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DIE DOPPELKRISE: 1974/1975 UND 2007 FF

Im Dokument In der KrIse (Seite 54-60)

WIEDER EINMAL EINE KRISE?

DIE DOPPELKRISE: 1974/1975 UND 2007 FF

Die durch die Krise von 1929 bis 1933 und den Krieg 1939 bis 1945 verursach-te Sonderkonsverursach-tellation lief Anfang der 1970er Jahre aus. In ihrer Schlusspha-se war die Konfliktfähigkeit der Gewerkschaften Schlusspha-sehr gestärkt worden. Für die Gegenoffensive der Unternehmer war der Arbeitskräfte sparende, forcier-te Aufbau konstanforcier-ten fixen Kapitals hilfreich (Katzensforcier-tein 1967; 1974). Die Verschärfung der Verteilungskämpfe während der Phase der Vollbeschäfti-gung legte für die Unternehmer den Ersatz von lebendiger Arbeitskraft durch Anlagenkapital während dieser Jahre in besonderem Maße nahe, zumal der Anstieg der Rohstoffpreise Ende 1973 zusätzlichen Anlass für Versuche gab, den Kostendruck durch Einsparungen bei den Löhnen zu parieren. Die tech-nologischen Möglichkeiten hierfür waren jetzt vorhanden. Ihre Umsetzung setzte allerdings ein neues gesellschaftliches Arrangement voraus. Dies war der Übergang in den finanzmarktgetriebenen Kapitalismus nach dem Ende des Währungssystems von Bretton Woods und eine Wirtschaftspolitik, die der Geldwertstabilität den Vorrang vor der Beschäftigung gab (in der Bundes-republik unter anderem durch die Geldmengensteuerung der Bundesbank ab 1974). Das erste realwirtschaftliche Datum dieser neuen Phase war die Weltwirtschaftskrise von 1974/1975.

Dass es schon 1974/1975 einen weltweiten Konjunktureinbruch gegeben hat, wird oft nicht genügend beachtet. Er beendete das »Goldene Zeitalter« des Nachkriegskapitalismus. Parallel zur Auflösung des bisherigen

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nisses zwischen Kapital und Arbeit entzog sich Kapital zunehmend der Pro-duktion und wurde in wachsendem Maße in der Zirkulation, in der für einige Zeit höhere Renditen zu erwarten waren, angelegt. Dadurch ging die Nach-frage nach Arbeit zurück – die Löhne sanken, damit aber auch die NachNach-frage und so die Gewinnchancen in der Warenproduktion. Der Einbruch konnte zunächst durch Spekulation in der Zirkulationssphäre, die Erschließung ei-nes Massen-Konsumgütermarktes für IT-Produkte und die Förderung des Verbrauchs durch Ausweitung des Kredits überspielt werden. Blasen, die sich so bildeten, platzten 2000/2001 (IT-Branche), 2007 (Immobilienkredite).

Es zeigt sich, dass die Ursachen der aktuellen Krise über 30 Jahre zurück liegen. Sie ist die Wiederaufnahme ihrer Vorgängerkrise von 1974/1975. Ihre besondere Heftigkeit erklärt sich durch diese Verschleppung, war aber zu-mindest bisher – anders als 1929 und 1974/1975 – zunächst auf die Finanz- und Kapitalmärkte beschränkt, während der Arbeitsmarkt in weit größerem zeitlichem Abstand folgte als damals.

Fasst man die Jahrzehnte 1974/1975 bis 2007 als eine Einheit, drängt sich eine Veränderung bisheriger Vorstellungen über das Wesen von Krisen und Erholung auf. Sie waren bis dahin zutreffend, sind es aber nicht mehr.

Unter Krisen konnte man bis dahin einen allgemeinen Einbruch der Wirt-schaftstätigkeit verstehen, in dem Kapital und Arbeit für einige Zeit gleicher-maßen außer Tätigkeit gesetzt wurden. In der folgenden Erholung stieg die Nachfrage nach beiden gleichermaßen wieder. Kapitalvernichtung warf Anla-gen und Arbeitskräfte aus dem Wirtschaftsprozess.

