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Die schlagseitige Selektivität der Dunkelfeldforschung

I. Grundsätzliche Einwände gegen Dunkelfeldforschung

3. Die schlagseitige Selektivität der Dunkelfeldforschung

Neben den erkenntnistheoretischen und sozialpsychologischen Einwänden gegenüber der Dunkelfeldforschung respektive Opferbefragungen, lassen sich speziell gegen Op-ferbefragungen noch weitere Bedenken anführen.241

a) Grenzen bezüglich der erfragbaren Delikte

Diese beziehen sich insbesondere auf die Limitierung der erfragbaren Delikte, weshalb diese Problematik andernorts auch als „schlagseitige Selektivität“242 bezeichnet wurde.

Betroffen sind zunächst solche Delikte, die im Rahmen von Opferbefragungen über-haupt nicht erfragbar sind. Hierunter fallen diejenigen Vergehen und Verbrechen, die von vornherein gar kein Opfer243 oder keines im eigentlichen Sinn – also Privatperso-nen – haben.244 Weiterhin umfasst sind Delikte, die den Tod des Opfers zur Folge ha-ben oder solche, die das Opfer nicht bemerkt bzw. dieses „erst gar nicht recht weiß, ob es Opfer einer Straftat geworden ist oder nicht.“245 Dem eigentlichen Wortsinn nach folgerichtig kann in diesem Rahmen daher vom „absoluten Dunkelfeld“ gesprochen werden.246

Zum anderen sind Delikte denkbar, die zwar grundsätzlich „erfragbar“ sind, jedoch in der Regel weder der Polizei bekannt (bzw. angezeigt), noch üblicherweise in, zumin-dest deliktisch breitgefächerten,247 Opferbefragungen angegeben werden. Für diese Gruppe von Delikten wird vielfach der Begriff des doppelten Dunkelfeldes

239 Dazu auch Kreuzer, in: EG Brauneck, S. 101, 108.

240 Kreuzer, Kriminalistik 1976, 145, 146, mit einer ausführlichen Darstellung zu den möglichen Vor-teilen und zur Dringlichkeit mancher Ziele der Dunkelfeldforschung.

241 Zusammenfassend auch BMI/BMJ, 1. PSB, S. 14 f.

242 Kreuzer, in: EG Brauneck, S. 101, 108.

243 Sog. victimless crimes, z.B. Waffenhandel, Hehlerei oder Delikte im Rauschgiftbereich.

244 Z.B. Straftaten gegen Unternehmen, den Staat, die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder die Umwelt (hierzu neuerdings Pinski, Straftaten).

245 Schwind, Kriminologie, § 2 Rn. 53a, z.B. Betrug.

246 Vgl. Schneider, Kriminologie, S. 182; demgegenüber wird teilweise vom „relativen Dunkelfeld“

als dem aufgehellten Dunkelfeld gesprochen, vgl. BKA, PKS 2009, S. 8; zu beiden Begriffen siehe auch Schneider, Kriminologie, S. 182 f.

247 Schneider weist darauf hin, dass die Antwortbereitschaft bei spezifischen Delikten wahrscheinlich nur mit Opferbefragungen erfragt werden können, die auf diese Delikte spezialisiert sind, Schnei-der, Internationales Handbuch, S. 319, 322.

det.248 Diese Delikte sind zwar theoretisch erfragbar, lassen sich aber praktisch nur mit großen Einschränkungen erheben.249 Hierzu zählen insbesondere innerfamiliäre Ge-walttätigkeiten, Kindesmisshandlung bzw. sexueller Missbrauch von Kindern,250 Ver-gewaltigung in der Ehe bzw. die Partnergewalt, Gewalttätigkeiten unter Geschwistern sowie die Gewalt gegen alte Menschen und die sog. Pflegegewalt in Altersheimen.251 Neben Delikten, bei denen eine Beziehung zwischen Täter und Opfer besteht, umfasst das doppelte Dunkelfeld auch Straftaten mit fremdenfeindlicher Gesinnung.252

