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B) Vergleich des Ideal-Realismus mit Musils programmatischen ästhetischen Theorien 77

1.2. Die Theorie des "anderen Zustands" (von 1925)

Es läßt sich sagen, daß die Musil-Forschung zu einem beträchtlichen Teil aZ-Forschung ist oder doch lange Zeit gewesen ist. Zahl und Dimension der Arbeiten, die sich dieser Musilschen Theorie widmen, sind beträchtlich. Dabei zieht eindeutig der MoE die meiste Aufmerksamkeit auf sich.201 Doch werden auch die übrige Prosa202 und die Dramen203 unter diesem Gesichtspunkt untersucht sowie Musils theoretische Schriften.204

Die Zahl der Äußerungen Musils zum aZ ist deutlich größer als die zur (Ir-)Ratioïditäts-Theorie, zumal in seinem letzten, zunehmend ganz der Arbeit am Roman gewidmeten Lebensdrittel.205 Wie erwähnt, liegt aber in dem Essay "Ansätzen zu neuer Ästhetik" "eine der wichtigsten Definitionen"206 der aZ-Theorie vor, so daß dessen

200 Musils ansonsten eingehendste Behandlung zur (Nicht-)Ratioïdität findet sich in dem Essay "Geist und Erfahrung. Anmerkungen ..." von 1921. Trotz der ausdrücklichen Bezugnahme auf die "Skizze" bestehen dort "zum Unterschied von ratioïd und nicht-ratioïd" (1059) einige nicht unwesentliche Modifikationen:

Die Tatsachen des nichtratioïden Gebietes sind als "mehr oder minder individuelle Erlebnisse, die man nur soweit versteht, als man sich ähnlicher erinnert" (1049, Herv. C.S.), charakterisiert, zugleich jedoch als

"Vorstellungen, die nicht das feste Fundament des sinnlich Wahrnehmbaren oder der reinen Rationalität haben, sondern auf Gefühlen ruhn und schwer wiederholbaren Eindrücken." (ebd.) Außerdem wird die Grenze zwischen beiden Gebieten durchlässiger, insofern "der Gehalt [des Nicht-Ratioïden, C.S.] bald bis zum fast Eindeutigen [konvergiert]." (1050) Allerdings bleibt es dabei, daß das Erkenntnisorgan für beide Gebiete der Verstand ist, der sogar "dort, wo er sozusagen all seiner Bequemlichkeiten beraubt ist, desto elastischer sein muß und dort, wo alles fließt, desto schärfer unterscheiden und fassen muß." (ebd.) Nicht

"Antirationalismus" sei dem "Rationalismus" des ratioïden Gebietes gegenüberzustellen, sondern

"Überrationalismus." (ebd.) Die übrigen, fast nur in den Tagebüchern befindlichen Stellen (z.T. Fußnote 194) bringen demgegenüber kaum sachlich Bemerkenswertes.

201 Vgl grundlegende Arbeiten wie: U. Karthaus 1965, R. v. Heydebrand 1966,1. Drevermann 1966, E.

Albertsen 1968, U. Goltschnigg 1974, H. Altmann 1992.

202 Siehe hier – nach Arntzen 1980a, 58 – vor allem die Literatur zu den drei Erzählungen "Drei Frauen".

203 Hier ist nur die Dissertation von M. Oczipka zu nennen.

204 Hier ist im einzelnen auf die in der Einleitung erwähnten Arbeiten zu Musils Ästhetik/Poetik zu verweisen, die unter anderem die aZ-Problematik behandeln (z. B. Willemsen 1985, als Teil 6). Eine monographische Untersuchung zum aZ bleibt Desiderat der Forschung. Als systematische Bemühungen existieren lediglich Aufsätze, vor allem: Stefanek l976 sowie Meister 1980c und (leicht überarbeitet) 1983 – wobei sie alle den Essay "Ansätze" im Zentrum haben.

205 Diese Anzahl würde sich noch einmal beträchtlich erhöhen, wenn man die Aussagen zum aZ in den fiktionalen Werken mit berücksichtigen würde, vor allem im MoE (siehe nur die Stellennachweise bei Arntzen 1982 und Luserke 1995), aber auch in den Dramen (siehe Oczipka 1972).

