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Im Rahmen dieser Arbeit sollte anhand von einem thermalen Verhaltensexperiment geklärt werden, ob die durch systemisch appliziertes Lidocain erzeugte Analgesie über spinale glyzinerge Mechanismen vermittelt ist.

Die Versuche wurden in vivo durchgeführt. Die in der Literatur beschriebenen vorangegangenen, in vitro durchgeführten Experimente (BENNETT und XIE, 1988;

BIELLA und SOTGIU, 1993; STEPHEN et al., 1994; NAGY und WOOLF, 1998) wurden in dieser Dissertationsschrift am sich frei bewegenden Tier nachvollzogen.

Die Ergebnisse aus Iontophorese und ähnlichen Versuchen sollten auf das ganze, lebende Tier übertragen werden.

Da die Versuche am wachen, nicht narkotisierten Tier durchgeführt wurden, konnte der physiologische Ablauf der Schmerztransmission beurteilt werden. WHITEHEAD et al. (2004) haben in ihrer Studie darauf hingewiesen, dass Untersuchungen zum Schmerzverhalten durch die Anwesenheit allgemein anästhesierender Substanzen die neuronale Aktivität, sowie die nozizeptive Stimulierung beim Tier beeinflussen und so einige der gemachten Beobachtungen nicht alle regulierenden Mechanismen widerspiegeln. Auch JONES et al. (2001) haben in ihrer in vitro durchgeführten Arbeit darauf hingewiesen, dass Faktoren, wie zum Beispiel Temperatur, Ionenverhältnisse in Rezeptornähe oder die Anwesenheit von anderen modulierenden Substanzen am wachen Tier mit hoher Wahrscheinlichkeit anders zu bewerten sind, als bei Versuchen, die in vitro durchgeführt wurden.

Die verwendeten Substanzen, die mittels des intrathekalen Katheters direkt an der Lumbalschwellung und so in der Region des Dorsalhorns appliziert werden konnten, sind selektive Agonisten sowie Antagonisten am NMDA-Rezeptor, sowie ein Antagonist am inhibitorischen Strychnin-sensitiven Glycinrezeptor.

In vorangegegangenen Studien hat sich gezeigt, dass selektive Antagonisten an den synergistischen Teilen der betroffenen Rezeptoren (NMDA- und inhibitorische Strychnin-sensitive Glycinrezeptoren) geringere Nebenwirkungen bei den Patienten

hervorrufen, als komplett blockierende Substanzen. Die Blut-Hirnschranke wird nicht passiert und eine Gewöhnung, wie zum Beispiel bei vergleichbaren Opioiden, bleibt aus. Es ist bewiesen, dass moderat wirkende, selektive Antagonisten bei chronischen Schmerzmodellen mehr Erleichterung für den Patienten schaffen, als Antagonisten, die den gesamten Rezeptor blocken. Auch das Zusammenspiel von Antagonisten und Teilen des NMDA-Rezeptors bei parietalen und viszeralen Schmerzen in der Peripherie sind möglicherweise in Zukunft ein Angriffspunkt einer effizienten Schmerztherapie (PARSONS, 2001).

Beide Rezeptoren, der NMDA-Rezeptor, sowie der inhibitorische strychnin-sensitive Glycinrezeptor spielen bei der Transmission von chronischen Schmerzen eine grosse Rolle, wobei ihre Aktivierung und die Hintergründe einer selektiven oder gekoppelten Beeinflussung nicht genau geklärt sind.

Glycin ist einer der wichtigsten inhibitorischen Neurotransmitter im zentralen Nervensytem. AHMADI et al. (2003) haben in ihrer Arbeit festgestellt, dass Glycin als obligatorischer Co-Agonist am NMDA-Rezeptor in der chronischen Schmerzentwicklung eine sehr wichtige Rolle spielt. Somit wäre auch eine Beeinflussung der Glycinmenge ein möglicher Ansatz für eine effektivere Schmerztheraphie.

