I (6.10)
vorgeben.
F¨ur die Gleichung (6.9), die bez¨uglich t zweiter Ordnung ist, kann man
u(x,0) = f(x), ut(x,0) = g(x), x ∈ I (6.11) vorgeben.
Beispiel 6.5
F¨ur Lu = uxx entsprechen diesen beiden F¨allen die W¨armeleitungsgleichung
ut = uxx (6.12)
bzw. die Wellengleichung
utt = uxx. (6.13)
Die Wellengleichung mit Dirichlet Randbedingungen u(a, t) = 0 und u(b, t) = 0 be-schreibt die Schwingungen einer bei x = a und x = b eingespannten Saite. 3 Im Fall der Gleichung (6.8) f¨uhrt der Exponentialansatz
u(x, t) = eλtv(x) (6.14)
auf
λeλtv(x) = eλtLv(x) und somit auf das EWP
Lv = λv.
Im zweiten Fall f¨uhrt der Exponentialansatz
u(x, t) = eµtv(x) (6.15)
auf das EWP
Lv = µ2v.
Die Eigenwerte und Eigenfunktionen von L ergeben daher die speziellen L¨osungen (6.14) bzw. (6.15) der partiellen DG. In beiden F¨allen entscheidet der Realteil von λ bzw. von µ ¨uber das zeitliche Verhalten dieser speziellen L¨osungen. F¨ur <λ < 0 klingt die L¨osung f¨ur t → ∞ exponentiell ab, f¨ur <λ = 0, λ 6= 0 oszilliert die L¨osung als Funktion von t und f¨ur <λ > 0 w¨achst die L¨osung exponentiell in t. Falls λ oder µ gleich α+βi ist mit β 6= 0, erh¨alt man durch Zerlegen der komplexen L¨osung u in Real- und Imagin¨arteil reelle L¨osungen der Form
u1(x, t) = eαtcos(βt)v(x), u2(x, t) = eαtsin(βt)v(x).
Separationsansatz
F¨ur viele lineare partielle Differentialgleichungen erh¨alt man EWP der Form (6.6) durch einen sogenannten Separationsansatz. F¨ur lineare partielle DG der Form (6.8) oder (6.9) sucht man dabei L¨osungen der Form
u(x, t) = w(t)v(x).
Einsetzen in die Gleichung (6.8) ergibt
˙
wv = wLv.
Divison dieser Gleichung durch vw ergibt
˙ w
w = Lv v .
Die linke Seite dieser Gleichung ist eine Funktion von t w¨ahrend die rechte Seite der Gleichung nur von x abh¨angt. Da x und t voneinander unabh¨angig variieren k¨onnen, kann diese Gleichung nur dann erf¨ult sein, wenn eine Konstante λ ∈ C existiert mit
˙
Daher gilt w(t) = eλt und v(x) ist Eigenfunktion von L zum Eigenwert λ, wobei w und v jeweils noch mit einer Konstante multipliziert werden k¨onnen.
Bei der Gleichung (6.9) f¨uhrt der Separationsansatz auf
¨
wv = wLv.
Divison dieser Gleichung durch vw ergibt
¨ w
w = Lv v .
Wie zuvor folgt, dass diese Gleichung nur dann erf¨ult sein kann, wenn eine Konstante λ ∈ C existiert mit
¨ w
w = λ, Lv
v = λ.
Daraus folgt
¨
w = λw, Lv = λv
daher muss v(x) Eigenfunktion von L zum Eigenwert λ sein. Wenn man µ durch µ2 = λ definiert, folgt wieder w(t) = e±µt.
In konkreten Realisierungen dieser Situation, z.B. f¨ur Lu = uxx, gilt f¨ur die EW oft λ = −ω2 < 0 mit ω ∈ R, daher folgt µ = ±iω. Aufspalten von w(t) = eiωt in Real- und Imagin¨arteil f¨uhrt in diesem Fall auf reelle L¨osungen der Form
u(x, t) = cos(ωt)v(x), u(x, t) = sin(ωt)v(x),
d.h. die L¨osungen beschreiben zeitliche Schwingungen eines festen Profiles v(x).
Superpositionsprinzip
F¨ur die linearen partiellen DG (6.8) und (6.9) mit homogenen Randbedingungen gilt:
1. F¨ur eine L¨osung u ist auch cu, c ∈ R(C) eine L¨osung.
2. F¨ur L¨osungen u1, . . . , un ist jede Linearkombination
u = c1u1 + · · · + cnun, ci ∈ R(C), i = 1, . . . , n eine L¨osung.
3. Seien u1, u2, u3, . . . abz¨ahlbar unendlich viele L¨osungen. Dann ist u(x, t) :=
X∞
k=1
ckuk(x, t) (6.16)
ck ∈ R(C), k ∈ N ebenfalls eine L¨osung, falls es die Konvergenzeigenschaften dieser Funktionenreihe erlauben, das Ausf¨uhren der in der DG auftretenden Ableitungen mit der Summation zu vertauschen.
Daher kann man versuchen, allgemeinere L¨osungen solcher partieller DG durch Rei-henentwicklungen der Form (6.16) zu erhalten. Insbesondere kann man versuchen, die Konstanten ck, k ∈ N so zu bestimmen, dass die Funktion (6.16) die Anfangsbedingun-gen (6.10) bzw. (6.11) erf¨ullt.
Beispiel 6.6 Wir betrachten die W¨armeleitungsgleichung
ut = uxx, x ∈ [0, π], t ≥ 0
mit mit den Randbedingungen u(0) = 0 und u(π) = 0. Der Anfangswert von u ist vorgegeben, d.h. es soll gelten u(x,0) = f(x) mit einer gegeben Funktion f : [0, π] → R.