206 Frisé in T II, S. 122.

Interpretation hier genügt, wo nur das Grundsätzliche dieser Theorie von Interesse ist.

Wegen seiner größeren Länge und Komplexität – aber auch weil Musil sich hier einer weniger systematischen Schreibart bedient – kann die Darstellung des Essays nicht wie bei der "Skizze" referierend parallel zum Textverlauf erfolgen, sondern muß den Inhalt frei rekonstruieren.

Den Ausgangspunkt bildet das Verhältnis des menschlichen Geistes zur Welt. Welt bedeutet hier, gleichsam als Stoff, die Fülle an "Einzelerlebnissen" und (sinnlichen) Tatsachen. Demgegenüber ist der Geist reine Intellektualität und bezieht sich als ordnendes Denken auf die Welt, und zwar immer und ausnahmslos. Musil betont, daß

"auch schon unsere Sinne 'intellektuell' sind" (1146), bzw. "daß ohne präformierte stabile Vorstellungen, und das sind Begriffe, eigentlich nur ein Chaos bleibt" (ebd.). Das aber ist nicht der Fall. Auf dieser Grundanschauung von der bipolaren Natur des menschlichen Weltverhaltens, als synthetisches Begegnungsverhältnis von Gedanklich-Allgemeinem und Sinnlich-Besonderem, baut alles weitere auf: die Bestimmung des

"Normalzustandes", des "anderen Zustandes" und der Kunst.

(1) Normalzustand

Der "Normalzustand unserer Beziehungen zu Welt, Menschen und Ich" (1143) resultiert aus der "Notwendigkeit praktischer Orientierung" (1146) des menschlichen (Alltags-)Lebens. Diese führt nämlich zu dem, was Musil die "Formelhaftigkeit" nennt, "und zwar zur Formel-haftigkeit der Begriffe nicht mehr als zu der unserer Gebärden und Sinneseindrücke." (ebd.) Gemeint ist damit eine Abstraktion von der Lebendigkeit der Einzelerlebnisse und so die Verfestigung"der geistige(n) Haltung des Menschen unserer Zivilisation bis ins letzte." (1143) Ausdruck dieser Haltung ist einmal – allgemein – "die Schärfeunseres Geistes" (ebd.), was konkret umfaßt: "Das Messen, Rechnen, Spüren, das positive, kausale, mechanische Denken [...]." (ebd.) Zum anderen ist "sogar die Moral"

"in ihrer eigensten Natur völlig durchsetzt und kompromittiert von den scharfen und bösen Grundeigenschaften unseres Geistes"; und Musil erläutert:

"schon ihre Gestalt als Regel, Norm, Befehl, Drohung, Gesetz und Gut wie Böse quantifizierende Abwägung zeigt den formenden Einfluß des metrischen, rechnenden, mißtrauischen,vernichtungswilligen Geistes." (1144)

Der Normalzustand ist damit als der Zustand der "instrumentellen Vernunft"

gekennzeichnet.207

207 Den Ausdruck 'instrumentelle Vernunft' gebraucht Luserke 1995 auch im Zusammenhang mit anderen Werken Musils (z. B. 27, 34). Vgl. in diesem Zusammenhang: Max Horkheimer "Zur Kritik der instrumentellen Vernunft" (Frankfurt a.M. 1986).

(2) Anderer Zustand

Der aZ ist, laut Musil, "historisch nicht minder nachweisbar" als der normale:

"Man hat ihn den Zustand der Liebe genannt, der Güte, der Weltabgekehrtheit, der Kon-templation, des Schauens, der Annäherung an Gott, der Entrückung, der Willenlosigkeit, der Einkehr und vieler andrer Seiten eines Grunderlebnisses, das in Religion, Mystik und Ethik aller historischen Völker ebenso übereinstimmend wiederkehrt, wie es merkwürdig entwicklungslos geblieben ist." (1144)

Das "Grunderlebnis" des aZ bezieht sich nun auf "das Dastehn einer andren Welt", und zwar einer Welt, in der alle formelhaften und ordnenden Kategorien (des Normalzustandes) "gesprengt" sind, so daß an ihre Stelle "ein geheimnisvoll schwellendes und ebbendes Zusammenfließen unseres Wesens mit dem der Dinge und anderen Menschen" tritt(ebd., Herv. C.S.).