KISHIMOTO et al. (1981) und BECKER et al. (1988) haben bewiesen, dass der NMDA-Rezeptor eine höhere Affinität für Glycin hat als der inhibitorische strychnin-sensitive Glycinrezeptor. Die Ansprechbarkeit der Rezeptoren ist von der Glycinkonzentration im synaptischen Spalt abhängig. Glycin und Glutamat als Co-Agonisten müssen ausreichend vorhanden sein, um die Rezeptoren voll zu aktivieren. Der Glycintransport im Dorsalhorn des ZNS durch Typ 1 und 2 Glycintransporter hat ebenfalls Einfluss auf die Aktivierung der Rezeptoren. Es können entfernte Rezeptoren durch den oben erklärten „spillover“ (siehe Einleitung, S. 7) aktiviert werden. Durch Diffusion und gezielten Transport verlässt Glycin den synaptischen Spalt und steht so nicht mehr zur Aktivierung in der Nähe liegender Rezeptoren zur Verfügung.

Wirkung von Lidocain

Systemisch appliziertes niedrig dosiertes Lidocain ruft eine temporäre, reversible Analgesie hervor. Dies wurden in vielen vorangegangenen experimentellen und klinischen Versuchen bei Menschen und Tieren untersucht (MARCHETTINI et al., 1992; ABRAM und YAKSH, 1994; MAO und CHEN, 2000; SMITH et al., 2002;

ARAUJO et al., 2003 und FINNERUP et al., 2005). Die systemische, analgetische Wirkung des Lidocain konnte auch im Rahmen dieser Arbeit im neuropathischen Schmerzmodell bestätigt werden.

Es hemmt die NMDA- und Neurokinin-Rezeptor-vermittelte postsynaptische Depolarisation (NAGY und WOOLF, 1996), sowie die durch Glutamat evozierte Aktivität (BIELLA und SOTGIU, 1993) in bestimmten Hinterhornneuronen (WDR-Neurone). Es hat eine wie schon im Vorangegangen erklärte, zentralnervöse, inhibitorische Wirkung (STEPHEN et al., 1994).

Bei der Katalyse am Rezeptor hemmt Lidocain die Glutamatausschüttung und wirkt so inhibitorisch auf die Signalweiterleitung (BIELLA et al., 1993).

WALLACE et al. (2000) stellten fest, dass Lidocain vor allem bei Patienten mit neuropathischen Schmerzen Erleichterung verschaffen konnte. Bei Patienten mit akuten Schmerzen zeigte es keinerlei Wirkung. Er stellte die Vermutung auf, dass es nach einem Trauma zu morphologischen Veränderungen an den Afferenzen kommt.

Die Anzahl von spannungsgesteuerten Natrium-Kanälen nimmt in diesen Gebieten zu, auch in Gebieten des dorsalen Wurzelganglions wurde eine Zunahme der Kanäle dokumentiert.

Wie in vorangegangenen Studien ließ sich die analgetische Wirkung des Lidocains in den Versuchen der vorliegenden Arbeit bestätigen. Die thermale Schwelle der Tiere war bei alleiniger intravenöser Applikation an linker und rechter Hinterpfote stark erhöht. Wie erwartet wirkt Lidocain im CCI-Modell antinozizeptiv.

BIELLA et al. (1993) vermuteten anhand von in vitro-Experimenten an „wide dynamic range-Neuronen“ des spinalen Hinterhorns von Ratten, dass die Wirkung des Lidocains möglicherweise über den NMDA-Rezeptor vermittelt wird, der Glycinrest des Lidocain bindet an der Glycin B-site und verhindert die weitere Glutamatausschüttung. Lidocain hätte demzufolge an der Glycin B-site eine

antagonistische Wirkung zu Glycin, aber auch Metaboliten der Substanz könnten eine ähnliche, antinozizeptive Wirkung haben.