In diesem Zusammenhang spielen insbesondere Ängste und Befürchtungen um eine

„Verschlechterung der Lage oder eine Minderung des Familienansehens“253 und auch die „Scheu, sich gegenüber ihnen völlig fremden Interviewern mitzuteilen“254 eine Rolle.255 Darüber hinaus werden Straftaten innerhalb der Familie oftmals als „Privat-sache angesehen, die niemanden etwas angeht“256 oder die Tat wird erst gar nicht als

„kriminell“ interpretiert.257

Die Auswahl der erfragbaren Delikte beschränkt sich zumindest bei allgemeinen, be-völkerungsrepräsentativen Opferbefragungen daher auf Delikte, die vielfach unter dem Begriff des sog. street crimes subsumiert werden. Dies wird mancherorts als „ent-scheidende Schwäche“258 bzw. „entscheidende Grenze“259 von Opferbefragungen er-achtet. Entsprechend wird das methodische Verfahren teilweise als „sehr lückenhaft

248 Vgl.; Meier, Kriminologie, § 8 Rn. 15; ähnlich auch Schneider, Kriminologie, S. 182. Mit der vor-geschlagenen Einteilung wird die vielfach uneinheitliche, teilweise auch synonyme Verwendung (so der Hinweis bei Schwind, Kriminologie, § 2 Rn. 53c) der Begriffe des „absoluten“ und „doppel-ten“ Dunkelfeldes durchbrochen.

249 Dies trifft auch auf Delikte zu, „bei denen Täter und Opfer einverständlich zusammenwirken bzw.

Delikte, an denen das Opfer selbst beteiligt oder interessiert ist“ BMI/BMJ, 1. PSB, S. 14.

250 Hierzu aktuell Mosser, Wege aus dem Dunkelfeld.

251 Zu allem m.w.N. Schwind, Kriminologie § 2 Rn. 53. Dass die nicht erfragbaren Delikte jedoch nicht zwangsläufig einen gewalttätigen Hintergrund haben müssen, sondern auch Betrugs- und Diebstahlsdelikte oder die Schutzgelderpressung in den genannten Lebensbereichen nicht angege-ben werden, wird vielfach übersehen.

252 Dörmann bilanziert hierzu: „wegen nicht lösbarer methodischer Probleme […] nicht machbar“, Dörmann, Zahlen, S. 357. Da es aber zumindest theoretisch möglich wäre, sollen Straftaten mit rechtsfeindlicher Gesinnung nicht unter das absolute, sondern unter das doppelte Dunkelfeld sub-sumiert werden.

253 Schwind, Kriminologie, § 2 Rn. 53c.

254 Meier, Kriminologie, § 8 Rn. 15.

255 Killias stellt heraus, dass insbesondere im Bereich von sexueller Gewalt die Opfer sich weniger vor Schande, als vielmehr vor dem Eindruck, als „naiv“ oder „dumm“ zu gelten, fürchten. Killias, Kriminologie, S. 81. Überdies bilanziert Schneider, dass „die Befragten dem Interviewer […] die Antworten über ihr Opferwerden aus ähnlichen Gründen verweigern, aus denen sie es abgelehnt haben, ihre Viktimisierung bei der Polizei anzuzeigen“, Schneider, Internationales Handbuch, S. 322.

256 Wetzels et al., Kriminalität, S. 179 ff.

257 Wetzels et al., Kriminalität, S. 122, die u.a. Versuche vorgenommen haben, auch Teile des doppel-ten Dunkelfeldes aufzuhellen.

258 Weiß, Bestandsaufnahme, S. 12.

259 Göppinger, Kriminologie, § 23 Rn. 14; ähnlich auch Kreuzer, der von „wichtigster Grenze“

spricht: Kreuzer, NStZ 1994, 10, 14.

und anachronistisch“260 bezeichnet. Diese Feststellung ist vor dem Hintergrund, dass große Teile der organisierten Kriminalität wie der Wirtschaftskriminalität261 oder des Waffen- und Drogenhandels, aber wie gesehen auch Misshandlungen an Kindern, Frauen und Alten nur schwer in Opferbefragungen erfassbar sind, nicht von der Hand zu weisen.

