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5.1 Untersuchung von Proteratogen und Teratogen im EST

5.1.1 Diskriminierungsfähigkeit des EST

In dieser Arbeit wurden verschiedene Methoden angewendet, um Unterschiede zwischen Proteratogen und Teratogen im EST feststellen zu können (3.9.6). Zum einen wurde das Prädik-tionsmodell des EST verwendet, mit dem die Embryotoxizität von Substanzen eingestuft werden kann. Zum anderen wurden zwei Quotienten Z und D gebildet, mit denen die Verhältnisse der Endpunkte des ESTs zueinander bestimmt werden konnten, und zusätzlich wurden die Halbhemmkonzentrationen paarweise miteinander verglichen. Der EST konnte bei jedem Sub-stanzpaar die Wirkungen des Proteratogens von der des Teratogens deutlich unterscheiden, aber diese Trennung gelang nicht mit jeder Methode.

5.1.1.1 Diskriminierung mit dem Prädiktionsmodell

Mit dem Prädiktionsmodell war es bei keinem Paar möglich, Proteratogen vom Teratogen zuverlässig zu differenzieren. Die Paare VPD/VPA und RO/RA wurden jeweils in die gleiche Embryotoxizitätsklasse eingestuft, und bei ABZ/ASO fiel die Einstufung von Albendazol-Sulfoxid nicht eindeutig aus (Tab. 46). Das Paar CPP/4HC konnte für eine Bewertung nicht verwendet werden, weil der ID50 von 4HC nicht gewertet werden konnte. Mit diesen Ergebnissen wurde deutlich, dass die Trennungsschärfe des Prädiktionsmodells für die untersuchten

Sub-stanzpaare nicht ausreichte und Fehlklassifizierungen stattfanden. Dafür kommen mehrere Gründe in Betracht.

Das Prädiktionsmodell basiert auf einem iterativen Berechnungsprozess, der mit einem Trai-ningskollektiv von zehn Modellsubstanzen durchgeführt wurde (Scholz et al. 1999a). Mit dieser Anzahl von Substanzen kann nur eine begrenzte Anzahl von Mustern abgebildet werden - der Begriff Muster beschreibt hier ein spezifisches Verhältnis der drei Halbhemmkonzentrationen des EST zueinander - welche Chemikalien im EST hervorrufen können. Wenn das spezifische Muster einer neuen Prüfsubstanz fehlt, kann es zu einer Fehlklassifizierung kommen. Dies wurde von Genschow et al. (2004) in der EST-Validierungsstudie z.B. bei Quecksilbermethylchlorid festgestellt, das mehrfach als nicht embryotoxisch eingestuft wurde, obwohl es in vivo stark embryotoxisch wirkt. Genschow et al. beobachteten, dass die Fehlklassifizierung dort auftrat, wo in den Tests der IC503T3 niedriger war als der IC50D3, und begründeten dies mit der Feststel-lung, dass ein dem Quecksilbermethylchlorid ähnliches Muster im Trainingskollektiv der Modellsubstanzen nicht vorgekommen war. Bei einer rückblickenden Beurteilung des EST (Spielmann et al. 2006) wurde deshalb empfohlen, die Datenbasis für den EST zu erweitern.

Die Beschränkung auf drei Embryotoxizitätsklassen stellt eine starke Vereinfachung repro-duktionstoxikologischer Befunde dar und erlaubt per se keine fein abgestufte Differenzierung zwischen verschiedenen Substanzen. Welche Abstufung möglicherweise notwendig ist, um der komplexen Realität entwicklungstoxischer Befunde gerecht zu werden, wird an dem von Schwetz (1992) entwickelten Klassifizierungssystem deutlich. Auf der Basis von sieben ge-wichteten Faktoren kann mit diesem System die Entwicklungstoxizität einer Substanz in vivo mit einer Skala beschrieben werden, die von 0 bis 190 reicht (Brown 2002).

Die Daten aus der Validierungsstudie (Genschow et al. 2004) zeigen, dass das Prädiktions-modell Substanzen mit einem IC50D3 bzw. ID50 unter 10 µg/mL als stark embryotoxisch klassi-fiziert. Da dies bereits die Klasse mit der höchsten Embryotoxizität darstellt, können Substanzen mit Halbhemmkonzentrationen unterhalb 10 µg/mL nicht weiter differenziert werden. Damit wird jedoch das Spektrum an Konzentrationen, innerhalb dessen eine Graduierung möglich ist, stark eingeschränkt. Die Halbhemmkonzentrationen der sechs Substanzen, die in der Validie-rungsstudie in die Embryotoxizitätsklasse 3 eingeordnet wurden, reichten von 10 µg/mL ausgehend noch drei bis vier Größenordnungen niedriger bis zu 0,0001 µg/mL. Folglich wurden in dieser Arbeit Retinol und Retinsäure aufgrund ihrer IC50D3 bzw. ID50-Werte <10 µg/mL als stark embryotoxisch eingestuft und konnten nicht voneinander differenziert werden.

