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Diskussion: Betrachtung der Ergebnisdarstellung im Hinblick auf die Erkenntnisse des ersten

parlamentarischen und juristischen Aufklärung zur Rolle der akzeptierenden Jugendarbeit im

7 Diskussion: Betrachtung der Ergebnisdarstellung im Hinblick auf die Erkenntnisse des ersten

7 Diskussion: Betrachtung der Ergebnisdarstellung

Die hier folgende Diskussion kann nicht erneut alle Erkenntnisse der Ergeb-nisdarstellung betrachten, weshalb eine Fokussierung auf die zuvor formu-lierten Erkenntnisse erfolgt, die als besonders bedeutsam angesehen werden.

Dazu werden im Folgenden die zusammengefassten Ergebnisse mit den theoretischen und methodischen Überlegungen der dargestellten zeitgenös-sischen Fachdebatte und des Forschungsstandes kontrastiert, um weitere Perspektiven auf die differenzierte Fragestellung zu formulieren.

Wie bereits erläutert, zeigt die Ergebnisdarstellung der Interviews, dass dort eine Abstrahierung vom Ansatz der akzeptierenden Jugendarbeit auf gene-relle Herausforderungen der Sozialen Arbeit beobachtet werden kann. Hier-bei wird eine Parallele zu der Fachdebatte aus den 1990er Jahren deutlich.

Auch in dieser ging es nicht nur um die Auseinandersetzung mit dem Ansatz der akzeptierenden Jugendarbeit im Speziellen, sondern wurden generelle Fragen in Bezug auf die Soziale Arbeit diskutiert und es wurde verhandelt, mit welchem Arbeitsauftrag die Soziale Arbeit im Kontext des Rechtsextre-mismus adressiert wird. Grundsätzliche Fragen stehen auch heute wieder zur Debatte.42 Bemängelt wird dabei nicht nur ein fehlendes politisches Selbst-verständnis der Sozialen Arbeit, sondern auch eine mangelnde konfliktorien-tierte Haltung sowie eine Über- und Unterschätzung der Sozialen Arbeit im Allgemeinen. In der Abstraktion von der akzeptierenden Jugendarbeit ist gleichzeitig auch ein Unterschied zur Kritik an der akzeptierenden Jugend-arbeit aus den 1990er Jahren sichtbar. Herausgehoben wird von den Ex-pert*innen nämlich, dass auch im Hinblick auf den Handlungsbereich der Sozialen Arbeit vor allem ein selbstkritischer und reflexiver Blick auf das sozialarbeiterische Handeln benötigt werde. Die Notwendigkeit dessen ist umso aufschlussreicher, wenn die Einschätzung vergegenwärtigt wird, dass ein fehlendes Umdenken in der Haltung gegenüber rechten Jugendlichen existiert und somit eine gewisse Kontinuität der akzeptierenden Jugendarbeit vorhanden ist. Die kollektiven Deutungen aus den Interviews sowie die zeit-genössische Fachdebatte aus den 1990er Jahren belegen zwar eindrücklich, dass eine breite Debatte über die akzeptierende Jugendarbeit stattgefunden hat, in dieser jedoch keine selbstkritische Perspektive auf das eigene Handeln und die eigene Haltung verhandelt wurde. Dieser reflexive Blick zeigt sich in

42 Die interpretierte Annahme, dass der NSU-Komplex die Soziale Arbeit im Grundsatz be-trifft, ist in Kapitel 6.3.2 herausgearbeitet worden.

den Deutungen über die akzeptierende Jugendarbeit aktuell sehr stark und kann am Beispiel der Kategorie Geschlecht illustriert werden. Auch in der zeitgenössischen Debatte wurde problematisiert, dass die Projekte, die im Rahmen des AgAG gefördert wurden und akzeptierend arbeiteten, vor allem männliche Personen fokussierten und sich nur ein Bruchteil an Mädchen oder junge Frauen richtete (vgl. Deutscher Bundestag 1993: 13). Der gender-sensible Blick ist auch heute noch präsent, fokussiert dabei jedoch nicht nur die Zielgruppe, sondern zielt auch auf eigene vergeschlechtlichte Haltungen und internalisierte geschlechterstereotype Bilder der Sozialarbeiter*innen.