Allerdings muss festgehalten werden, dass „der Rest erfragbarer Delikte immer noch einen Großteil dessen darstellt, was Betroffenheit und Kriminalitätsfurcht der Bürger unmittelbar auslöst und zum Kernbestand dessen gehört, was amtliche Kriminalstatis-tiken und strafjustiziellen Alltag bestimmt.“262 Darüber hinaus haben Opferbefragun-gen den entscheidenden Vorteil, dass neben der Ermittlung der Dunkelziffer-Relation weitere opferbezogene Informationen wie Kriminalitätsfurcht, Anzeigeverhalten und Ansehen der Polizei gewonnen werden können.

Von einer „entscheidenden Schwäche“ kann daher im Grunde nur die Rede sein, so-weit mit Opferbefragungen die (vollständige) Aufhellung des Dunkelfeldes beabsich-tigt wird.263 Neben Eigentums- und Vermögensdelikten, als dem „gegenwärtigen Hauptbefragungsgebiet von Opferbefragungen,“264 sollte dennoch im Bereich der oben genannten Delikte weitergeforscht und an Methoden gearbeitet werden, um auch diese schwer erfragbaren Deliktsbereiche besser erfassen zu können.265 Zur teilweisen Lö-sung des Problems bieten sich Kombinationen von Opfer- und Täterbefragung an.

b) Grenzen bezüglich der befragbaren Personen

Während sich die genannten Grenzen aus einer Kombination aus spezifischem Delikt und Täter-Opfer-Beziehung ergeben, werden Opferbefragungen in ihren Ergebnissen auch dadurch verzerrt, dass mit ihr bestimmte Bevölkerungs- und Personengruppen nicht oder nur sehr schwer erreicht werden können.266 Dazu zählen zunächst Nicht-sesshafte bzw. Obdachlose sowie andere Personen, die nicht unter einer festen Adresse erreichbar sind. Problematisch ist zudem die Erreichbarkeit von z.B. Krankenhauspati-enten oder auch pflegebedürftigen oder behinderten Personen. Zum anderen fallen

260 Sack, in: KKW, S. 105.

261 Auch sog. White collar crime, dazu auch BMI/BMJ, 2. PSB, S. 220 f. Zu Befragungen unter Ge-schäftsbetrieben siehe auch den Nachweis bei Heinz, in: FS Kury, S. 241, 246 (Fn. 21) und auch Ziegleder, Wirtschaftskriminalität, insb. S. 56 ff.

262 Kreuzer, NStZ 1994, 10, 15.

263 Entsprechend stellt auch Killias auf die Feststellung, dass mit Befragungen niemals die gesamte Kriminalität gemessen werden könne, die rhetorische Frage: „Doch ist das so schlimm?“ Killias, Grundriss, S. 85. Auch Kury/Obergfell-Fuchs/Würger stellen fest, dass „ein Forschungsansatz al-lein dadurch, daß der nur einen Teilbereich der Problematik abdeckt, nicht obsolet“ wird, Ku-ry/Obergfell-Fuchs/Würger, Kriminalität und Gemeinde, S. 21.

264 BMI/BMJ, 2. PSB, S. 17.

265 Insbesondere bei der Erfassung von Gewalt in der Familie, von Kindesmisshandlungen, von Ver-gewaltigung, aber auch von Schutzgelderpressung wurden in den letzten Jahren deutliche Fort-schritte gemacht, welche durch spezielle Fragestellungen das Einsatzgebiet von Opferbefragungen erheblich erweitern und auch bei lokalen Studien zum Einsatz kommen können.

266 Vgl. nur BMI/BMJ, 2. PSB, S. 14.

hierunter jedoch auch Personen aus spezifischen Milieus (z.B. Drogen- oder Prostitu-iertenszene) und Gefängnisinsassen.267

Zudem wird die Altersgrenze bei Opferbefragungen üblicherweise auf mindestens 14 Jahre oder sogar 18 Jahre festgelegt, sodass auch aus diesem Grund potentielle Opfer-gruppen übergangen werden.268 Dies ist gerade vor dem Hintergrund der o.g. innerfa-miliären Delikte nicht unproblematisch.