Als totale Vereinigung des Zusammenfließens besteht der aZ allerdings nicht in der bloßen Suspensierung des Denkens – dann wäre das Chaos der Einzelerlebnisse der Fall (s.o.), sondern in seiner Transzendierung in ein Jenseits völliger Grenzenlosigkeit. Einen wesentlichen Unterschied zur nicht-ratioïden Sphäre bedeutet es, daß im aZ "Erfahrung als etwas Wesensfremdes und Feindliches empfunden wird" (1153). Es gilt: "ursächliche und zweckmäßige Verknüpfung der Erlebnisse bauen ihn nicht auf, sondern zerstören ihn." (ebd.) Mit der Unerfahrbarkeit des aZ verknüpft Musil seine Lokalisierung in der Innerlichkeit.

Für das Folgende von besonderer Bedeutung ist erstens die Vergänglichkeitdes aZ für das menschliche Erleben: "Bekanntlich ist dieser Zustand [...] niemals von Dauer; ein hypothetischer Grenzfall, dem man sich annähert." (1154). Zweitens sein Verhältnis zum Normal-zustand. Denn der aZ ist zwar per definitionem jenseits der alltäglichen Welteinstellung, hat aber doch "seine Spuren in unzähligen Einzelheiten unseres gewöhnlichen Lebens hinterlassen" (1144), indem er "in seinen Abformen als Kirche, Kunst, Ethik, Erotik mit ungeheurer Mächtigkeit in unser Dasein hereinragt [...]".208

Allerdings, auch wenn so beide Geisteszustände sich immer schon "mannigfach beeinflußt haben und Kompromisse eingegangen sind", so sind sie doch "nie recht gemischt" (1143). Es bleibt die "wahre und anscheinend unentrinnbare Antithese" (1147). (3) Kunst und Dichtung

Die Bestimmung der Kunst, von der als "Abform" des aZ eben die Rede war, ergibt sich primär in Relation zum normalen Zustand. Sie hat die Aufgabe "unaufhörlicher Umformung und Erneuerung des Bildes der Welt und des Verhaltens in ihr, indem sie durch ihre Erlebnisse die Formel der Erfahrung sprengt." (1152) Die Sprengung des formelhaften Weltumgangs bedeutet nicht weniger als "eine Verneinung des wirklichen

208 S. 1145. Musil nennt den aZ auch "das Mark unsrer Moral und Idealität" (1144).

Lebens" (1140),darauf wird wiederholt zurückzukommen sein.

Eine Bestätigung dieser Auffassung scheint Musil in der kantischen Ansicht von der

"zwecklosen Schönheit" der Kunst zu sehen. Im Zusammenhang damit polemisiert er gegen "die Ästhetik unserer klassischen Zeit", der nachgesagt wird, daß sie:

"unter dem Serinissimustum litt (wie seltsam oft die Mischung von Kühnheit und Vorsicht bei Schiller!), ihre Bemühungen mehr daraufrichtete, diesem 'zwecklosen Schein' wieder einen bürgerlichen Platz und Würdigung zu sichern, als daß sie seinen lebensverneinenden Charakter betont hätte." (1140f.)

Neben diesem ersten, negativen Aspekt spricht Musil der Kunst ein zweites Wesensmerkmal zu. Dieses besteht darin, daß die nunmehr freigewordenen Einzelerlebnisse, also der sinnliche Stoff, als Realitätspartikelweiter behandelt werden.

So ist das Kunstwerk insgesamt zwar ein "reduziertes Geschehen" (1138) – weil durch Negation abstrahiert von der Realität –, aber ein solches, das "dennoch eine Illusion des Lebens erzeugt." (ebd.) (eben wegen der verarbeiteten Realitätspartikel).209

An die Frage, wie die Behandlung erfolgt, schließt sich im weiteren eine Differenzierung in zwei Kunstformen an. Denn die eine Möglichkeit besteht darin, die Einzelerlebnisse isoliert, d. h. ohne gedankliche Verbindung mit anderen, als