Die selbstreflexive Betrachtung verläuft jedoch nicht nur auf der individuel-len Ebene, sondern setzt sich auch mit Institutionen und der strukturelindividuel-len Zusammensetzung der Sozialen Arbeit auseinander.43 Es kann somit einer-seits konstatiert werden, dass auch in den 1990er Jahren nicht nur die akzep-tierende Jugendarbeit, sondern zudem allgemeine Herausforderungen der Sozialen Arbeit verhandelt wurden. Andererseits wird erkennbar, dass die Kritik heute von der Suche nach einem selbstkritischen Blick auf das eigene Handeln geprägt ist, der bis dato zu wenig auf sozialarbeiterische Praxen und auf die institutionelle Ebene der Sozialen Arbeit geworfen wurde.

Die Abstrahierung vom Gegenstand der akzeptierenden Jugendarbeit zu generellen Herausforderungen der Sozialen Arbeit wird auch durch die ver-änderte Kritik an der akzeptierenden Jugendarbeit deutlich. Dabei muss zunächst betont werden, dass die Interpretation der Interviews zeigt, inwie-fern die aktuelle Kritik selbst in eine Kontinuität zu der Kritik in den 1990ern gesetzt wird. Verallgemeinernd kann festgestellt werden, dass sich die gegenwärtige Kritik an der akzeptierenden Jugendarbeit selbst in einen historischen Kontext setzt und eine Brücke zur zeitgenössischen Fachdebatte in den 1990er Jahren schlägt. Im Hinblick auf die Fragestellung bedeutet dies, dass die aktuellen Deutungen über die Rolle der akzeptierenden Ju-gendarbeit bei der Entstehung des NSU-Komplexes nicht ohne die Kritik und die Fachdebatte aus den 1990er Jahren betrachtet werden können. Auch wenn sich die Kritik augenblicklich anders gestaltet, existieren eindeutige Verbindungslinien. Denn der Blick auf die akzeptierende Jugendarbeit wird aktuell enorm von Fragen des Rassismus und der Migration geprägt. Dies wird insbesondere in der Auseinandersetzung mit der Zielgruppe der rechten

43 Vgl. Kapitel 6.3.4.

Jugendlichen deutlich.44 Hier muss zwar im Kontext der pädagogischen Fachdebatte der 1990er Jahre darauf verwiesen werden, dass auch schon damals die fehlende Betroffenenperspektive im Ansatz der akzeptierenden Jugendarbeit problematisiert und dabei auch teilweise die bedenklichen Aus-wirkungen für nicht-weiße Personen benannt wurden (vgl. Deutscher Bun-destag 1993: 13). Die Kritik heute ist dennoch eine andere. Der Fokus auf Personen, die von Rassismus betroffen sind, ist aktuell viel stärker wahr-nehmbar. Zugleich zeigt sich dadurch, welche Lücken damals bei der Kritik an der akzeptierenden Jugendarbeit im Hinblick auf die Perspektive der Betroffenen existierten. Wie bereits ausgeführt, resultiert diese veränderte Akzentsetzung der Kritik nicht aus den Erkenntnissen des NSU-Komplexes, sondern aus den migrationsgesellschaftlichen Prozessen der vergangenen Jahre. Die in Kapitel 4 formulierte Frage, welche Leerstellen deutlich wer-den, wenn die Kritik an der akzeptierenden Jugendarbeit vor und diejenige nach der Selbstenttarnung des NSU im Jahr 2011 in Beziehung gesetzt wer-den, muss somit ganz klar mit dem Hinweis versehen werwer-den, dass das Ereignis der Selbstenttarnung kein prägendes Moment darstellt. Es wird viel-mehr deutlich, dass der Blick auf die akzeptierende Jugendarbeit durch den NSU-Komplex nicht korrigiert oder verändert wurde, sondern momentan vor allem von der Auseinandersetzung mit den Themenfeldern Migration und Rassismus bestimmt wird. Gleichzeitig wird hier erneut sichtbar, dass die Deutungen über die akzeptierende Jugendarbeit nicht nur diesen Ansatz betreffen, sondern allgemeine gesellschaftliche Fragen rund um die Ausge-staltung der Sozialen Arbeit verhandeln. So untermauert auch die aktuelle Kritik an der akzeptierenden Jugendarbeit die Interpretation, dass es, wenn sich die Soziale Arbeit mit dem NSU-Komplex konfrontiert, um grundsätzli-che Fragen geht.

