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Diversität quer denken: Räume als Ausgangspunkte intersektionaler

6.1 Konzeptionell-methodologische Implikationen

6.1.2 Diversität quer denken: Räume als Ausgangspunkte intersektionaler

Eine zweite konzeptionell-methodologische Erkenntnis dieser Arbeit ist es, dass eine räumliche Perspektive neue Ansätze eröffnet, über Diversität nachzudenken. Diese Ansätze könnten die Intersektionalitäts- und Ungleichheitsforschung über die Beschäftigung mit höherem Alter hinaus bereichern. Die empirischen Analysen aus Kapitel 5 zeigen, dass neben den „konventionalisierten“ Identitätskategorien Geschlecht, Ethnizität, soziale Klasse, Religion und Alter (S. Hall, 2017, S. 1564) auch andere, kontextabhängige Kategorien, etwa das Eingebundensein in nachbarschaftliche Netzwerke oder der Kontakt zur Familie, bestimmend für Lebenslagen im höheren Alter sein können. Nun ist es nicht überraschend, dass beispielsweise in Bezug auf die Umzugsbereitschaft im höheren Alter, Faktoren wie die Größe der Wohnung oder eine barrierefreie Ausstattung zentral sind und dass diese nicht als Identitätskategorien verstanden werden. Allerdings regt die Tatsache, dass in allen drei Fallbeispielen soziale Beziehungen für Lebenslagen im Alter von Bedeutung sind, durchaus zum Nachdenken darüber an, welche Kategorien in der Intersektionalitätsforschung als wirkmächtige Kategorien für Ungleichheiten verstanden werden und welche Kategorien außer Acht gelassen werden.

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Innerhalb der Intersektionalitätsforschung ist nicht unumstritten, welche Kategorien in die Analyse zur Entstehung von Machtverhältnissen einbezogen werden und die Debatten bewegen sich im Spannungsfeld zwischen dem empirisch Machbaren und konzeptionell Fassbaren (vlg. McCall, 2005). Es wird zwar stets postuliert, dass intersektionale Forschung offen für die Erweiterung der einzubeziehenden Faktoren sei (Lutz, 2002; Lutz & Wenning, 2001; Winker & Degele, 2015) und die Liste der Faktoren prinzipiell endlos ist (Yuval-Davis, 2006, S. 202). Trotzdem haben es die Kategorien race, class und gender zu einer gewissen Etabliertheit gebracht und werden nahezu standardmäßig als erklärende Parameter eingesetzt. Dies lässt sich vermutlich auch mit der Entstehungsgeschichte der Intersektionalitätsforschung im US-amerikanischen Kontext der 1980er Jahre sowie mit der Nähe der Forschungsrichtung zu sozialen Bewegungen begründen. Die prominenten Kategorien intersektionaler Forschung lassen sich als identitätsbasierte Einheiten beschreiben, die in nicht zu unterschätzendem Maße von Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen aus der entsprechenden Gruppe heraus ausgearbeitet wurden (Doetsch-Kidder, 2012, S. ix).

Dass die Faktoren Alter und (Dis-)Ability deutlich seltener in intersektionale Analysen einbezogen werden, könnte in diesem Zusammenhang auch als Konsequenz einer weniger starken Interessensvertretung gelesen werden. Diese ist im Fall der Kategorie

„höheres Alter“ vermutlich nicht zuletzt dadurch bedingt, dass es immer die anderen sind, die als alt wahrgenommen werden (Pain et al., 2000; van Dyk, 2015b).

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Faktoren, auf die stets rekurriert wird, tatsächlich in jedem Kontext und für jede Fragestellung die plausibelsten Einflussfaktoren sind. Eine gewissen Unsicherheit über die Auswahl der Faktoren zeigt sich in den Diskursen intersektionaler Forschung selbst, wenn etwa von