Wirkung von D-Serin

D-Serin ist ein potenter (Co)-Agonist an der Glycin-B site des NMDA-Rezeptors mit entsprechender exzitatorischer Wirkungsweise, aber inaktiv am inhibitorischen strychnin-sensitiven Glycinrezeptor (BARANANO et al., 2001). In der vorliegenden Arbeit wurde D-Serin in einer Dosis (100 µg/Ratte) intrathekal appliziert, die bei alleiniger Applikation zu keiner exzitatorischen Wirkung führt (s.a. MUTH-SELBACH et al., 2002).

Bei der Applikation von Lidocain iv und D-Serin it wurde das Wirkungsmaximum von Lidocain an der linken und rechten Pfote herabgesetzt. D-Serin antagonisiert folglich die antinozizeptive Wirkung von systemisch appliziertem, niedrig dosiertem Lidocain.

Die Ergebnisse unterstützen die Hypothese von BIELLA et al. (1993), dass Lidocain an der Glycin-B-site des NMDA-Rezeptors antagonistisch wirkt und über diesen Weg zumindest teilweise seine Antinozizeption vermittelt. D-Serin verdrängt Lidocain (oder Metabolite mit Glycinrest) vom Rezeptor, entfaltet (co-)agonistische Aktivität und hebt damit die Blockade des NMDA-Rezeptors auf, was in einer wieder verstärkten Pronozizeption mündet. Der pronozizeptive Effekt hielt bis 30 Minuten nach der intrathekalen Applikation an.

Dieses Ergebniss zeigt, dass an der antinozizeptiven Wirkung von Lidocain bei chronischen, neuropathischen Schmerzen der Ratte die Glycin-Bindungsstelle spinaler NMDA-Rezeptoren beteiligt ist.

Wirkung von Strychnin

Strychnin ist ein selektiver Glycin-Antagonist, der mit gleicher Affinität wie Glycin an inhibitorischen strychnin-sensitiven Glycin-Rezeptoren bindet (BREITINGER u.

BECKER, 2002; ARAGON u. LOPEZ-CORCUERA, 2003). Ausserdem vermindert es die Glycinkonzentration im synaptischen Spalt, was eine verminderte Aktivierung des NMDA-Rezeptors nach sich ziehen kann. Diese beiden Angriffspunkte an den verschiedenen Rezeptoren machen deutlich, dass Strychnin inhibitorisch, wie

exzitatorisch wirken kann. Die Doppelrolle des Glycins im ZNS im Zusammenhang mit neuropathischen Schmerzen wurde 1996 von SIMPSON et al. bestätigt.

In der Iontophorese hemmt Lidocain die Glutamatausschüttung, dies konnte durch Strychnin zum Teil wieder aufgehoben werden (BIELLA und SOTGIU, 1992).

KHANDWALA et al. (1997) haben in ihrer Arbeit mit intrathekaler Strychninapplikation eine reversible Allodynie induzieren können, ohne ein chronisches Schmerzmodell an den Tieren zu etablieren. Sie stellten fest, dass in Anwesenheit von Strychnin langsam leitende Afferenzen den NMDA-Rezeptor in der Weise aktivieren, dass ein normaler Impuls der leitenden Afferenzen als schmerzhaft empfunden wird. Es hat sich eine Allodynie entwickelt, die über NMDA-Rezeptoren vermittelt wird.

In Kombination von Strychnin mit intravenöser Lidocaingabe wurde die analgetische Wirkung des Lidocains antagonisiert (Abbildung 3 und 4). Im Vergleich mit der kombinierten D-Seringabe ist die Nozizeption in Form von einer Schwellenerniedrigung sogar stärker ausgeprägt. Diese Ergebnisse unterstützen wiederum die anhand von in vitro-Experimenten an wide dynamic range Neuronen des spinalen Hinterhorns von Ratten gewonnene Hypothese von BIELLA et al.

(1993, s.o.), dass Lidocain am strychnin-sensitiven Glycinrezeptor agonistisch wirkt.

