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3.4.2 »Doppelklick« oder: Der epistemische Kurzschluss des westlichen Rationalismus

Im Dokument Arbeit und Organisation (Seite 146-151)

Wissenschaftliche Erkenntnis – dies ist die zentrale Einsicht der STS und zugleich der Einstieg in das Projekt der Existenzweisen (vgl. Latour 2014: 27)beruht auf zir-kulären Referenzen, abgekürzt [REF], in denen Weltverhältnisse in Ding-Zeichen-Relationen übersetzt werden. Um Latour an anderer Stelle mit einem eingängigen Vergleich nochmal zu zitieren: »Die Referenz ist eine Eigenschaft der Kette in ihrer Ge-samtheit[…]. Die Wahrheitzirkuliertin ihr wie die Elektrizität entlang eines Drah-tes, und zwar so lange, wie er nicht zerschnitten wird.« (Latour 2000: 85; Hervor-hebungen im Original) Der Wissenschaft als [REF] ist es dabei – im Gegensatz zu anderen Existenmodi – jederzeit möglich, das theoretische Modell vermittels der hierfür angewandten methodologischen Prozesse Schritt für Schritt nachzu-vollziehen und so in seiner Genese zu betrachten und notfalls dort, wo der Draht zerschnitten ist oder zu zerschneiden droht, anzupassen.28 Insofern das gene-rierte Modell bzw. die wissenschaftliche Theorie praktikabel ist – es sich im All-tag also ergeben hat, sie für die Wirklichkeit zu halten – besteht die Gefahr je-nesepistemischen Kurzschlusses, den Latour in Anlehnung an die Mensch-Computer-Schnittstelle »Doppelklick«, abgekürzt [DK], getauft hat. [DK] steht als eigene Exis-tenzweise demnach für das, »was geschieht, wenn die Gewohnheit die Diskonti-nuitäten so gut ausgerichtet hat, daß alles sich so abspielt, als ob man Fortbewe-gungen ohne Deformation, als ob man simplen Verlagerungen beiwohnte.« (ebd.:

386, Hervorhebungen im Original).

[DK] steht für dieFiktionalitätdes Existenzmodus der Gewohnheit29, abgekürzt [GEW], einer wie geschmiert funktionierenden, normierten und normalen Welt, die stets dieselbe ist und auch bleibt: »Unser Herz schlägt regelmäßig; der Haus-haltsmüll wird von der Müllentsorgung abgeholt; wir folgen dem Weg, ohne dar-über nachzudenken; wenn wir auf den Schalter drücken, leuchtet die Lampe auf;

28 Vgl. exemplarisch Latour/Woolgar (1979); Latour (1988, 2000); zum Problem der einseitigen Fokussierung Latours zirkulierender Referenz auf Ding-Zeichen-Relationen, seiner »Semiotik der Dinge« bzw. den fehlenden Zeichen-Zeichen-Relationen, siehe Kneer (2008).

29 Latour definiert die Existenzweise der Gewohnheit als diejenige, die »alle übrigen Modi um-hüllt – einschließlich ihres eigenen« (Latour 2014: 376). Sie verhält sich wie eine Essenz, etwas Stabiles, Kontinuierliches, Bleibendes, das »die Welt, in der Tat, bewohnbar« und damit erst

»erträglich« macht (ebd.: 377). Und ist es zugleich nicht, denn »paradoxerweise gibt es keine Trägheit in der Gewohnheit – außer wenn sie in ihr Gegenteil umkippt, in Automatismus oder Routine.« (ebd.: 378) Damit ist dieser Existenzmodus, wie Latour ausführt, eine Art »Spezial-effekt« im Sinne eines Animationsfilms, der die einzelnen Bilder zu einer einzigen Bewegung und »kontinuierlichen Folge« (ebd.: 374) zusammensetzt und die vielen Unterbrechungen und Differenzen, welche das »Sein-als-Anderes« erkundet, umhüllt. Sie ist ein Immanenzef-fekt der »Mini-Transzendenz«, der ständig in der Erfahrung einer Fortbewegung auftritt und glauben macht, man hätte es mit stabilen Wesenheiten zu tun.