Das Ausweichen großer Kapitalmassen in die Zirkulation ab ungefähr 1974/1975 erzeugte im Aufschwung jenes Phänomen, das sonst in erster Linie der Kri se zugeschrieben wird: Erübrigung von Arbeitskräften bei zunehmender Beschäf-tigung von Kapital und steigender Auslastung von Anlagen (jobless growth). Die-se Abkoppelung des Arbeitsmarktes von der Ausweitung der Fi nanz-, Kapital- und Gütermärkte kannte zwar auch schon Keynes, wurde aber erst jetzt zu einem Langzeit-Phänomen. Die Krisen der Lohnabhängigen fanden also nicht nur 1974/1975 und 2008 statt, sondern auch in den dazwischen liegenden kür-zeren Perioden relativer Prosperität.

Eine schon seit Hilferding bekannte Faustregel lautet: Nicht jeder Börsenkrach führt zu einer Rezession, aber jeder Rezession geht ein Börsenkrach voraus.

Es gab also schon immer ein gewisses Maß an Trennung von Kapitalvernich-tung in der Zirkulation einerseits, in der Produktion andererseits. Nunmehr nahm sie offenbar eine neue Qualität an. Der Börsenkrach 1987, die

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rungskrisen der neunziger Jahre und am Beginn des neuen Jahrtausends so-wie in Japan nach 1989 der Absturz aus einem Spekulationsboom mit Aktien und Immobilien, worauf ein Jahrzehnt der Stagnation und Deflation folgte:

sie hatten nicht den gleichen Arbeitsmarkteffekt wie 1929. Die »Depression«

für die Jobs war nämlich in vielen OECD-Ländern schon vorher ein Produkt der gleichsam »normalen« Konjunkturentwicklung, nicht erst der Krise von 2007ff. Dass Kapitalismus immer auch Spekulation ist, galt nie nur für die Zirkulationssphäre, sondern auch für die Produktion: Investitionen erfolgen in der Erwartung, dass die durch mit ihrer Hilfe hergestellten Güter mit Ge-winn abgesetzt werden können. Nach 1974/75 aber hat der Begriff des »Pro-dukts« sich ausgeweitet: er bezeichnet in weit höherem Maße ausschließliche

»Zirkulationsgüter« (Devisen, Wertpapiere und ihre vielfältigen Derivate).

Werden sie an den Börsen »vernichtet«, muss dies nicht immer in gleichem Maße wie früher auch die Produktion treffen.

Da, wie gezeigt, die Depression auf dem Arbeitsmarkt als Dauerzustand schon lange vorher eingesetzt hatte, wirkte sich die Krise an den Finanzmärkten 2007ff zunächst weniger auf die Beschäftigung aus. Ihr Verlauf weicht somit von ihren Vorgängerinnen ab. Als Hypothekenkrise traf sie 2007 zunächst Banken, Fonds und in den USA eine breite untere Mittelschicht von abhängig und selbständig Beschäftigten, die ihr Eigentum verloren. Davon zu unter-scheiden ist die Kreditkrise 2008, die die Refinanzierung auch von produzie-renden Unternehmen in Frage stellte. Aber auch hier war der Verlauf – im his-torischen Vergleich – untypisch. Wenn die milliardenschweren Übernahmen der Dresdner Bank durch die Commerzbank, von Continental durch Schaeff-ler, von VW-Aktien durch Porsche nicht »refinanziert« werden können, dann ist dies von den Schwierigkeiten jener Unternehmen, die keine Kredite mehr für ihren laufenden Betrieb erhalten, zu unterscheiden. Die gab es denn auch und wurden 2009 zunehmend bedrohlich, zunächst aber ist das große Kri-sengeräusch durch die Spekulationsgewinner von einst und -verlierer von jetzt bestimmt gewesen. Sie haben offenbar einen besonders breiten, mitbetroffe-nen Tross. Wenn die Jahressynode der Evangelischen Kirche in Deutschland im November 2008 ihre Agenda auf die Finanzkrise umstellte und landauf, landab Gottesdienste über die Ethik in der Wirtschaft stattfanden, wenn Frank Schirrmacher in einem Leitartikel der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Deutschland« klagte, nichts werde mehr so sein wie bisher: dann werden eher luxurierende Probleme einer Oberschicht sichtbar, hinter denen allerdings inzwischen auch die Verluste privatisierter Alterssicherungen von Bezieher n

