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Diversität im Alter durch den Raum sehen

6.1 Konzeptionell-methodologische Implikationen

6.1.1 Diversität im Alter durch den Raum sehen

Es ist ein etablierter Gedanke in humangeographischen Ansätzen, dass das Räumliche und das Soziale in einem engen Austausch stehen (Lefebvre, 1991). Arbeiten zu Alterssegregation (Hagestad & Uhlenberg, 2005; McHugh, 2007; C. Oliver et al., 2018), zur Abgrenzung von anderen auf Basis von Geschlecht, sozialer Klasse oder des Alters (Marhánková, 2014; Pain et al., 2000), zur Verhandlung des Alters (bspw.

Enßle & Helbrecht, 2018; Hopkins & Pain, 2007) oder zur Aushandlung verschiedener Identitäten durch Räume (Valentine, 2007) sind nur einige Beispiele dafür, wie der Raum als Prisma auf soziale Phänomene verwendet wird. Für das zentrale Ziel dieser Arbeit, das Zusammenspiel von Diversität und Alter näher zu ergründen, erweisen sich drei Erkenntnisse als instruktiv:

Erstens eröffnet eine räumliche Perspektive vor dem Hintergrund des Doppelcharakters von Alter als Kategorie und Prozess (van Dyk, 2015a, 2015b) Zugriffspunkte auf das Zusammenspiel von Diversität und Alter in seiner Zeitlichkeit.

Die Fluidität des Prozesscharakters macht es schwer, das Alter als Kategorie zu fassen.

Die Frage, ob sich ein bestimmtes Phänomen durch die Zugehörigkeit zur Gruppe „die Älteren“ erklären lässt, oder durch die biographische Prägung einer bestimmten Kohorte stellt die Forschung zu Lebenslagen im Alter bis heute vor große Herausforderungen (van Dyk, 2015a). Eine räumliche Perspektive kann dieses Dilemma nicht lösen, allerdings können Räume als „Fixpunkte“ den Zugriff auf den fluiden Prozesscharakter des Alterns erleichtern. Dies soll das folgende Beispiel verdeutlichen: Das in Kapitel 3.1 vorgestellte Altersbild der „working elders“ wird über die Präsenz älterer Menschen als Arbeitende an Orten wie Spätkauf-Läden oder Restaurants greifbar. Der schleichende Übergang von der Wahrnehmung der Präsenz einer Person an einem Arbeitsort als „normal“ bis hin zu außergewöhnlich aufgrund des hohen Alters wird maßgeblich durch den Prozesscharakter des Alters (van Dyk,

169 2015b, 2015a) bestimmt. Die Routinen der*s Einzelnen mögen sich über die Jahre hinweg wenig verändert haben, aber die vergangene Zeit, der Prozess des Alterns, führt dazu, dass Tätigkeiten anders eingeordnet werden. Es ist der Arbeitsort als konstanter Fixpunkt, der die Prozesshaftigkeit des Alters und die Verflochtenheit der aktuellen Situation mit bereits gelebter Zeit sichtbar macht. In der Empirie dieser Arbeit sind die Vertreter*innen des Altersbilds „working elders“ vorwiegend ältere Migrant*innen, die es versäumt haben, eine Rentenversicherung abzuschließen.

Biographische Ereignisse bedingt durch strukturelle Ungleichheiten und persönliche Entscheidungen, in diesem Fall das Versäumnis eine Rentenversicherung abzuschließen, prägen die Lebenssituation heute. Das Alter ist demnach nicht nur im Verhältnis zu jüngeren Generationen, sondern auch im Verhältnis zur eigenen Biographie zu sehen. Diese „doppelte Relationierung“ des Alters „in synchroner Relation zu den nicht alterskodierten mittleren Lebensjahren sowie in diachroner Relation zur Vergangenheit eines Jeden“ (van Dyk, 2015b, S. 209) lässt das Alter als eine äußerst komplexe Kategorie erscheinen. Die Erkenntnisse dieser Arbeit zeigen, dass konkrete Räume, hier Orte der Arbeit, hilfreiche Zugriffspunkte schaffen können, um diese doppelte Relationierung trotz der Fluidität der Kategorie Alter fassbar und einer Analyse zugänglich zu machen.

Zweitens erlaubt eine räumliche Perspektive Einblicke in die Aushandlung des Alters, etwa wenn Altersbilder über den Raum sichtbar gemacht und nach außen kommuniziert werden. Das Altersbild „shared memories“ beispielsweise, das im Austausch mit Personen mit ähnlichen biographischen Erfahrungen entsteht (vgl.