Durch die Interviews mit den Expert*innen konnten zahlreiche Deutungen interpretiert werden, die unterschiedliche Formen des Wissens auf den Gegenstand der vorliegenden Arbeit beinhalten. Dies besitzt insbesondere für die verwendete Methode des Expert*inneninterviews eine

44 Vgl. Kapitel 6.2.3.

keit.45 Im Hinblick auf die Ergebnisse aus Kapitel 6.1, zeigt sich, dass bei den Expert*innen an vielen Stellen ein Prozesswissen erkennbar ist. Dies wird durch die vorhandenen Berührungspunkte mit dem NSU sowie durch die Sozialisation der Expert*innen in den 1990ern sichtbar. Neben diesem Prozesswissen zeigt sich in der Ergebnisdarstellung vielfach ein Deutungs-wissen der Expert*innen. Durch die Interpretation der Interviews wurden zahlreiche subjektive Einschätzungen, Sichtweisen und Erklärungen und damit Zugänge offengelegt, die charakteristisch für diese Form des Wissens sind (vgl. Bogner et al. 2014: 18f.).

Besonders interessant ist dabei das kollektive Deutungswissen, welches sich durch gemeinsam geteilte Einschätzungen abbildet. Dieses kann insbeson-dere aus den gesellschaftlich-politischen Erklärungen für die Entstehung des NSU-Komplexes herausgearbeitet werden, in denen gleichzeitig die Leer-stelle des analytischen Wissens über die Rolle der akzeptierenden Jugendar-beit im NSU-Komplex innerhalb der Sozialen ArJugendar-beit sichtbar wird. Die Form des kollektiven Deutungswissens zeigt sich auch in der entscheidenden Annahme, dass der NSU-Komplex die Soziale Arbeit im Grundsatz betrifft.

Die Interpretation der Interviews verdeutlicht, dass die Auseinandersetzung der Sozialen Arbeit mit der Rolle der akzeptierenden Jugendarbeit bei der Entstehung des NSU-Komplexes bis dato als marginal bezeichnet werden kann. Dabei handelt es sich auch um ein kollektives Deutungswissen, dass das fehlende analytische Wissen zu diesem Gegenstand durchaus ein Prob-lem darstellt. In Anlehnung an Bogner und Menz kann dieses fehlende ana-lytische Wissen genauer betrachtet werden. Anaana-lytisches Wissen kann einer-seits unter dem Begriff des technischen Wissens kategorisiert werden.