Nach intrathekaler Applikation von Strychnin kommt es wahrscheinlich auch in vivo zu einer Verdrängung des Lidocains bzw. seiner Metabolite mit Glycinrest am inhibitorischen strychnin-sensitiven Glycinrezeptor. Resultat ist dann eine entsprechende antagonistische Wirkung am Rezeptor mit konsekutiver Desinhibition und Pronozizeption.

Die alleinige Applikation von Strychnin intrathekal in vivo macht die exzitatorische Wirkung dieser Substanz deutlich. Der Kurvenverlauf dokumentiert eine Hyperalgesie im gesamten Versuchsverlauf, die Tiere haben eine sensiblere Nozizeption. SIMPSON et al. (1996) stellten diese Veränderung des Schmerzverhaltens ebenfalls bei ihren Versuchen fest. Sie festigten die Theorie, dass Glycin über den inhibitorischen strychnin-sensitiven Glycinrezeptor das

Schmerzverhalten reduziert, und dass Strychnin dieses Schmerzverhalten verstärkt.

Strychnin blockiert in diesem Fall die Wirkung des Glycins.

An der linken, operierten Gliedmasse ist diese gesteigerte Empfindlichkeit stärker ausgeprägt, als beim rechten, nicht operierten Bein.

Wirkung von CGP 78606

CGP 78606 ist ein selektiver NMDA-Antagonist, der an der Glycin-B site des Rezeptors bindet und hier antagonistisch wirkt. Es wirkt antinozizeptiv und antikonvulsiv (QUARTAROLI et al. 2001, Parsons et al. 2001). Wie QUARTAROLI et al. (2001) zeigen konnten, ist bei allen Glycin-B site Antagonisten ihre Wirkung so zu erklären, dass die vorhandene Glycinmenge ihr Angriffspunkt ist. Die Substanzen reduzieren die Glycinmenge am synaptischen Spalt, was zu einer reduzierten Aktivierung der NMDA-Rezeptoren führt.

In der Literatur wird die geringe Gefahr von Nebenwirkungen für den Patienten in der Schmerztherapie bei selektiver Blockade des NMDA-Rezeptors immer wieder positiv hervorgehoben.

Alleinige Gabe von CGP 78608 it zeigte erwartungsgemäß einen antinozizeptiven Effekt. Das Wirkmaximum bei der in der vorliegenden Studie applizierten Dosis lag jedoch deutlich unter dem Wirkmaximum intravenös applizierten niedrig dosierten Lidocains (Abbildung 10 und 11).

Bei der kombinierten Gabe von Lidocain iv + CGP 78608 it wurde überraschenderweise eine antagonisierende Wirkung des CGP 78608 zum Lidocain deutlich. Die Wirkungsmaxima an rechtem und linkem Bein lagen deutlich unter dem Kurvenverlauf von alleinig appliziertem Lidocain und alleinig verabreichtem CGP 78608.

Wenn sowohl Lidocain (s.o.) als auch CGP 78608 antagonistisch an der Glycin B-site des NMDA-Rezeptors wirken, wäre zu erwarten gewesen, dass es durch gemeinsame Applikation eher zu einer gegenseitigen Wirkverstärkung, denn zu einer Wirkabschwächung kommt. Selbst bei einer im maximalen Antwortbereich des Rezeptors liegenden Wirkung einer Substanz erwartet man keine Antagonisierung des Effektes. Eine Erklärungsmöglichkeit wäre eine Interaktion der beiden

Substanzen am NMDA-Rezeptor, die zu einer Blockade ihrer Bindungsfähigkeit am Rezeptor führt, so dass endogenes Glycin oder D-Serin am Rezeptor wieder agonistische Wirkung und somit Pronozizeption enfalten kann. Auch ein Partialagonismus/antagonismus an der Glycin B-site des NMDA-Rezeptors durch Lidocain wäre denkbar. Letztlich bleibt diese Frage durch die vorliegenden Daten jedoch ungeklärt.

