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5. Europäische Union

5.1 Die Europäische Union in der Ostseeregion

Die Stabilisierung der neuen Marktwirtschaften im östlichen Europa war eine gesamteuropäische Aufgabe. Grundlage jeglicher Stabilisierungspolitik war die schnelle Aufnahme von Verbindungen zwischen den neuen Demokratien und der EG. Dieses Ziel wurde in der Ostseeregion auf unterschiedlichen Wegen vertraglicher Bindungen angestrebt.

Bereits 1989 hatte die EG ein Handels- und Kooperationsabkommen mit der UdSSR abgeschlossen. Nach ihrer Unabhängigkeit konnten Estland, Lettland und Litauen 1992 mit der EG Abkommen über handelspolitische und wirtschaftliche Zusammenarbeit und 1995 asymmetrische EU-Freihandelsabkommen (außer im Agrar-, Stahl- und Textilbereich) erreichen. Durch die Unterzeichnung der ersten neu konzipierten Europa-Abkommen mit EG-Assoziation und asymmetrischer, stufenweiser Marktöffnung zum 1. Februar 1994 durch Polen hatte sich dieses bereits einen gewissen Vorsprung auf dem Weg nach Europa erarbeiten können.

Das Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit (PCA) von 1994 sollte Russland politisch und wirtschaftlich stärker an die EU binden, ohne Beitrittsstrategien anwenden zu müssen. Das Abkommen regelt die Erleichterung russischer Exporte in die EU unter Ausschluss des Agrar-, Textil- und Stahlbereiches und schafft bessere Bedingungen für westliche Investoren in Russland. Es trat jedoch aufgrund des langwierigen Ratifikationsprozesses und des Tschetschenien-Krieges erst 1997 in Kraft.

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Zwischenzeitlich konnte die EU ihren Einfluss in der nördlichen Ostseeregion weiter festigen.

Am 28. November 1994 lehnte zwar Norwegen in einem Referendum eine EU-Mitgliedschaft ab, Finnland und Schweden wurden jedoch am 1. Januar 1995 ohne Probleme aufgenommen.

Erst vier Jahre nach Polen gelang es den baltischen Staaten 1998, Europa-Abkommen zu schließen, die inzwischen als Beitritts-Dokumente verstanden wurden. Für die baltischen Regierungen bedeuteten diese Abkommen und die Teilnahme am Europäischen Stabilitätspakt ab 1995 die realistische Aussicht auf baldige Mitgliedschaft, die durch die offizielle Übergabe der Beitrittsanträge Lettlands, Estlands und Litauens 1995 unterstrichen wurde. Die EU rückte in den Blickpunkt des baltischen außenpolitischen Interesses, da sie eine gewisse Sicherheitsgarantie geben konnte und sich Russland, anders als zu den baltischen NATO-Plänen, nicht negativ äußerte.

Aufgrund der im Wesentlichen bilateralen Natur der EU-Kontakte in den Ostseeraum gab es lange Zeit keine spezifische EU-Ostseepolitik. Nach langjähriger Lobby-Arbeit hatten sich die Ostseeanrainer schließlich 1996 unter Führung Schwedens mit ihrer Forderung nach einer spezifischen EU-Ostseepolitik durchgesetzt. Niedergelegt in der Baltic Sea Region Initiative der EU-Kommission vom Mai 1996 umfassten die Haupthandlungsfelder politische Kooperation, Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen, Infrastruktur und Kommunikationssysteme, Umweltschutz, Forschungszusammenarbeit, Energiepolitik und Nuklearsicherheit, Gesundheitspolitik und den Kampf gegen Drogen und Aids. Die Umsetzung der Baltic Sea Region Initiative legte weitere Schwächen der EU-Ostseepolitik offen. Bisher hatte die EU auf eine interne Koordinierung der Ostseepolitik ebenso verzichtet wie auf eine Koordinierungsstelle für die Palette an EU- und internationalen Förderungsinstrumenten. Außerdem setzte sie weiterhin auf bilaterale Kontakte zu den einzelnen Regierungen der Ostseeanrainer. Das Baltic Joint Cooperation Committee wurde 1996 gegründet. Dieses Gremium, das sich aus Vertretern aller Ostseeanrainerstaaten sowie der EU-Kommission zusammensetzt, sollte die weitere enge inhaltliche und formale Verknüpfung der EU-Förderinstrumente sicherstellen und weiterentwickeln.

Die Teilnahme der EU an der Ostseekooperation rief in der Region die Erwartung hervor, Brüssel werde hier eine Führungsrolle übernehmen. Damit wurde die außenpolitische Kapazität der EU jedoch überschätzt, da diese aufgrund der institutionellen Hindernisse und Rivalitäten innerhalb der komplexen EU-Außenpolitik-Entscheidungsfindung außerordentlich differenziert ist. Brüssel zeigte sich auch nach 1996 weiter zurückhaltend, Verantwortung an Ostsee-Gremien abzugeben. Die Folge waren Ineffizienzen, da Umsetzungsmechanismen und Finanzierungsinstrumente weiter strikt bilateral gehandhabt wurden. Erschwerend für die

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Ostseepolitik im Rahmen der EU wirkte auch das Desinteresse der südeuropäischen Länder an einer Beachtung ostseeregionaler Probleme.