Bemängelt wird nämlich, dass kaum Informationen oder konkrete Fakten über den realen Einfluss der akzeptierenden Jugendarbeit auf die Entstehung des NSU-Komplexes vorhanden sind. Dies zeigt sich daran, dass zwar der Winzerclub und das Piccolo als Jugendclubs genannt werden, in denen die akzeptierende Jugendarbeit praktiziert wurde und Personen verkehrten, die dem NSU-Komplex zugerechnet werden. Wie oft diese die Räume jedoch

45 In Anlehnung an Bogner und Menz wurde im Kapitel 5.1 herausgestellt, dass der verwen-dete Begriff der*des Expert*in vor allem inhaltlich über die Form sowie Struktur des Wis-sens gefüllt wird. Dabei wird zwischen technischem Wissen, Prozess- und Deutungswissen unterschieden (vgl. Bogner/Menz 2009: 73f.).

besuchten, welche genaue Bedeutung die Orte für die Entstehung des NSU besaßen, ist nicht gesichert. Detailliertere Fragen nach der Funktion, der Gewichtung und den Auswirkungen der akzeptierenden Jugendarbeit im NSU-Komplex sind in der Sozialen Arbeit ungeklärt. Darüber hinaus gibt es auch keine weiteren Erkenntnisse darüber, ob noch weitere Jugendclubs im Alltag des NSU präsent gewesen sind, die seitens des AgAG finanziert wur-den. In Anbetracht der Tatsache, dass der NSU nicht nur aus einem Trio bestand, sondern vielmehr aus einem Netzwerk mit bundesweiten Unterstüt-zungsstrukturen und zahlreichen Mitwisser*innen, bildet dies einen wichti-gen Ausgangspunkt für weitere Beschäftigunwichti-gen. Das analytische Wissen kann andererseits auch als Deutungswissen interpretiert werden, wenn es darum geht, das technische Wissen unter einer professionstheoretischen Betrachtung zu analysieren und für die Praxisfelder der Sozialen Arbeit fruchtbar zu machen. Aus der Ergebnisdarstellung wird erkennbar, dass dazu an mehreren Stellen ein kollektives Deutungswissen bei den Expert*innen vorhanden ist. Die Annahme, dass es nicht nur um eine Auseinandersetzung mit der akzeptierenden Jugendarbeit gehen sollte, sondern der NSU-Komplex die Soziale Arbeit vielmehr im Grundsatz betrifft, kann als diese Form des Wissens charakterisiert werden. Dabei kristallisiert sich heraus, dass der Gegenstand mit einem professionstheoretischen Blick betrachtet wird, wenn die generelle Ausgestaltung der Sozialen Arbeit verhandelt, deren Funktion im NSU-Komplex ausgearbeitet und gleichzeitig der Schluss gezogen wird, dass ein selbstkritischer Blick auf Formen und Gewohnheiten der Sozialen Arbeit benötigt werde. An dieser Stelle wird jedoch auch ersichtlich, dass diesem Deutungswissen ein Ende gesetzt wird, wenn die Grundlagen des Wissens, welches analytisch betrachtet oder theoretisiert werden soll, nur marginal vorhanden sind. Die entscheidenden Betrachtungen und Schlüsse können demnach erst vollzogen werden, wenn genau gesichert und doku-mentiert ist, was sich in den 1990er Jahren in den Jugendclubs, denen der NSU-Komplex nahestand, abspielte. Dazu gehört eine Analyse der Haltungen der dort tätigen Sozialarbeiter*innen und die Frage, welche konkreten Handlungen die Dominanz der Rechten damals gefördert und unterstützt haben. Außerdem müsste eruiert werden, welche Dimension die staatliche Finanzierung durch das AgAG in den Jugendclubs eingenommen hat und welche Zusammenhänge dabei zu der Entstehung des NSU-Komplexes exis-tieren. Obwohl in der zeitgenössischen Fachdebatte eine immense Kritik an

der akzeptierenden Jugendarbeit dokumentiert ist, in die auch Erfahrungen und Eindrücke aus den Jugendclubs einfließen, wird ersichtlich, dass mehr als zwanzig Jahre später Fragezeichen die Betrachtung der akzeptierenden Jugendarbeit dominieren, wenn diese im Kontext des NSU-Komplexes betrachtet wird.