Wirkung des 2% Lidocains

Bei Versuchen, bei denen 2% Lidocain verwendet wurde, war der Focus auf Wirkungsmaximum und analgetisches Verhalten im zeitlichen Versuchsablauf gerichtet.

Bei diesen Versuchen wurde die Reihenfolge der Applikationen verändert. D-Serin wurde nach dem Lidocain-Bolus gegeben, so waren die erhaltenen Werte ab zehn Minuten Versuchsablauf wichtig. Bei Betrachtung dieser Ergebnisse sind die Erkenntnisse von BIELLA und SOTGIU (1992), sowie von SMITH et al. (2002) von Bedeutung. Sie haben in ihren Versuchen nachweisen können, dass die analgetische Wirkung des Lidocains dosisabhängig ist.

Des weiteren ist die Wirkung des Lokalanästhetikums von der Glycin- und daraus folgenden Glutamatkonzentration im betroffenen spinalen Gebiet, sowie vom Zeitpunkt der Gabe in Kombination mit anderen Pharmaka abhängig (siehe auch Konzept des Glycin spillover, S.7, Einleitung).

Am nicht operierten Bein zeigte sich durch 2% Lidocain eine längere und stärkere Analgesie als durch 1% Lidocain. Die analgetische Wirkung wurde am rechten Bein sowohl bei 1% als auch bei 2% Lidocain durch D- Serin antagonisiert, es kam zu einer Absenkung der thermalen Schwelle.

Am linken Bein zeigte 2% Lidocain ebenfalls Antinozizeption, diese war aber im Vergleich zu 1% Lidocain schwächer ausgeprägt. Auch hier antagonisierte intrathekal appliziertes D-Serin die Lidocainwirkung.

Bei einer Dosisverdopplung des Lidocains kommt es nicht zu einer doppelten Wirkung, im Gegenteil, am linken, operierten Bein besteht eher ein Trend zur Wirkabschwächung unter höherer Dosierung. Es besteht keine strenge Dosis-Wirkungsbeziehung. Dies spricht dafür und stützt die These, dass durch Lidocain

dosisabhängig unterschiedliche Rezeptoren mit unterschiedlichen, z.T.

gegensätzlichen Effekten auf die Nozizeption aktiviert werden.

Kontralaterale Effekte

Betrachtet man die Ergebnisse der Arbeit, fällt auf, dass bei allen Versuchsgruppen eine Schwellenverschiebung an der linken, aber auch an der rechten Gliedmaße dokumentiert werden konnte (siehe Abbildung 16, Kapitel 8).

Kontralaterale Effekte werden laut BENNETT und XIE (1987), STEPHEN et al.

(1994) und SMITH et al. (2002) vernachlässigt oder nicht dokumentiert. Bei den Ergebnissen in der vorliegenden Arbeit ist nach Applikation des 2% Lidocains eine deutliche thermale Schwellenverschiebung auch am rechten, nicht operierten Bein festzustellen. Auch bei den anderen Versuchsgruppen ist dieses Phänomen zu beobachten (siehe Abb. 16). Bei dem Vergleich der post Bolus Werte der verschiedenen Gruppen sind an linker und rechter Pfote die Schwellenerniedrigungen auf ähnlichem Niveau.

Eine mögliche Erklärung hierfür hält das sog. wind-up Phänomen bereit (ABRAM et al., 1994; SUGIMOTO et al., 2003). Hierbei handelt es sich um eine allgemeine Folge der Schädigung von peripheren Nerven. Durch das Trauma und die folgenden morphologischen Veränderungen im Gewebe kommt es zur ektopen Aktivierung von Afferenzen, die an das ipsilaterale Dorsalhorn der ligierten Seite die Nervenimpulse weiterleiten. Es folgt die zentrale Sensibilisierung und so eine Reizantwort auf der kontralateralen, nicht operierten Seite. Die genaue Art und Weise der Ausbreitung ist noch nicht geklärt.