Der Europäische Rat beschloss 1997 die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit einer Gruppe von sechs wirtschaftlich fortgeschrittenen Staaten, wozu aus der Ostseeregion nur Polen und Estland gehören sollten. Diese Entscheidung wurde vom Rat 1999 unter stärkerer Berücksichtigung politischer statt wie bisher wirtschaftlicher Aspekte revidiert. Damit stand der Aufnahme von Verhandlungen mit sechs weiteren Staaten, darunter Lettland und Litauen, ab 2000 nichts mehr im Wege.

Die EU-Politik in der Ostseeregion konzentrierte sich folglich auf die rasche Durchführung der Beitrittsverhandlungen. In deren Verlauf wurden auch die verbliebenen estnischen und lettischen Streitpunkte mit Russland bezüglich der Sprachen- und Staatsbürgerschaftsgesetze geregelt. Die inzwischen eingetretene Verbesserung der Sicherheitssituation der baltischen Staaten durch die erneute Entspannung im russisch-europäischen Verhältnis nach der Übernahme der Präsidentschaft durch Wladimir Putin am 31. Dezember 1999 förderte zusätzlich den Beitrittsprozess, so dass der Europäische Rat von Laeken 2001 schließlich die EU-Beitrittsländer für 2004, diesmal inklusive Estland, Polen, Litauen und Lettland, bekannt geben konnte.

In der Ostseeregion verblieb damit als dringendstes Problem die Anbindung Kaliningrads an Russland. 2001 hatte die EU eine „Mitteilung der Europäischen Kommission an den Rat: Die EU und Kaliningrad“ präsentiert, in der sie den Willen bekundete, das Gebiet zu einer

„Pilotregion“ der Zusammenarbeit mit Russland zu machen. Für die europäischen Staaten zeigte sich hier erneut der hohe Wert der EU, die eine Kaliningrad-Politik betreiben konnte, ohne dass sich die nationalen Regierungen zu sehr aus dem Fenster lehnen mussten. Die

„Mitteilung“ stellte die Vorteile heraus, die aus der Anwendung der EU-Politiken durch Polen und die baltischen Staaten für Russland und besonders für Kaliningrad bei der Absenkung von Zolltarifen oder der Grenzabfertigung entstehen würden. Sie schlug außerdem variable Visa-Regelungen für Kaliningrad vor. Die Visa-Frage galt in der Folgezeit als dringlichstes internationales Problem in der Ostseeregion. Dabei hatten sich die europäische und die russische Haltung insoweit angenähert, als die EU willens war, die im Gemeinschaftsrecht angelegten Möglichkeiten von Sonderregelungen voll auszuschöpfen, während Russland den Kaliningradern einen Sonderstatus bezüglich ihres Zuganges zu Polen und Litauen bzw. zur EU zugestand.

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Am 1. Mai 2004 konnte der EU-Beitrittsprozess auch in der Ostseeregion abgeschlossen werden. Besonders markant ist der Übergang der zuvor durch die EU-Hilfsprogramme unterstützten Staaten in den Bereich der EU-internen Strukturfonds. An die Stelle des Programms PHARE trat mit dem EU-Beitritt ein neues Übergangsinstrument. Mit diesem soll in den neuen Mitgliedstaaten die Entwicklung und Stärkung der Verwaltungskapazitäten zur Umsetzung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in ausgewählten Schlüsselbereichen vorangetrieben werden. Die EU stellt hierfür in den ersten drei Jahren nach dem Beitritt Mittel in Höhe von 426 Mio. Euro zur Verfügung. Im Juli 2003 machte die Kommission dem Rat Vorschläge für die Einrichtung eines neuen Nachbarschaftsinstruments. Danach sollen die verbliebenen Förderinstrumente INTERREG und TACIS besser koordiniert werden. Ab 2006 soll es ein neues Förderinstrument geben, das auf alle Grenzregionen anwendbar sein und auf beiden Seiten der Grenze in gleicher Weise Unterstützung geben soll.

Hauptproblem der Ostseeregion bleibt aus Sicht der EU die Einbeziehung Russlands in den Nachbarschaftsbereich der Union. Die wechselseitigen Wirtschaftsbeziehungen sind bereits auf einem hohen Niveau angelangt. Die EU ist im Jahr 1999 mit 36,7% der russischen Importe und 33,2% seiner Exporte (davon zu rund einem Drittel Rohöl und Naturgas) der mit Abstand größte Handelspartner. Aus EU-Sicht war Russland mit 3,3% der EU-Importe und 1,9% der EU-Exporte (1999) der sechstgrößte Handelspartner mit steigender Tendenz.

Literaturempfehlungen:

Die Beziehungen zwischen der EU und der Ostseeregion werden in Helmut Hubel (Hrsg.):

EU Enlargement and Beyond: The Baltic States and Russia. Nordeuropäische Studien Band 18 (2002) ausführlich und aus unterschiedlichsten Perspektiven betrachtet.