Die Beschäftigung mit dem analytischen Wissen gibt einen Eindruck darin, wie viele Fragen offen und unbeantwortet sind. Bei der Betrachtung dieser offenen Fragen und auch im Hinblick auf die vorhandenen Wissensformen in der Ergebnisdarstellung, sollte erneut auf die Bedeutsamkeit des bewegungs-politischen und aktivistischen Feldes hingewiesen werden. Diese wird einer-seits seitens der Expert*innen in den Interviews herausgehoben, anderereiner-seits zeigen sich im Hinblick auf die Fachdebatte rund um die akzeptierende Jugendarbeit in den 1990er Jahren interessante Anknüpfungspunkte. Denn auch in der damaligen Debatte wurde das Wissen aus antifaschistischen Gruppen und von Aktivist*innen in seiner Geltung betont. Diese waren mit die ersten, die auf die durch die akzeptierende Jugendarbeit problematischen Situationen in den Jugendclubs aufmerksam machten und zugleich die gene-relle Ausrichtung und Ausstattung des AgAG kritisierten. An der Debatte waren zwar auch Praktiker*innen aus der Sozialen Arbeit beteiligt, vielfach wurden kritische Impulse jedoch von anderen Wissensorten aus, wie z. B.

des Journalismus oder der Politik, formuliert. Wenn der Blick auf die Gegen-wart gerichtet wird, dokumentiert sich eine Parallele: Obwohl die Ergebnis-darstellung der Interviews sowie die Forschungsliteratur zeigen, dass davon ausgegangen wird, dass der NSU-Komplex eine Bedeutsamkeit für die Sozi-ale Arbeit besitzt, sind bis dato öffentliche Reaktionen auf das Wissen, wel-ches seit der Selbstenttarnung des NSU generiert wurde, von Seiten der Sozi-alen Arbeit ausgeblieben. Die Interviews verdeutlichen, dass der NSU in der Vergangenheit in Lehre und Ausbildung von Sozialarbeiter*innen zwar eine Rolle spielte, eine generelle Debatte jedoch nicht stattfand. Dieser Ist-Zustand wird von den Expert*innen problematisiert und kritisiert.

Wie in den 1990er Jahren nehmen auch seit 2011 andere Orte jenseits der Sozialen Arbeit eine wichtige Funktion in der Wissensgenerierung ein. Die dargestellte Forschungsliteratur zeigt, dass der Artikel der Journalistin Heike Kleffner zum NSU-Komplex und der Sozialen Arbeit einen wichtigen Stel-lenwert besitzt. In diesem Artikel wird auf das Wissen eingegangen, welches im Rahmen der juristischen und parlamentarischen Aufklärung im

NSU-Prozess und den Untersuchungsausschüssen generiert wurde. Durch die Arbeit der Aktivist*innen von NSU-Watch kann der Forschungsstand auf die Aussagen von Zeug*innen bezogen werden, die im NSU-Prozess eigene Erfahrungen, die sie im Winzerclub gemacht haben, schildern und damit Ein-drücke aus der Praxis der akzeptierenden Jugendarbeit im Kontext des NSU-Komplexes geben. Zudem wird von Wissenschaftler*innen aus der Soziolo-gie und der Geschlechterforschung bei der Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex die akzeptierende Jugendarbeit am Rande thematisiert. Dies trifft auch auf Aktivist*innen des NSU-Tribunals zu, die die Bedeutung der akzeptierenden Jugendarbeit in ihrer Anklageschrift herausstellen. Es lässt sich somit konstatieren, dass ähnlich wie in der Fachdebatte in den 1990er Jahren die Soziale Arbeit auch bei der Beschäftigung mit dem NSU-Komplex nicht als stark sichtbare Diskursakteurin auftritt.

Wenn die Debatten aus den 1990er Jahren und von heute kontrastierend betrachtet werden, sind trotz Parallelen auch Unterschiede sichtbar: In der Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex wird die Bedeutung des migran-tisch situierten Wissens und die Perspektive der Betroffenen hervorgehoben.

