• Keine Ergebnisse gefunden

3 ENTWICKLUNG VON MEDIENKOMPETENZ

3.2 F ORMATSCHEMA

3.2.3 Differenzierung zwischen Fiktion und Realität

Im Zusammenhang mit der Veränderung von Realitätsvorstellungen durch Medien stel-len sich zunächst zwei grundsätzliche Fragen (Böhme-Dürr, 2000): Existiert Realität nur in der menschlichen Vorstellung oder gibt es eine Außenwelt, die einen Einfluss auf die menschliche Vorstellungswelt hat? Wenn es eine Realität außerhalb der menschli-chen Vorstellungswelt gibt, ist es dann sinnvoll, zwismenschli-chen verschiedenen Formen der Realität zu unterscheiden? Für Vertreter des radikalen Konstruktivismus wird Wirklich-keit: „(…) vor allem durch die Operationen des Beobachtens erzeugt“ (Böhme-Dürr, 2000, S.136). Es gibt damit so viele Realitäten, wie es beobachtende Systeme gibt. Ver-treter des radikalen Konstruktivismus halten insofern auch systematische Analysen zwi-schen der subjektiven Vorstellungswelt und der Außenwelt für obsolet. Dennoch gibt es in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen den generellen Konsens, dass eine Welt außerhalb von uns selbst existiert (Böhme-Dürr, 2000). Dieser Position soll sich hier angeschlossen werden.

Insbesondere für Nachrichten hat Brosius (1995) festgestellt: „Nachrichten sind Abbil-dungen bzw. Konstruktionen von Realität, die zum Teil mehrere Instanzen durchlaufen haben, bevor sie den Rezipienten erreichen. In jeder dieser Instanzen werden ten verändert, thematisch neu geordnet, interpretiert und elaboriert.“ (S. 24). Nachrich-ten, in diesem Sinne ‚dargestellte Realität’, sind immer nur Abbildungen der Realität, die vom Rezipienten in Abhängigkeit von Personen- und Nachrichtenmerkmalen wahr-genommen werden (= wahrwahr-genommene Realität), wobei „durch Rekonstruktionen und Inferenzen der Akteure (Medien bzw. Journalisten auf der einen Seite und Rezipienten auf der anderen Seite)“ (Brosius, 1995, S. 140) zunehmend Teile der Realität verloren gehen und substituiert werden.

Für Medien allgemein führt Böhme-Dürr (2000, S. 138) aus: „Wenn Medien bestimmte Eigenschaften haben, auf die Menschen in bestimmter Weise reagieren, sie also einen spezifischen Aufforderungscharakter für unsere Wahrnehmung haben, dann können wir auch zwischen ‚Medienrealität’ und ‚Publikumsrealität’ unterscheiden. Da jedes Medi-um spezifische Merkmale hat, ist es präziser, wenn nicht von der Medienrealität, son-dern von ‚medienspezifischen Realitäten’ oder von ‚Medienrealitäten’ die Rede ist.“

(kursive Hervorhebungen im Original). Unklar bei dieser Beschreibung ist, ob es sich um Realitätsauffassungen durch Medien oder Vorstellungen über Medienrealität han-delt. Rothmund et al. (2001a,b) nutzen für Letzteres den Begriff ‚Perceived Reality’.

Entwicklung von Medienkompetenz 31

Damit ist der Grad an Realismus und Realitätsgehalt gemeint, der audiovisuellen Pro-dukten zugeschrieben wird. Diese Differenzierung wird bei den im Folgenden referier-ten empirischen Befunden nicht immer explizit gemacht.

Die Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität wird in vielen Studien als mehrdi-mensional betrachtet (z.B. Rothmund et al., 2001a; Hawkins, 1977; Potter, 1988; Fitch et al. 1993; Böhme-Dürr, 2000). So wird beispielsweise zwischen Faktizität (Ist das tat-sächlich geschehen?) und gesellschaftlichem Realismus (Könnten die gezeigten Dinge im Alltagsleben passieren?) unterschieden (Böhme-Dürr, 2000), wobei die Beurteilung der Faktizität hauptsächlich durch die medienspezifische, formale Darstellungsweise geprägt ist, die Beurteilung des gesellschaftlichen Realismus dagegen durch die Me-dieninhalte (Fitch et al., 1993).