das Gespräch läuft von selbst, und wenn wir das Icon eines Programms anklicken, startet es.« (Ebd.) Der mit einer Computermaus durchgeführte Doppelklick löst eine Rechenprozedur aus, die wir als Nutzer nicht verstehen und verdeckt die-se damit. [DK] beruht somit auf »black-boxing«, welches Latour (1987) mit Bezug auf die Kybernetik als Prozess bezeichnet, durch den ein Ding (z.B. ein Compu-ter), das als zu komplex erscheint, auf Input und Outpout-Verhältnisse reduziert wird und der »throughput«, also die internen Vorgänge und Verarbeitungsschrit-te, ausgeblendet und in diesem Sinne als schwarzer, undurchsichtiger Karton, als black box, behandelt werden. Das Ergebnis ist einepistemischer Kurzschluss, denn er lässt die verstörende Komplexität des Verhältnisses von Zeichen und Welt, die Praxis des Rechnens und Herstellens verschwinden. Er suggeriert im Sinne der oben bereits angeführten Korrespondenztheorie (siehe 2.2.3), dass die Dinge klar sind, dass also die Zeichen der wissenschaftlichen Referenz der Wirklichkeit unver-zerrtentsprechen und nicht mehr auf die Prozesse und Praktiken geschaut werden muss, welche die Zeichen erst konstituieren.

Analog zum Doppelklick, läuft die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Realität Gefahr, die Zeichen nun anstelle der Netzwerke ihrer Genese für

»wahr« zu halten. Sobald dies geschieht, bewegt sich der Diskurs in Richtung einesFundamentalismus, der die wissenschaftlichen Repräsentationen und Reprä-sentanten der Wirklichkeit mit der Tiefe der Realität, die dann eben auch die Zeichen hervorbringt, verwechselt. Es kommt in Folge dessen zu einer historisch gewachsenen »Hegemonie« einer modernistischen Erkenntnisweise, welche vor-gibt, einen privilegierten und unverfälschten Zugang zu den Gesetzmäßigkeiten der »ersten Natur« im Sinne einer physikalischen Welt zu haben, um so die

»universalen Gesetze der Bewegung aller Dinge zu diktieren« (Latour 2014: 520).

Im Cartesianismus (vgl. weiter oben 2.2.2) macht Latour eben jene hegemonial gewordene Erkenntnisweise aus, der er einen »Idealismus der Materie« (vgl. ebd.:

156ff.) attestiert und sich fragt:

»Wie kann man diese Sintflut stoppen, die alles Existierende unter den Wassern der Materie ertränkt – desGedankensder Materie? Die Schwierigkeit hört auf, die Wasser beginnen abzufließen, sobald man gewahr wird, daß diese Res Ra-tiocinans in keinem FallausoderimRaum besteht. Den Eindruck, »überall« zu sein, vermittelt sie nämlich deshalb, weil sie sich buchstäblichnirgendwo befin-det, denn für ihre Fortbewegungen bezahlt sie nicht durch den Aufbau irgend-eines Netzwerks. Wenn sie in der Lage ist, alles zu überfluten (in Gedanken), so weil sie nie für die Kosten ihrer Ausdehnung aufkommt, weil sie alle Lücken verwischt, alle Pässe übergeht und sich verhält, als gäbe es nur Verlagerungen von undeformierbaren Notwendigkeiten, von Ursache-Wirkungs-Verkettungen, aus denen der kleinste Sprung, die kleinste Unterbrechung von Kontinuität, der

Hiatus zwischen Ursache und Wirkung verschwunden wäre.« (Ebd.: 184, Hervor-hebungen im Original)