Migrantische Stimmen sind in der Auseinandersetzung mit dem NSU-Kom-plex wahrnehmbar und werden in ihrer Bedeutung für die Aufarbeitung und Aufklärung betont. Dabei wird eine Leerstelle deutlich, die bereits in der Ergebnisdarstellung kurz angerissen wurde. So wird von den Expert*innen herausgehoben, dass die Perspektive von Betroffenen des Rassismus oder des Antisemitismus innerhalb der Sozialen Arbeit nicht repräsentiert sei.

Auch die Betrachtung der Fachdebatte aus den 1990er Jahren und die darge-stellte Forschungsliteratur spiegelt dies wider. Nicht eine Quelle spricht dezi-diert aus einer (post-)migrantischen Perspektive über eigene Erfahrungen mit der akzeptierenden Jugendarbeit. Dies verwundert insbesondere unter dem Gesichtspunkt, dass damals wie heute die fehlende Fokussierung auf Betrof-fene von Rassismus und ihre fehlende Unterstützung als wichtige Kritik-punkte gegen die akzeptierende Jugendarbeit fungieren. Gleichzeitig zeigt sich hier erneut eine Abstraktion vom Gegenstand der akzeptierenden Jugendarbeit, denn es wird ersichtlich, dass die Beschäftigung der Sozialen Arbeit mit dem NSU-Komplex auch die migrationsgesellschaftliche Öffnung der Sozialen Arbeit verhandelt. Der selbstkritische Blick richtet sich also nicht nur auf sozialarbeiterische Haltungen und Handlungen, sondern auch

auf eigene Perspektiven und damit einhergehende Leerstellen und blinde Flecken.

Nicht-weiße Perspektiven und migrantisch situiertes Wissen nehmen in der kritischen Beschäftigung mit dem NSU-Komplex einen wichtigen Stellenwert ein. Dies wurde in dem ersten Sinnabschnitt anhand der Auseinandersetzung mit dem Begriff des NSU-Komplexes erläutert. Die Verwendung dieses Ter-minus exemplifiziert zudem, dass es sich bei den Taten des NSU nicht um Einzelfälle oder Pannen gehandelt hat, sondern hier vielmehr „allgemeine gesellschaftliche Verhältnisse“ (Karakayalı et al. 2017a: 17) sichtbar werden.

Die Abstraktion von Einzelfällen zeigt sich auch in den Deutungen der Expert*innen aus der Sozialen Arbeit über die Rolle der akzeptierenden Jugendarbeit bei der Entstehung des NSU-Komplexes. Dabei ist wahrnehm-bar, dass es nicht darum geht, isoliert die einzelnen Sozialarbeiter*innen für das Scheitern der akzeptierenden Jugendarbeit und die problematischen Aus-wirkungen des AgAG verantwortlich zu machen. Nur am Rande dreht es sich um einzelne Jugendclubs, wie das Piccolo oder den Winzerclub. Vielmehr wird auf die Bedeutung der Gesellschaft und der Politik verwiesen.

Dabei ist auch interessant, dass sich keine der Expert*innen explizit auf die Person Wilhelm Heitmeyer und dessen Desintegrations-Theorem bezieht.

Die Deutungen über die akzeptierende Jugendarbeit thematisieren demnach eher professionstheoretische Aspekte und Überlegungen im Hinblick auf die Ausgestaltung Sozialer Arbeit, gehen aber nicht den theoretischen Voran-nahmen der akzeptierenden Jugendarbeit nach. Die Kritik an der Entpoliti-sierung des Rechtsextremismus durch die FokusEntpoliti-sierung auf rechtsextreme Jugendliche durch die akzeptierenden Jugendarbeit und das AgAG kann dennoch indirekt auch als Kritik an Heitmeyer interpretiert werden.46 Der erste Sinnabschnitt hat veranschaulicht, wie wirkmächtig Heitmeyers Über-legungen in den 1990er Jahren waren, wie diese den Diskurs über Gewalt