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mittlerer bis unterer Einkommen auftauchen. (Der Fast-Zusammenbruch von Opel und die Karstadt-Insolvenz 2009 sind jeweils die Fortsetzung früherer Schwächeanfälle: einige Jahre vorher hatten beide Unternehmen nur mit knap-per Not gerettet werden können.)

Die Ober- und die Mittelschicht sind also deutlich früher tangiert worden als die Arbeiterklasse. Für die Reicheren unter ihren Mitgliedern könnten die Verluste sich vielleicht noch als lediglich virtuell herausstellen: wenn Unter-nehmen, an denen sie Anteile haben, nicht untergehen, sie keine Aktien ver-kaufen müssen und diese Papiere sich später wieder erholen sollten.

Dass diese Krise viel stärker als 1929 auch ein Problem des Bürgertums in einem recht breiten Sinne ist, zeigt sich im mittlerweile schon als inflationär zu bezeichnenden Umfang der Krisenliteratur. Die Depression der späten 1920er und frühen 30er brachte zwei große Werke hervor: Henryk Gross-manns »Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems« und Keynes’ »Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes« (1936). Seit 2007 ergießt sich eine Flut von Krisen-Paper-backs über das Publikum – Ausdruck der Tatsache, dass die Intelligenz (ein-schließlich ihrer sozialwissenschaftlichen Abteilungen) zu einer enorm ange-wachsenen angebotsfreudigen Massenschicht geworden ist.

Was die politischen und sozialen Auswirkungen betrifft, so handelte es sich zumindest 2007/2009 noch eher um eine Drôle de crise (Fülberth 2009). Von der Depression 1929 unterscheidet sie sich dadurch, dass der Abstieg von einem weit höheren Niveau der Konsummöglichkeiten und auch der sozialen Absicherung breiter Massen aus begann.

Ideologiepolitisch haben sich die Marktliberalen bisher sehr gut gehalten. Auf staatsinterventionistische Zugeständnisse antworten sie mit Kontern, bei de-nen sie mehr gewinde-nen als verlieren. Ihr bislang größter Erfolg in der Bun-desrepublik ist die Verankerung eines Schulden-Verbots im Grundgesetz:

eine Revolution im System der öffentlichen Haushalte, wie es sich seit etwa drei Jahrhunderten herausgebildet hat. Die FDP legt bei Wahlen und Umfra-gen zu, und der wirtschaftsliberale Minister Karl-Theodor zum Guttenberg ist ein Star.

Die Linke (im engeren und weiteren Sinne) antwortete bisher eher mit einer Art Tonnen-Keynesianismus, der zumindest in der Öffentlichkeit nicht den Eindruck zu vermeiden vermochte, als habe sie zwar 2005 gefordert, was die Regierung dann 2008/2009 selbst tat, sei anschließend aber nur noch in ei-nen quantitativen Überbietungswettbewerb mit dieser getreten. Bündnis 90/

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Die Grünen immerhin setzte mit dem Konzept des Green New Deal eigene qualitative Akzente.

Die Krisenbewältigung des alten Keynesianismus nach 1933 und nach 1945 war Beschäftigungspolitik im Umweg über die Ausweitung des konstanten fixen Kapitals. Wiederaufnahme dieses Kurses brächte auf Dauer zusätzliche Überakkumulation.