„interrelationships of gender, class, race and ethnicity and other social divisions“

gesprochen wird (Yuval-Davis, 2006, p. 194, Hervorhebung der Autorin) oder ganze vierzehn Achsen der Differenz aufgemacht werden (Lutz & Wenning, 2001). Man könnte nun argumentieren, dass es nicht das Ziel intersektionaler Forschung ist, eine umfassende Auflistung von benachteiligenden oder begünstigenden Faktoren zu erstellen, sondern der Schwerpunkt auf der Analyse der Machtgefüge hinter sozialen Ungleichheiten liegt (McCall, 2005). Andere Autor*innen bemerken jedoch kritisch, dass es immer wieder dieselben Kategorien sind – nämlich Geschlecht, soziale Klasse und Ethnizität – auf denen intersektionale Analysen basieren, während andere

173 Kategorien außer Acht gelassen werden (Calasanti, 1996; Fanshawe & Sriskandarajah, 2010). Zu dieser Überlegung können zwei Erkenntnisse der vorliegenden Arbeit Anregungen liefern: die Verknüpfung intersektionaler Ansätze mit dem Konzept der Superdiversität und die Offenheit einer räumlichen Perspektive für Einflussfaktoren jenseits der etablierten Kategorien intersektionaler Forschung.

Die Verknüpfung von intersektionalen und superdiversen Ansätzen

Nach Gabriele Winker und Nina Degele (2015, S. 15) ist es ein wesentliches Anliegen intersektionaler Forschung „kontextspezifische, gegenstandsbezogene und an sozialen Praxen ansetzende Wechselwirkungen ungleichheitsgenerierender Strukturen (d.h.

von Herrschaftsverhältnissen), symbolischer Repräsentationen und Identitätskonstruktionen“ zu identifizieren. Demnach geht es intersektionaler Forschung um die Analyse der Verwobenheit von Kategorien, die zu Benachteiligungen und Privilegien führen können. Vor diesem Hintergrund wird auf Basis der Erkenntnisse dieser Arbeit dafür plädiert, innerhalb der intersektionalen Forschung eine größere Offenheit für Faktoren zu gewährleisten, die außerhalb der eigenen Identität liegen und in größerem Maße kontextabhängig sind als die etablierten Kategorien Geschlecht, sexuelle Orientierung, Alter, Ethnizität, soziale Klasse oder (Dis-)Ability. Für die Stärkung kontextabhängiger Kategorien in der intersektionalen Forschung kann das Einbeziehen des Konzepts Superdiversität, wie es in Kapitel 3.2 der Arbeit vorgeschlagen wurde, ein hilfreicher Zugang sein. Zunächst in Hinblick auf die vielfältigen Lebenslagen von Migrant*innen in Großbritannien entwickelt (Vertovec, 2007), bringt Superdiversität neben Kategorien wie Ethnizität, Herkunftsregion, Geschlecht und soziale Klasse auch stärker kontextabhängige Faktoren wie etwa den Rechtsstatus einer eingewanderten Person, die Anerkennung von Bildungsabschlüssen, das gesellschaftspolitische Klima im Aufnahmeland oder den Grund für eine Migrationsentscheidung in die Analysen mit ein. Die Überlegungen zum Umgang von Institutionen mit der Komplexität von Diversität im höheren Alter aus Kapitel 3.2 verdeutlichen, dass ein superdiverser Ansatz, der über etablierte Differenzkategorien hinaus geht, lohnend sein kann, um die Ursachen für Problemlagen und Benachteiligungen zu identifizieren.

Im Zusammenhang mit der Kategorie höheres Alter wird die Forderung nach einem Verständnis von Benachteiligungen und Privilegien als kontextabhängig (Valentine,

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2007; Winker & Degele, 2015) besonders relevant. Durch die Kontextualisierung von Ungleichheiten, die sich über den Lebensverlauf verändern (können), trägt die Kategorie Alter das Potential in sich, die Zeitlichkeit in intersektionales Denken zu integrieren (van Dyk, 2017). Gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen können sich über die Spanne eines Menschenlebens wandeln und vormals benachteiligende (oder privilegierende) Faktoren ihren Einfluss verlieren oder erst als solche erwachsen. Im Kontext dieser Arbeit ließe sich eine solche Veränderung der Kontextfaktoren verschiedentlich in den Biographien älterer Menschen nachzeichnen:

Bei ehemaligen Gast- und Vertragsarbeiter*innen beispielsweise in Hinblick auf den Aufenthaltsstatus und die gesellschaftliche Wahrnehmung als Arbeiter*in oder Migrant*in, bei Einwohner*innen Ost-Berlins der ehemaligen DDR mit einem politischen Systemwechsel und veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen oder bei homosexuellen Älteren mit einer Veränderung des gesellschaftlichen Umgangs mit Homosexualität als Straftat hin zu einer größeren Akzeptanz. Wie keine andere Identitätskategorie spricht die Kategorie Alter durch ihre Verbundenheit mit bereits gelebter Zeit die räumliche und zeitliche Situiertheit von Privilegien und Benachteiligungen an. Eine Verknüpfung von intersektionalen und superdiversen Ansätzen könnte einen Weg bieten, dieser Situiertheit gerecht zu werden, und die Kontextualität von Machtverhältnissen anzuerkennen.

Die Offenheit einer räumlichen Perspektive

Eine zweite Erkenntnis dieser Arbeit, die das Nachdenken über die in intersektionaler Forschung zu berücksichtigenden Faktoren bereichern kann, ist die Offenheit einer räumlichen Perspektive für die Identifikation von alternativen Einflusskategorien.

Wenn ein bestimmter Raum oder ein Raumkonzept den Ausgangspunkt intersektionaler Analysen bildet, und nicht eine Identitätskategorie oder eine Situation der Diskriminierung, bleibt der Blick offen für Zusammenhänge jenseits der

„konventionalisierten Kategorien“ (S. Hall, 2017, S. 1564). Damit kann der Fallstrick intersektionaler Forschung vermieden werden, dass von vornherein bestimmten Kategorien Bedeutung zugewiesen wird (vgl. McMullin, 2000). Kapitel 4 dieser Arbeit über das Alter als eine vergessene Kategorie intersektionaler Analysen zeigt auf der konzeptionellen Ebene, dass das Einbeziehen beziehungsweise Stärken einer vernachlässigten Kategorie das Nachdenken über Machtstrukturen verändern kann.

175 Zudem weisen die empirischen Erkenntnisse aus Kapitel 5 auf alternative Einflussfaktoren für Ungleichheiten im Alter hin. Insbesondere das Vorhandensein oder die Abwesenheit von sozialen Netzwerke erwies sich in allen drei Beispielen als zentral: als Prämisse für die Nutzung von Parks und Grünflächen, als möglicher Grund für einen Umzug im Alter und als Hintergrund für die Intensivierung nachbarschaftlicher Kontakte, wenn familiäre Netzwerke in der Nähe fehlen. Nun sind soziale Netzwerke lediglich ein weiterer Einflussfaktor, der das Nachdenken über Diversität nicht komplett verändert. Jedoch geben die Erkenntnisse Aufschluss über die Denkrichtung von Analysen: Wäre die Forschung nicht von räumlichen Phänomenen wie Parknutzung, Umzugsvorhaben und Nachbarschaftsbeziehungen ausgehend, sondern von einer bestimmten Kategorie aus gedacht worden, wären vermutlich andere Schlüsse aus den Ergebnissen gezogen worden. Wenn eine soziale Gruppe den Fokus der Forschung bildet, werden die Ergebnisse auch auf diese Gruppe gerichtet interpretiert. Wenn der Ausgangspunkt hingegen ein Raum und das dort beobachtete Verhalten ist, bleibt der Fokus offener und es besteht mehr Freiraum für das Denken möglicher Zusammenhänge. Die empirischen Beispiele aus Kapitel 5 zeigen, dass es sich lohnt, Diversität quer zu den etablierten Kategorien intersektionaler Forschung zu denken. Wenn Unterschiede in sozialer Einbindung oder dem Wohnstandort die Lebensqualität älterer Menschen in der Stadt prägen, sollten diese auch als potenziell maßgeblich für das Entstehen von Ungleichheiten berücksichtigt werden. Eine Offenheit für unterschiedliche Einflussfaktoren auf intersektionale Zusammenhänge beizubehalten, darin liegt ein wesentlicher Mehrwert der räumlichen Perspektive.