Der Idealismus des Rationalismus – die res ratiocinans – entspringt dem dort ver-tretenen Dualismus von Geist (res cogitans) und Materie (res extensa), den La-tour für eine »schlecht konzipierte Institution« (ebd.: 186) hält. Das Problem für Latour liegt nicht nur in der dualistischen Trennung, sondern vor allem in einer verkürzten Vorstellung von Materie als einer reinen, universellen Kraft begrün-det. Die Haltung, sich allen existierenden (darunter auch physikalischen) Dingen rein logisch in Form von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen und ohne Bezug zur Auseinandersetzung der Materie selbst mit den komplexen, zeitaufwändigen und netzwerkförmigen Arbeitsprozessen der räumlichen Ausdehnung zu nähern, ist aus Latours Sicht der Kardinalfehler rationalistischer Philosophien. Ihnen setzt er die Methoden der Ethnographie sowie einen an Gilles Deleuze und William Ja-mes sowie anderen Vertreter*innen der pragmatischen Philosophie entlehnten ra-dikalen Empirismusentgegen. Diesem ist an einer Rehabilitierung des Begriffs der Erfahrungfür den Zugang zu einem Wissen über und vor alleminder Welt gele-gen (vgl. ebd.: 227ff.). Als Alternative zum cartesianischen Dualismus und anderen darauf gründenden Dualismen der Moderne (Natur/Kultur, Materiell/Symbolisch, Mikro/Makro, Quantitativ/Qualitativ) schlägt Latour, wie bereits erwähnt, darauf-hin einen ontologischen Pluralismus vor, den er als »Sein-als-anderes« bezeichnet.

Er setzt hier unter Zuhilfenahme des Begriffs der Instauration30auf die Möglich-keit,

»Wesen, zu begegnen, die in der Lage sind, einen zu beunruhigen. WESEN mit noch offenem ontologischen Status, die gleichwohl fähig sind, einen dazu zu bringen, etwas zu tun, fähig, zu verstören, insistieren, einen zu verpflichten, rich-tig von ihnen zu sprechen bei Gelegenheit […]. Wesen, die […] ›für etwas einste-hen können‹« (ebd.: 238).

Er geht hier von derErfahrung der Differenz der Dingeaus und betont damit den

»transformativen Charakter der Welt« (Gertenbach/Laux 2019: 181), den Doppel-klick stets auszublenden sucht. Die alterierenden Dinge werden einerseits mit Au-tonomie ausgestattet, sie verfügen über das oben bereits angeführte Handlungspo-tenzial, einen appellativen Charakter, genauer noch über die Fähigkeit, »einen zu beunruhigen«. Andererseits müssen sie aber – da sie nicht über eine stabile Exis-tenz im Sinne einer Substanz verfügen – ihr Glück in derSubsistenz »auf eigenes 30 Der von Étienne Souriau entlehnte Begriff, auf dessen Buch »Die verschiedenen Modi der Existenz« (2015 [1943]) auch der Titel von Latours Buch anspielt, soll denjenigender Konstruk-tion ersetzen, der nach Latours Einschätzung die schwierige Balance zwischen erkennenden Subjekt und erkanntem Objekt im Erkenntnisprozess nicht adäquat erfassen kann (vgl. ebd.:

233ff.).

Risiko und eigene Gefahr« suchen, für ihre Kontinuität »›bezahlen‹ durch Diskon-tinuitäten« (Latour 2014: 239). Latour denkt sich die Überlebenskämpfe der Din-ge ganz im Stil der Laboratoriumsstudien als experimentelle Versuche, in denen die Dinge nach Halt suchen, dadurch, dass sie eine Kluft – einenHiatus – über-springen, indem sie sichverändern, also nicht in sich selbst ruhen, sondern über sich hinausgehen und durch Verbindung mit anderen Dingen neueDifferenzen er-zeugen und hierdurch ihre Existenz (Latour spricht von »Subsistenz«) verlängern.