Zun¨achst untersuchen wir das EWP
uxx = λu, u(0) = 0, u(π) = 0.
Das charakteristische Polynom dieser DG ist
p(µ) = µ2 − λ.
Man unterscheidet drei F¨alle:
1. Fall: λ > 0, d.h. λ = ω2 mit ω > 0. Die Nullstellen des charakteristischen Polynoms sind µ1 = −ω, µ2 = ω. Daher ist u1 = e−ωx, u2 = eωx ein Fundamentalsystem. Wegen
existiert in diesem Fall keine nichttriviale L¨osung des RWP. Daher gibt es keine positiven EW.
2. Fall: λ = 0. Die allgemeine L¨osung der DG ist u(x) = c1 + c2x. Aus den RB folgt c1 = 0 und c2 = 0. Daher ist λ = 0 kein EW.
3. Fall: λ < 0, d.h. λ = −ω2 mit ω > 0. Die Nullstellen des charakteristischen Polynoms sind µ1 = ωi, µ2 = −ωi. Daher ist u1 = cos(ωx), u2 = sin(ωx) ein Fundamentalsystem. existiert eine nichttriviale L¨osung des RWP genau f¨ur ω = k, k ∈ N.
Daher existieren abz¨ahlbar unendlich viele Eigenwerte λk = −k2, k ∈ N, die entspre-chenden Eigenfunktionen sind uk = sinkx.
Aus der Theorie der Fourierreihen ist bekannt:
1. Die Eigenfunktionen sinkx sind bez¨uglich des L2[0, π] Skalarprodukts paarweise orthogonal, da gilt
entwickelt werden, wobei die Fourierkoeffizienten ck durch gegeben sind. Die Fourierreihe konvergiert in L2 gegen f.
3. F¨ur f ∈ C([0, π],R) mit f(0) = 0, f(π) = 0 und st¨uckweise stetiger Ableitung f0 konvergiert die Fourierreihe punktweise gegen f(x). Die Reihe konvergiert absolut und gleichm¨aßig auf [0, π].
F¨ur die allgemeine L¨osung der W¨armeleitungsgleichung erh¨alt man daher die Reihenent-wicklung
u(x, t) = X∞
k=1
cke−k2tsinkx. (6.17)
Die Anfangsbedingung u(x,0) = f ist genau dann erf¨ullt, wenn die Koeffizienten ck die Fourierkoeffizienten von f sind. Die L¨osung (6.17) ist zun¨achst nur eine formale L¨osung, d.h. sie l¨ost die DG, wenn man die Summation mit den Ableitungen vertauscht. F¨urt > 0 klingen die Terme cke−k2t f¨ur k → ∞ sehr schnell ab. Daher kann man zeigen, dass gilt i) u ∈ C∞([0, π]×(0,∞),R) f¨ur f ∈ L2[0, π], ii) uist die L¨osung des Anfangswertproblems f¨ur die W¨armeleitungsgleichung.
Aus der Darstellung (6.17) folgt auch, dass gilt limt→∞u(x, t) = 0. Dabei klingen die ein-zelnen Fourieranteile der L¨osung wie e−k2t ab. Daher klingen die hochfrequenten Anteile
der L¨osung extrem schnell ab. 3
Beispiel 6.7 In zwei Raumdimensionen ist der Laplaceoperator durch Lu := uxx + uyy
definiert. Unter den Eigenwerten des Laplaceoperators (mit geeigneten Randbedingun-gen) versteht man die Zahlen λ ∈ R, f¨ur welche die DG
Lu = λu
nichttriviale L¨osungen u(x, y) hat. Die Funktion u(x, y) heißt dann Eigenfunktion zum Eigenwert λ.
Diese Gleichung kann nur erf¨ullt sein, wenn gilt
vxx = sv, wyy = tw, s + t = λ mit s, t ∈ R.
Falls die Gleichung auf einem Quadrat B := [0, π] × [0, π] mit homogenen Dirichlet Randbedingungen
u(x,0) = 0, u(x, π) = 0, x ∈ [0, π] u(0, y) = 0, u(π, y) = 0, y ∈ [0, π]
gel¨ost werden soll, folgt aus den Randbedingungen
v(0) = 0, v(π) = 0 bzw. w(0) = 0, w(π) = 0, dass genau f¨ur
sk = −k2, tl = −l2, k, l ∈ N nichttriviale L¨osungen
vk(x) = sinkx, wl(y) = sinly
existieren. Daher hat der Laplaceoperator auf dem Quadrat [0, π]×[0, π] die Eigenwerte λk,l := −(k2 + l2), k, l ∈ N
mit den Eigenfunktionen
uk,l = sinkxsinly.
Die Eigenwerte sind daher genau die ganzen Zahlen, die sich als Summe der (negativen) Quadrate zweier nat¨urlicher Zahlen darstellen lassen.
Der kleinste Eigenwert −2 = λ1,1 ist einfach. Der zweite Eigenwert −5 = λ1,2 = λ2,1 ist ein doppelter EW, da er zwei linear unabh¨angigen Eigenfunktionen besitzt. Der Eigen-wert
−65 = λ1,8 = λ8,1 = λ4,7 = λ7,4 hat die Vielfachheit vier.
Die Vielfachheit eines Eigenwertsλh¨angt daher davon ab, auf wieviele Arten−λals Sum-me zweier Quadrate nat¨urlicher Zahlen dargestellt werden kann. Solche Fragestellungen und naheliegende Verallgemeinerungen f¨uhren auf interessante Probleme der
Zahlentheo-rie! 3