Ein neuer Ansatz könnte darin bestehen, nunmehr direkt ins variable Ka-pital zu investieren, die Arbeitenden. Die Forderung nach »mehr Bildung«

allerdings ist eine Wortblase. Zu fragen ist: welche Bildung? Und die Ant-wort kann wohl besser unter Verwendung des englischen Begriffs education, der seinerseits von der deutschen »Erziehung« zu unterscheiden ist, gegeben werden. Ein großer Multiplikator-Effekt könnte in der Ausweitung des Vor- und Grundschulbereichs und mit einer qualitativen und finanziellen Aufwer-tung aller Sparten der Pflege erzielt werden. Das Gesamtkonzept ließe sich als Pink-Grey-Red-Revolution überschreiben – Pink in Anspielung auf die einstige (heute allerdings längst aufgegebene) Farbe von Babykleidung, Grey für die Alten und ihre Pflege, Red für die notwendige Lohnsteigerung. Um eine Re-volution handelte es sich deshalb, weil all dies eine Umwälzung des Steuer- und Abgabensystems voraussetzt.

FAZIT

Die Analogie zu 1929ff kann sich als Sackgasse erweisen. Eine Form sterilen theoretischen Trotzes wäre es, wollte man in Reaktion darauf die Geschichte des Kapitalismus seit 1873 ausschließlich als sich wiederholende Abfolge von Überakkumulation, die in Krisen nur zeitweilig behoben wird, formulieren.

Wichtiger ist, wie vorstehend versucht, die Herausarbeitung der Spezifik je-der einzelnen, insbesonje-dere je-der gegenwärtigen Krise.

LITERATUR

Fülberth, Georg, 2009: Drôle de crise, in: Junge Welt Nr. 86. 14. April 2009, 10/11

Jánossy, Franz, 1966: Das Ende der Wirtschaftswunder. Erscheinung und Wesen der wirtschaftlichen Entwicklung. Unter Mitarbeit von Maria Holló, Frankfurt/M

Katzenstein, Robert, 1967: Die Investitionen und ihre Bewegung im staatsmonopolistischen Kapitalismus.

Zu einigen Fragen der Reproduktion des fixen Kapitals, der zyklischen Bewegung der

Gesamtproduktion und des technischen Fortschritts in Westdeutschland nach dem Kriege, Berlin Ders., 1974: Technischer Fortschritt – Kapitalbewegung – Kapitalfixierung. Einige Probleme der Ökonomie

des fixen Kapitals unter den gegenwärtigen Bedingungen der Vergesellschaftung der Produktion im staatsmonopolistischen Kapitalismus, Berlin

»no money in my pocket«

Foto: Claudia Mayhak

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Schmalz: Dein Buch Adam Smith in Beijing ist der letzte Band einer Trilogie. Könntest du etwas über deine Forschungsagenda der letzten Jahre erzählen?

Arrighi: Eigentlich handelt es sich um die For-schungsagenda der letzten mindestens zehn, 15, wenn nicht 20 Jahre. The Long 20th Century wurde 1994 veröffentlicht, aber ich hatte bereits seit Mit-te der 1980er Jahre daran gearbeiMit-tet. Darauf folgMit-te Chaos and Governance in the Modern World System (zusammen mit Beverly Silver) im Jahr 1999.

Allerdings war nicht geplant, eine Trilogie zu verfassen. Zunächst sollte The Long 20th Century lediglich die Zeitspanne umfassen, die ich unter dem langen 20. Jahrhundert verstehe: von der Großen Depression des späten 19. Jahrhunderts bis zum gegenwärtigen »langen Abschwung«. Ich bin zeitlich immer weiter zurück gegangen und erarbeitete eine Langzeitanalyse der kapitalisti-schen Entwicklung. Die Dynamik der globalen politischen Ökonomie nach der Veröffentlichung des Buches warf neue Fragen auf. In Chaos and

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