46 Wie in Kapitel 2.2 erläutert, geht dieser in seiner Theoretisierung davon aus, dass rechts-extreme Einstellungen unter Jugendlichen die Folgen von Desintegrationsprozessen und einer gescheiterten Identitätsbildung darstellen, die mit den ambivalenten Prozessen der Industriegesellschaft und den darin verhafteten Ohnmachts- und Vereinzelungserfahrungen einhergehen (vgl. Heitmeyer 1987: 88; vgl. Heitmeyer 1994: 49). Nicht das Eindämmen des rechtsextremen Denkens, sondern vor allem die Unterstützung in der Lebensgestaltung und die Probleme von rechten Jugendlichen stehen hier im Fokus (vgl. Buderus 1998:

115).

und Rechtsextremismus dominierten und inwieweit sie die Ausgestaltung und Modifikation der akzeptierenden Jugendarbeit in den 1990er Jahren prägten. Wie bereits erläutert, war auch die Konzeptualisierung des AgAG stark von Heitmeyers Annahmen dominiert. Die fehlende Thematisierung Heitmeyers seitens der Expert*innen der Sozialen Arbeit kann so interpre-tiert werden, dass sich hier ein selbstkritischer Blick zeigt, der vor allem die eigene Profession und nicht schuldzuweisend andere Wissenschaftsdiszipli-nen oder Wissenschaftler*inWissenschaftsdiszipli-nen adressiert. Erneut wird deutlich, dass es den Expert*innen nicht darum geht, einzelne Fehler oder Missstände im Ansatz der akzeptierenden Jugendarbeit zu behandeln, sondern vielmehr darum, einen umfassenden Blick auf das Selbstverständnis der Sozialen Arbeit und deren strukturelle Zusammensetzung zu werfen. In Anlehnung an Karakayalı, die davon spricht, dass sich „allgemeine gesellschaftliche Verhältnisse“

(Kayakalı et al. 2017a: 17) im NSU-Komplex zeigen, kann interpretiert wer-den, dass sich aus den Augen der Sozialen Arbeit im NSU-Komplex allge-meine Verhältnisse der Sozialen Arbeit dokumentieren, die jedoch nicht iso-liert betrachtet, sondern immer auch in der Wechselwirkung mit gesellschaft-lichen und politischen Prozessen analysiert werden müssen.

Die vollzogene Diskussion hat die Erkenntnisse aus dem ersten Sinnab-schnitt mit den wichtigsten Ergebnissen der Interviews kontrastiert. Dadurch wird erneut ersichtlich, dass in der Sozialen Arbeit ein Deutungswissen über den NSU-Komplex existiert, welches vom Gegenstand der akzeptierenden Jugendarbeit abstrahiert und sich mit generellen Herausforderungen der Sozialen Arbeit auseinandersetzt. Dies zeigt auch, dass trotz fehlender Prä-senz in der Öffentlichkeit und mangelnder eigener Diskursbeteiligung die Soziale Arbeit eine Bedeutsamkeit im NSU-Komplex besitzt. Dabei wird auch darauf eingegangen, dass trotz dieser Erkenntnisse zahlreiche Fragen im Hinblick auf die Beteiligung der Sozialen Arbeit, insbesondere durch die Praxen der akzeptierenden Jugendarbeit, weiterhin unbeantwortet sind. Kon-statiert werden kann jedoch, dass aktuelle Deutungen über die akzeptierende Jugendarbeit nicht ohne die Kritik aus der Fachdebatte der 1990er Jahre interpretiert werden können, da nachweislich starke Verbindungslinien exis-tieren. Für eine Aufarbeitung des NSU-Komplexes in der Sozialen Arbeit wird dabei ein fehlendes analytisches Wissen attestiert, das perspektivisch inter- und transdisziplinär generiert werden müsste. Wie in der Fachdebatte vor über zwanzig Jahren, besitzen dabei Orte der situierten