Eine ähnliche Unterteilung nehmen Gunter & McAleer (1997) vor. Kinder richten sich bei der Beurteilung der Fiktionalität bzw. Realität von Sendungen oft nach drei Katego-rien: Nach dem Aktuell-Vorgebenen (d.h. ob der Fernsehinhalt in der realen Welt exis-tiert), nach dem Möglichen (was geschehen könnte) und nach dem Unmöglichen. Nach Aktuell-Vorgegebenem unterscheiden Kinder aller Alterstufen. Jüngere Kinder beziehen sich beim Urteilen sehr oft auf das Mögliche, während ältere Kinder sich eher auf das Unmögliche beziehen (Gunter & McAleer, 1997).

Rothmund et al. (2001a) führen die rezeptionsseitige Differenzierung zwischen Realität und Fiktion auf die Forschung zur Perceived Reality (d.h. der Grad an Realismus und Realitätsgehalt, der audiovisuellen Produkten zugeschrieben wird) zurück. Das Kon-strukt Perceived Reality wurde in der Medienwirkungsforschung der 70er Jahre als mo-derierende Variable für die Wirkung audiovisueller Produkte auf Weltbild, Verhalten und Emotionen eingeführt. Beispielsweise sollten Kinder umso weniger mit Angst oder Aggressionen auf Gewaltdarstellungen reagieren, je mehr sie um den fiktiven Charakter dieser Sendungen wissen. Die Perceived Reality wurde von Beginn an als mehrdimen-sionales Konstrukt aufgefasst (z.B. Hawkins, 1977; Fitch et al., 1993). Zusammenfas-send lassen sich zwei Kerndimensionen unterscheiden (Rothmund et al., 2001a):

Darstellungsdimension: Diese Dimension mit den Polen ‚dramatisch’ (d.h.

konstruiert, inszeniert, fiktional) versus ‚Fenster zur realen Welt’ umfasst Unter-scheidungen zwischen Medialität und unmittelbarer, authentischer Erfahrung,

Entwicklung von Medienkompetenz 32

zwischen Konstruktion und Rekonstruktion, zwischen Fiktionalität und Non-Fiktionalität sowie zwischen Non-Realismus und Realismus der Darstellung.

Inhaltsdimension: Hierzu gehört die Beurteilung des Realitätsgehaltes von TV-Inhalten. Dabei werden die medialen Inhalte mit der im Weltwissen repräsentier-ten Realität verglichen. Entsprechend bezeichnet Hawkins (1977) die Pole hier als ‚Übereinstimmung’ versus ‚Nicht-Übereinstimmung’.

Zwischen zwei und vier Jahren können Kinder nicht zwischen Realität und Fiktion un-terscheiden (Moser, 1999, Böhme-Dürr, 2000). Sie glauben dass die Fernsehfiguren im Fernsehgerät wohnen und wie aus einem Fenster aus dem Fernseher in die Welt schauen und wenn das Gerät ausgeschaltet ist, schlafen.

Mit etwa vier Jahren erwerben Kinder die Fähigkeit, zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden, ohne sie zunächst durchgängig anzuwenden. So identifizieren Kinder Cartoons als fiktiv und Nachrichten als real (Böhme-Dürr, 2000; Moser, 1999), wäh-rend sie bei weniger eindeutigen Formaten noch verunsichert sind. 58% der fünf- bis sechsjährigen können noch nicht verstehen, dass Fernsehrollen von Schauspielern nur gespielt werden (Dorr, 1983).