"Einzelrepräsentanten" zu inszenieren. Bei der anderen hingegen werden mehrere Realitätspartikel (= Einzelerlebnisse) in einen neuen gedanklichen Zusammenhang eingebunden: zu künstlichen "Konglomeraten". Zur ersten Gruppe zählt Musil allenfalls den Film, zur zweiten dagegen alle übrigen Künste. Diese allerdings können illegitimerweise zur ersten entarten, und zwar, indem sie das rationale Element (die Gedankenverbindung) vernachlässigen.210

Das eigentlich Charakteristische der Kunst besteht nach Musil jedoch erst darin, daß – im Falle der zweiten Gruppe – der neue Zusammenhang seiner Art nach ein "andrer",

"unwirklicher", "apokrypher" ist (1142). Ist die Herstellung eines solchen Zusammenhangs aber geglückt, "so bleibt nichts als das dunkle Gebiet des 'anderen Zustands', indem vorläufig alles aufhört." (1147)

Besteht der reine aZ in dem "Zusammenfließen" von allem jenseits von Denken und Stoff, so ist er in der Kunst in der schwächerenForm realisiert, daß die Einzelerlebnisse neu, nämlich "apokryph" vereint gedacht sind.

209 Siehe hierzu Musils Essay "Analyse und Synthese" von 1913 und seine Interpretation bei Luserke 1987, 40ff.

210210 S. 1139f.,1145-1149. Genau hier schließt Musil seine Kritik gegenüber "heute allgemein verbreiteten Irrlehren", namentlich Expressionismus und Impressionismus, aber auch der Theatermodeme an (1145), denen er als "Übersensiblen" (1147) vorwirft, zu versuchen, was unmöglich sei, nämlich durch Denkverzicht den aZ "zur Totalität 'strecken'" (1147) zu wollen (Musil nennt sie: "Versuche, größere Annäherung an den 'anderen Zustand' zu suchen", 1145). Unmöglich jedoch sei dies ebenso "wie das mystische Erlebnis ohne das rationale Gerüst einer religiösen Dogmatik, und die Musik ohne Lehrgerüst."

Musil beschließt das Kapitel mit dem selbstbewußten Urteil: "Damit ist das Wesen allzu optimistischer 'Befreiungsversuche' gerichtet." (1147)

In der ersten Gruppe der isolierten Einzelerlebnisse dagegen wird im "unmittelbaren Erlebnis" das ausgedrückt, was den aZ ausmacht: "die ganze Unendlichkeit und Unausdrückbarkeit, welche alles Daseiende hat." (1148) Musil spricht diesbezüglich auch vom "physiognomische[n] Eindruck", vom '"symbolischen Gesicht' der Dinge" (1142) und, genrespezifisch, der "Mystik des Films oder zumindest seine[r] Romantik." (1143)

Von entscheidender Bedeutung ist Musils weitere Bestimmung der aZ-Kunst. Er geht nämlich davon aus, daß es neben der beschriebenen ersten, unmittelbar-mystischen Kunst-Wirkung, dem, was er den "Entrückungsvorgang" nennt, als zweite eine

"Nachwirkung" gibt (1150). Denn selbst wenn die Kunst "so in sich gekehrt ist (wie die Musik), so voll gegenstandsloser Gestalt, abnorm gesteigerten Gefühls und unaussprechlicher Bedeutung [!]" – womit das aZ-Erlebnis umschrieben ist –, "irgend-wann fragt man sich, was es bedeutet hat, setzt es in Beziehung zur Gesamtperson, ordnet es sich auf irgendeine Weise ein." (1149, Herv. C.S.)

Mit dieser Frage nach der Bedeutung wird jedoch der Realitätsbezug hergestellt, ein Vorgang, den Musil als "Rückübersetzung" aus dem aZ, als "Berührungsfläche mit dem Normalzustand" beschreibt (1151). Dem aber – und das gilt es zu bedenken – kommt

"mindestens das gleiche Interesse [...] wie dem aktuellen Erlebnis selbst" zu (ebd., Herv.

C.S.). Was erst aller Erfahrung überhoben war, gewinnt retrospektiv einen begrifflich artikulierbaren und existentiell bedeutungsvollen "Sinn". Welcher Art dieser Sinn ist, sagt Musil allerdings nicht.