ABZ/ASO konnten vom Prädiktionsmodell nicht eindeutig diskriminiert werden, weil Alben-dazol-Sulfoxid einmal als schwach und einmal als stark embryotoxisch eingestuft wurde, obwohl die Halbhemmkonzentrationen der Doppelbestimmung nur wenig variierten. Dieses Phänomen

der divergierenden Klassifizierung einer Substanz bei einer Doppelbestimmung scheint zur Charakteristik des Prädiktionsmodells zu gehören und kam in der Validierungsstudie bei neun der zwanzig untersuchten Chemikalien vor. Genschow et al. (2004) illustrierten das Phänomen am Beispiel des Hydroxyharnstoff, dessen Halbhemmkonzentrationen im gleichen Konzentrationsbereich liegen wie Albendazol-Sulfoxid. Sie stellten fest, dass variierende End-punkte einer Doppelbestimmung umso wahrscheinlicher zu einer unterschiedlichen Klassifizie-rung führen können, je näher die Konzentrationen an der postulierten Konzentrations-Ober-grenze für den EST von 1000 µg/mL liegen.

Bei 4HC, Albendazol und Albendazol-Sulfoxid wurden im EST ID50-Werte bestimmt, die größer waren als der IC50D3 und damit biologisch widersprüchlich. Für 4HC und Albendazol-Sulfoxid konnte diese Situation mit dem Versuchsaufbau oder der Messungenauigkeit erklärt werden, nicht aber für Albendazol. Dass ein ID50 gegenüber dem IC50D3 größer ausfällt ist jedoch nicht ungewöhnlich und wurde sowohl bei Ascorbinsäure in der Prävalidierungsstudie des EST festgestellt (Scholz et al. 1999), als auch bei Acrylamid, Quecksilbermethylchlorid und Isobutyl-ethyl-Valproinsäure in mindestens zwei der vier Prüflaboratorien, die an der Validie-rungsstudie teilgenommen hatten (Genschow et al. 2004). Das Phänomen wurde im Laufe der Entwicklung des EST explizit bei der Verbesserung des ersten Prädiktionsmodells berücksich-tigt, indem anstatt der Variablen IC50D3/ID50 vom ursprünglichen Prädiktionsmodell (Spielmann et al. 1997) der Term (IC503T3 - ID50)/IC503T3 in das verbesserte Prädiktionsmodell integriert wurde. Scholz et al. (1999a) stellten fest, dass dadurch die Prädiktivität des Modells in den Fällen verbessert wurde, in denen der ID50 sowohl gegenüber dem IC50D3 als auch dem IC503T3 größer ist. Der sich daraus ergebende biologische Widerspruch wurde von den Autoren nicht erklärt.

Die Daten dieser Arbeit zeigen daher, dass das Prädiktionsmodell in seiner bestehenden Form nicht dazu geeignet ist, Substanzen zu differenzieren, deren Embryotoxizität nicht stark variiert.

5.1.1.2 Diskriminierung mit alternativen Parametern

Eine alternative Möglichkeit, die Substanzpaare zu differenzieren, besteht im direkten paar-weisen Vergleich der Halbhemmkonzentrationen miteinander. Diese Methode besitzt den Vor-teil, dass Unterschiede direkt erfasst werden, erlaubt andererseits jedoch nur eine Aussage über die verglichenen Endpunkte Zytotxizität und Differenzierungshemmung. Um auch spezifisch embryotoxische Eigenschaften der Testsubstanz beschreiben zu können, wurden für die vorlie-gende Arbeit zusätzlich zwei Quotienten Z und D berechnet (3.9.6). Mit dem Z-Quotient wird das embryotoxische Potenzial einer Substanz in vitro ähnlich dem A/D-Quotienten in vivo charakterisiert, und mit dem D-Quotient kann festgestellt werden, ob die

Differenzierungshem-mung im Differenzierungsassay auf einen spezifisch differenzierungshemmenden Mechanismus zurückgeführt werden kann. Diese verschiedenen Parameter - die Halbhemmkonzentrationen und der Z- bzw. D-Quotient - beschreiben unterschiedliche Aspekte der selben Testsubstanz.

Beim Vergleich der Substanzen eines Paares wurden die Paare deshalb nicht immer anhand aller Parameter differenziert (Tab. 46). Durch einen direkten Vergleich der Halbhemmkonzentratio-nen ließen sich alle Substanzpaare deutlich differenzieren, mit Ausnahme der IC503T3-Werte von VPD/VPA. Anhand der Z-Quotienten konnten dagegen nur VPD/VPA und RO/RA diskri-miniert werden, und mit dem D-Quotienten ließ sich nur VPD von VPA differenzieren.

Der direkte Vergleich von Halbhemmkonzentrationen war damit die sensitivste Methode, um Substanzen voneinander zu unterscheiden. Zusammen mit den Z- und D-Quotienten wurden die Substanzpaare individuell charakterisiert. Bei VPD/VPA und RO/RA wirkte das Teratogen in allen EST-in vitro-Tests toxischer (niedrigere Halbhemmkonzentrationen) und war embryotoxi-scher (größerer Z-Quotient) als das Proteratogen. Die Valproinsäure besaß zudem ein größeres differenzierungshemmendes Potenzial (größerer D-Quotient). Mit CPP/4HC zeigte sich, dass das 4HC zytotoxischer wirkte (niedrigere Halbhemmkonzentrationen), dass aber beide Substanzen das gleiche embryotoxische Potenzial besaßen (gleiche Z-Quotienten). Bei ABZ/ASO schließ-lich wirkte das Teratogen weniger toxisch (höhere Halbhemmkonzentrationen), aber beide Substanzen hatten ebenfalls das gleiche embryotoxische Potenzial. Durch die gemeinsame Betrachtung von Halbhemmkonzentrationen und Z- bzw. D-Quotienten ist es damit möglich, im EST ein Proteratogen von seinem Teratogen zu differenzieren und embryotoxische Eigenschaf-ten zu beschreiben.