Bei Grundschulkindern ist die Realitätswahrnehmung durch situationsbedingte Einfluss-faktoren geprägt. Oft werden nur einzelne Sendeteile beurteilt, nicht die gesamte Sen-dung (Böhme-Dürr, 2000). Dabei wählen sie einige Sachverhalte aus den SenSen-dungen aus, die sie aus ihrem eigenen Leben kennen und prüfen, ob sich die gezeigten Inhalte mit den eigenen Erfahrungen decken. Ab ca. acht Jahren werden zunehmend formale Angebotsweisen für die Realitätsbeurteilung relevant. Zeichentrickfiguren werden von Kindern in diesem Alter als weniger real beurteilt als Schauspieler. Erst mit ca. zehn Jahren erkennen Kinder, dass ein Zeichentrickcharakter authentischer sein kann als Charaktere, die von Schauspielern gespielt werden (Böhme-Dürr, 2000).

Mit zunehmendem Alter ist ein linearer Rückgang der Perceived Reality (d.h. der Grad an Realismus und Realitätsgehalt, der audiovisuellen Produkten zugeschrieben wird) auf der Darstellungsdimension zu beobachten. Bei jüngeren Kindern ist dabei – wie auch aus der Spracherwerbsforschung bekannt – zunächst eine Übergeneralisierung zu beobachten, d.h. zu Beginn werden auch non-fiktionale Sendungen als erfunden bzw.

gespielt beurteilt (Rothmund et al., 2001a; Groebel, 1996). Im Alter von ca. zehn Jahren unterscheiden Kinder in Abhängigkeit vom intellektuellen Leistungsniveau genauso

Entwicklung von Medienkompetenz 33

präzise wie Erwachsene zwischen Fiktion und Realität. Als Prädiktoren für diese Fer-tigkeit gelten nach Rothmund et al. (2001a):

Alter: mit dem Alter steigt die Urteilskomplexität. Ältere Kinder beziehen im Gegensatz zu Jüngeren neben der Darstellung auch den Inhalt bei der Beurtei-lung der Fiktionalität ein.

Gender (psychologisches Geschlecht): qualitative Studien zeigen Hinweise, dass inhaltsbezogene Perceived-Reality-Urteile durch Geschlechtsrollenvorstellungen beeinflusst werden. Differenzierte empirische Untersuchungen dazu stehen noch aus. Das biologische Geschlecht ist kein Prädiktor für die Perceived Reality.

Sozioökonomischer Status: Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomi-schem Status beurteilen TV-Sendungen als realistischer und realitätshaltiger als Kinder mit höherem Status. Rezipienten aus der ‚Arbeiterklasse’ urteilen weni-ger komplex als Rezipienten aus der Mittelschicht.

TV-Nutzungshäufigkeit: Für die globale Perceived Reality kann ein positiver Zu-sammenhang zwischen Nutzungshäufigkeit und Perceived Reality von Kindern als gesichert betrachtet werden: Vielseher schreiben TV-Sendungen mehr Rea-lismus und Realitätsgehalt zu als Wenigseher.

Allerdings können auch Erwachsene noch Schwierigkeiten mit der Differenzierung zwi-schen Fiktion und Realität bei einigen Formaten haben. So ist nicht immer eindeutig zu beantworten, ob insbesondere bei Nachrichten ein Ausschnitt live gefilmt oder im Nachhinein gestellt wurde oder ob eine Reality-TV-Show wirklich so real ist, wie sie sich gibt. Schwierig kann auch die Beurteilung der Realitätsnähe von Doku-Dramen sein (Böhme-Dürr, 2000; Moser, 1999). Auch für Erwachsene ist die Unterscheidung zwischen Medienrealität und Direktrealität eine Frage der bewussten Auseinanderset-zung und der mentalen Anstrengung. Unbewusst werden Fernsehinformationen nicht anders wahrgenommen als Informationen aus der direkten Umwelt (Reeves & Nass, 1997, nach Böhme-Dürr, 2000).

Entwicklung von Medienkompetenz 34