Kapitel 3.1), lebt maßgeblich von der Konstruktion gemeinsamer sozialer Räume.

Geteilte Erfahrungen und Erinnerungen, die im konkreten Fall etwa über Lieder in russischsprachigen Chören oder über Gerichte in polnischen Kochrunden transportiert werden, manifestieren sich in einem spezifischen Raum und schaffen eine gemeinsame Identität. Auch die schwul-lesbische Theatergruppe der „Rosa Falten“ (Fokusgruppe II) kreiert durch die dramaturgische Arbeit mit geteilten Erfahrungen und Erinnerungen einen spezifischen Raum, der Identitäten und Zugehörigkeitsgefühle festigt. Um mit Gill Valentine (2007) zu sprechen: ‘‘who we are’’ emerges in interactions within specific spatial contexts“.

Drittens ermöglichen nicht nur konkrete Räume, sondern auch Raumkonzepte den Blick auf das Zusammenspiel von Diversität und Alter. In dieser Arbeit stehen dafür

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beispielhaft die Konzepte von räumlicher Nähe und Distanz (vgl. Kapitel 5.3).

Bestehende Forschung verweist darauf, dass geographische Distanz zwischen Familien ein Grund für die Suche nach alternativen Sorgesystemen sein kann (Conkova & King, 2019), während räumliche Nähe gleichzeitig die Entwicklung von unverbindlichen Kontakten mit Unbekannten ermöglicht (Granovetter, 1973; Nocon

& Pearson, 2000). An diese Erkenntnisse anknüpfend zeigen die empirischen Ergebnisse dieser Arbeit, dass über die räumliche Nähe, welche nachbarschaftlichen Beziehungen inhärent ist, räumliche Distanz in familiären Netzwerken (oder das Fehlen familiärer Netzwerke) kompensiert werden kann. Auf einer größeren Ebene wird damit gezeigt, dass über die Blickwinkel der Konzepte Nähe und Distanz Einblicke in den Wandel sozialer Netzwerke im Alter gewonnen und Erklärungsmuster für die Beschaffenheit dieser Netzwerke abgeleitet werden können.

Nun ist es, wie eingangs erwähnt, für die Humangeographie nichts Neues, soziale Phänomene räumlich zu denken und den Raum als sozial konstruierte Entität zu fassen.

Allerdings könnte ein wesentlicher Beitrag der Fachrichtung Altersgeographie sein, mit dieser Einsicht etwas zur Aufarbeitung der Wissenslücke zum Zusammenspiel von Diversität und Alter beizutragen. Der Problemkomplex Diversität und Alter liegt an der Schnittstelle zweier Disziplinen, die zu vereinen als große Herausforderung, wenn nicht gar als unmöglich, verstanden wird (McMullin, 2000). Das Aufeinandertreffen der Altersforschung, die noch immer als „data rich but theory poor“ gilt (Birren &

Bengtson, 1988; van Dyk, 2015b), mit der konzeptionell und theoretisch informierten Diversitäts- und Intersektionalitätsforschung (für einen Überblick siehe McCall, 2005) hat bislang zwar zu einer besseren Dokumentation von Diversität im Alter beigetragen, aber kaum zur Weiterentwicklung von konzeptionellen Ansätzen geführt (Calasanti, 1996; Enßle & Helbrecht, 2018). Die Altersgeographie, die sich bislang insbesondere auf anwendungsorientierte Forschung konzentriert (G. J. Andrews et al., 2009; Enßle

& Helbrecht, 2018; Skinner et al., 2015), könnte hier eine Vorreiterrolle einnehmen und die Forschungslücke bearbeiten, sofern bestehende konzeptionelle Überlegungen zu Alter und Raum (bspw. Hopkins & Pain, 2007; Schwanen, Hardill, & Lucas, 2012) tiefer im Fachbereich Altersgeographie verankert und als leitend begriffen würden.

Abbildung 13 fasst die in dieser Arbeit entwickelten räumlichen Zugänge zum Zusammenspiel von Diversität und Alter noch einmal zusammen.

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Abbildung 13:Die räumliche Perspektive als Zugangspunkt zum Zusammenspiel von Diversität und Alter. Quelle: Eigene Darstellung

6.1.2 Diversität quer denken: Räume als Ausgangspunkte intersektionaler