Ein ergänzender Erklärungsansatz wäre der, dass es nach der Nervenläsion an der kontralateralen Seite des Rückenmarkes zu einem Anstieg von Glycin kommt, z.B.

im Rahmen des Glycin spillover (AHMADI et al., 2003) welches Auswirkung auf das gesteigerte Transmissionsverhalten des NMDA-Rezeptors hat (KOLTZENBURG et al., 1999).

Die durch Lidocain induzierte Antinozizeption konnte zum Teil durch den Agonisten D-Serin und durch den Antagonisten CGP 78608 an der Glycin-B-Site des NMDA-Rezeptors aufgehoben werden (Abbildung 14 und 15). Diese Ergebnissen lassen die Spekulation zu, dass Lidocain oder Metaboliten des Lokalanästetikums (zum Beispiel Monoethyhlglycin oder Glycin Xylidide, welche ein Glycinmolekül enthalten) eine glycin-ähnliche Wirkung am inhibitorischen, strychnin-sensitiven (Glycinrezeptor) und am strychnin-unsensiblen (NMDA) Rezeptor haben (siehe dazu auch BIELLA et al., 1993). Es ist möglich, dass D-Serin und CGP 78608 durch ihre unterschiedliche molekulare Zusammensetzung einer unterschiedlichen Diffussion im spinalen Strang unterliegen; dazu existiert im Moment keinerlei Literatur.

Auch der von AHMADI (2003) erläuterte „spillover“ könnte einen möglichen Einfluss auf die identische pronozizeptive Wirkung der beiden unterschiedlichen applizierten Substanzen haben. Der „spillover“ ist außerdem ein Prozess der Diffusion, dessen Bindungsfähigkeit von Sättigunggradienten abhängig ist.

Weiter ist es möglich, dass CGP 78608 ein schwächerer Antagonist an der Glycin-B-site ist als Lidocain und so die antinozizeptive Wirkung des Licocain antagonisiert.

Eine andere mögliche Wirkung des niedrig konzentrierten Lidocains könnte über (sub-) zellulare Syteme, z. B. die G-Protein gekoppelten Rezeptoren erfolgen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die durch niedrig dosiertes systemisch appliziertes Lidocain oder dessen Metaboliten vermittelte Antinozizeption zumindest teilweise über spinale glycinerge Mechanismen erfolgt. Die aktuelle Datenlage der Literatur weist darauf hin, dass sowohl die glutamaterge (hier insbesondere der NMDA-Rezeptor) als auch die glycinerge Neurotransmission im Rückenmark eine Schlüsselrolle in der Entstehung und Chronifizierung von Schmerzen spielt. Des weiteren scheint insbesondere das Zusammenspiel zwischen exzitatorischen NMDA-Rezeptoren und inhibitorischen strychnin-sensitiven Glycinrezeptoren ein wichtiger Pfeiler bei Sensibilisierungsprozessen im Rahmen der Chronifizierung von Schmerzen zu sein (s.a. ZEILHOFER, 2005).

Eine Regulation dieses Zusammenspiels über die regionale Glycinkonzentration im Rückenmark erscheint wahrscheinlich (ZEILHOFER, 2005). Die Hemmung der

Ausschüttung, die Reduzierung der Konzentration von Glycin im synaptischen Spalt oder eine gezielte, gleichzeitige Beeinflussung beider Rezeptortypen (NMDA- und strychnin-sensitiven Glycinrezeptor) sind damit möglicherweise neue und vielversprechende Ansätze zur Therapie chronischer, insbesondere neuropathischer Schmerzen.

In diesem Zusammenhang ist der Nachweis, dass ein seit Jahrzehnten in der Medizin gebräuchliches Pharmakon wie Lidocain Analgesie zumindest teilweise über spinale glycinerge Mechanismen vermittelt und dabei sowohl exzitatorische NMDA-Rezeptoren als auch inhibitorische strychnin-sensitive Glycinrezeptoren beeinflußt, von besonderem Interesse.