Dieser sich wandelnden Existenz der Dinge wird ein »Sein-als-Sein« entgegenge-stellt, das statisch ist und auf einer »Philosophie der Identität und der Wesenheit«

(Latour 2014: 574) beruht. Diese schwierige Passage – sowohl existenziell als auch forschungsprogrammatisch – macht den Kern der Untersuchung aus und soll

»die zentrale Hypothese dieser Untersuchung erhellen: Vom Sein-als-sein kann man nur einen einzigen Seinstyp ableiten, von dem man auf mehrere Arten spre-chen kann; während wir versuspre-chen werden, zu definieren, auf wie viele verschie-dene Arten das Sein sichändern, alterieren kann, durch wie vieleandere Formen von Andersheitenes in der Lage ist, sich hindurchzuschlängeln, um fortzufahren zu existieren […], wie viele verschiedene Arten das Sein hat,durchanderes hin-durchzugehen,zu passieren« (ebd.: 240, Hervorhebungen im Original).

Latour wendet sich hier auch gegen denlinguistic turn31der Sprachphilosophie, der auf einer verkürzten Idee der Praxis beruht, da Weltverhältnisse und damit auch alle nicht-menschlichen Dinge ausschließlich in Form sprachlicher Äußerungen erfasst werden (siehe 3.1).

31 Der Begriff bezieht sich auf sehr unterschiedliche philosophische Strömungen und ist daher nicht trennscharf. Latours Kritik scheint aber an der von Richard Rorty (1992 [1967]) populari-sierten Verwendung des Begriffs anzuschließen, wonach der linguistic turn sich auf eine brei-te Bewegung in der Philosophie bezieht, die alle philosophischen Probleme als sprachliche Probleme auffasst. Sprache wird hier insbesondere als formales Zeichensystem verstanden und mit den Methoden des logischen Positivismus (allen voran bei Rudolf Carnap) unter-sucht und in Abgrenzung zu »ordinary-language philosophers« gesehen, die eher auf den alltäglichen, praktischen Gebrauch von Sprache abstellen. Hierunter fällt etwa J. L. Austins Sprechakttheorie (»Doing things with words«), denen auch Rorty, Latour, Butler und ande-re Vertande-reterInnen pragmatistischer Philosophien nahestehen. Aber auch der späte Wittgen-stein (in Abgrenzung zu seinem Frühwerk »Tractatus logicus-philosophicus«) wird für sein Hauptwerk »Philosophische Untersuchungen« und durch seine dort entwickelte Idee, dass Sprache in Form von Sprachspielen immer an eine alltägliche Praxis und Lebensform gebun-den ist, von praxistheoretischer Seite (z.B. prominent bei Schatzki 1996, siehe auch weiter oben 3.1) her vereinnahmt. Luhmann (1998: 205-229) hat sich in seiner Kommunikationstheo-rie sozialer Systeme ebenfalls ausdrücklich dem lingustic turn zugeordnet, da Bewußtseins-/Körper- und andere nicht-sprachliche Elemente zugunsten einer Deontologisierung des So-zialen ausgeblendet werden (mit Ausnahme des Begriffs der Konstitution, den Luhmann in Anlehnug an Husserls Begriff der bewusstseinsimmanenten Transzenzendenz für das Pro-blem des Verhältnisses von Sinn und Welt veranschlagt, nämlich für den Umstand, dass sub-jektiv Erlebtes immer auch über sich selbst – auf Welt – hinausweist, siehe Luhmann 1971:

26-39 bzw. das ganze Kapitel: 25-100). Laut Vogd (2016b: 8) hat Luhmanns Theorieentwurf das Soziale daher – im Gegensatz zum hier verhandelten Ansatz von Latour – nicht »von vornherein unter dem Blickwinkel hybrider Praxen konzeptualisiert«, sondern am reflexiven Sinnbegriff einer kommunikativ fundierten Systemrationalität angesetzt. Für diese ist die Differenz von System und Umwelt konstitutiv, wodurch sich »jener mysteriöse Beobachter, der als betriebliche Differenz seinslogisch keine Existenz hat« aufdrängt, womit die Einheit der Differenz von System und Umwelt reflexionslogisch nur als Differenz, als Negation ge-dacht werden kann und zu weiteren Theorieanpassungen zwingt, wie sie Jansen (2016) und Jansen/Vogd (2013) im Anschluss an Gotthard Günther vorgelegt haben.

Im Dokument Arbeit und Organisation (Seite 146-151)