Zuletzt ergeben sich auch Einschränkungen bzgl. der Ergebnisse solcher Opferbefra-gungen, deren Erhebungsinstrument lediglich in deutscher Sprache vorliegt.269 Hier-durch werden ggf. ausländische Bürgerinnern und Bürger von der Befragung ausge-schlossen.270

4. Zwischenfazit

„Kann man sich Dunkelfeldforschung aus heutiger Kriminologie [...] nicht mehr weg-denken, so ist sie doch in ihren theoretischen und methodischen Grundlagen alles an-dere als abgeklärt.“271 Auf Grund der dargelegten Einwände sollte heute daher unbe-stritten sein, dass Dunkelfeldforschung kein überlegenes Mittel im Vergleich zur PKS darstellt. „Opferbefragungen zeichnen kein genaues [genaueres, der Verf.] Bild der Kriminalität, sondern eine andere – aber keineswegs weniger verzerrte – Realität als die PKS.“272

Ungeachtet der zahlreichen Einwände gegen Dunkelfeldforschung muss jedoch auch festgestellt werden, dass ohne Dunkelfelddaten „gänzlich ungewiss bleibt, ob die sta-tistischen Zahlen die Entwicklung der ‚Kriminalitätswirklichkeit’ widerspiegeln oder ob sie lediglich das Ergebnis einer Verschiebung der Grenze zwischen Hell- und Dun-kelfeld sind.“273 Vielmehr als ein Ersatz sollten Untersuchungen zum Dunkelfeld der Kriminalität daher als notwendige Ergänzung verstanden werden, die in der PKS

267 Insbesondere im letzten Fall erscheint eine Befragung aber auch wenig sinnvoll, da Delikte teilwei-se so zahlreich und bagatellhaft sind, dass sie nicht also solche gewertet werden, vgl. Kreuzer, NStZ 1994, 10, 14.

268 Weiß, Bestandsaufnahme, S. 59.

269 Eine Ausnahme bilden etwa die dritte Bochumer Opferbefragung (Schwind et al., Kriminalitäts-phänomene), die Studie von Baier et al. in Stade (Baier et al., Sicherheit und Kriminalität) oder diejenige aus Aalen, Stadt Aalen, Offizielle Bürgerbefragung 2002. Ein weiteres Problem ergibt sich in diesem Zusammenhang jedoch daraus, dass Ausländer „nicht selten durch ‚offizielle‘

Schreiben der Stadt oder gar der Polizei verunsichert werden, da sie den Inhalt und die Intention [...] nicht vollständig erfassen können“ Kury/Obergfell-Fuchs/Braun, Kriminologische Dunkelfeld-analyse, S. 9

270 Eine Übersicht, über die Art und Größe derjenigen Bevölkerungsgruppen, die aus bevölkerungsre-präsentativen Erhebungen ausgeschlossen werden, liefert Schnell, KZfSS 1991, 106 ff.

271 Kreuzer, in: EG Brauneck, S. 101, 103.

272 Schwind et al., Kriminalitätsphänomene, S.110 m.w.N.; vgl. auch Kaiser, Kriminologie § 37 Rn. 90.

273 Heinz, Wie sicher lebt man, S. 11; so auch BMI/BMJ, 2. PSB, S. 2.

findenden Selektionsprozesse, insbesondere hinsichtlich der Anzeige, zu erkennen und quantitativ einzuordnen.274

Zudem sind „Fragen nach Ausmaß und Struktur des Dunkelfeldes von Kriminalität [...] für die Kriminologie aus heuristischen ebenso wie aus kriminalpolitischen Grün-den von anhaltendem Interesse.“275 Dunkelfeldforschung trägt „zur theoretischen Kri-minologie ebenso bei wie zur praktischen Kriminalpolitik.“276 Letztlich bleibt daher festzuhalten, dass es „trotz aller Vorbehalte keine Alternative zur Dunkelfeldforschung als notwendige und unverzichtbare Ergänzung der amtlichen Kriminalstatistiken“277 gibt. Zwar sollte sich mithin die Frage nach dem „Ob“ von Dunkelfeldforschung res-pektive Opferbefragungen nicht stellen. Dennoch bleibt es Aufgabe der Forschung, weiterhin Lösungsmöglichkeiten für die Probleme, insbesondere solche im Bereich der Datenerhebung (dem „Wie“ der Durchführung), zu entwickeln.278