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Die Erkundung des wissenschaftlich Unbewußten

Im Dokument Umgang mit Technik (Seite 73-80)

Eine „gesicherte" Basis, also eine unbestrittene und damit bequeme Meta­

Sicht auf Wissenschaft, auf ihre Regularien und Strukturen von einem theo­

retisch errichteten FeldÄemzhügel oder einen „objektiv(er)en" Maßstab für die Beurteilung des wissenschaftlich produzierten Wissens, vermag auch die Wissenschaftsforschung nicht zu bieten. Dies ist vorauszuschicken, um gleich die Reichweite dieser Perspektive einzuschränken; grundsätzlichen Zweifeln an ihrem Programm - Paul Feyerabend etwa bezeichnete die Wis­

senschaftstheorie als eine „bisher unbekannte Form des Irrsinns" - braucht allerdings nicht nachgegeben zu werden.7 Entstanden als interdisziplinäres Unternehmen, mit dem die „allseits verspürten Defizite" der disziplinären Traditionen von Wissenschaftstheorie, -Soziologie und -geschichte über­

wunden werden sollten8, bestehen unter ihrem Dach sehr heterogene, sich widersprechende und teilweise in sich widersprüchliche Ansätze relativ un-verbunden nebeneinander: „Sie reichen von dem Versuch, über die Analyse von Texten gesellschaftliche Einflüsse auf das wissenschaftliche Wissen her­

zuleiten, bis hin zur teilnehmenden Beobachtung von Forschern an der Stätte der materiellen Produktion wissenschaftlichen Wissens, dem natur­

wissenschaftlichen Labor."9 Nach Wolfgang Bonß und Heinz Hartmann verbindet diese sehr unterschiedlichen Frageprogramme der Wissenschafts­

forschung, daß sie letztlich alle als Reaktion auf den Prozeß der „Verwissen­

schaftlichung der Gesellschaft" interpretiert werden können, eine Entwick­

lung, die den angestammten Ort der Wissensproduktion verschiebe und damit die Privilegierung wissenschaftlichen Wissens systematisch untermi­

niere.10 Auf diese Prozesse reagiere die Wissenschaft - die sich nach der Herausforderung durch die konstruktivistische Erkenntnistheorie nicht länger auf eine vorgängig objektive Außenwelt berufen könne - mit Selbst-reflexivisierung.11

Die „neuere" Wissenschaftsforschung grenzt sich hierbei gegen die von Robert K. Merton begründete US-amerikanische Wissenschaftssoziologie ab, die unter Anbindung an die Theorie des Strukturfunktionalismus die

7 Feyerabend, Paul: Die Wissenschaftstheorie - eine bisher unbekannte Form des Irrsinns.

In: K. Hübner, A. Menne (Hg.): Natur und Geschichte. Hamburg 1973, S. 88-134.

8 Krohn/Küppers, Selbstorganisation, S. 7.

9 Hasse, Raimund, Georg Krücken, Peter Weingart: Laborkonstruktivismus. Eine wissen­

schaftssoziologische Reflexion. In: Gebhard Rusch, Siegfried J. Schmidt (Hg.): Konstruk­

tivismus und Sozialtheorie (Delfin 1993). Frankfurt/M. 1994, Suhrkamp, S. 220-262, S. 220.

10 Vgl. Bonß/Hartmann, Konstruierte Gesellschaft, S. 13f.

11 Ebd., S. 17. Vgl. zur Problematik der „Verwissenschaftlichung des Protestes gegen die Wissenschaft" und den folgenden „Remonopolisierungsbemühungen" der Wissenschaf­

ten Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Frankfurt/M. 1986, Suhrkamp, insbes. S. 259-280.

Zur Rolle der Wissenschaftsforschung als kritische Legitimationsinstanz der - wenn auch nur - relativen Geltung wissenschaftlichen Wissens in diesem Prozeß vgl. unten.

„vielfältigen normativen und institutionellen Arrangements"12 des Wissen­

schaftsbetriebes als Voraussetzungen der Generierung wissenschaftlichen Wissens analysierte. Diese in der Regel auf naturwissenschaftliche Diszipli­

nen ausgerichteten Untersuchungen konnten auf eine Problematisierung der Genese der Inhalte wissenschaftlichen Wissens verzichten und damit epistemologische Grundsatzfragen ausklammern13, da sie von der - letztlich positivistischen - Annahme ausgingen, „daß die Natur selber die letzten Antworten auf diese Fragen liefert, wobei Menschen nur Vermittler sind."14 Thomas S. Kuhns 1962 erschienene und 1969 durch ein Nachwort prä­

zisierte Studie „Structure of Scientific Revolutions"15 thematisierte demge­

genüber mit dem zentralen - wenn auch unscharfen - Begriff „Paradigma"

den bislang ausgeklammerten Bereich der Genese und Entwicklungslogik des wissenschaftlichen Wissens selbst.16 Mit dem Konzept des Paradigmas -verstanden als eine disziplin-spezifische, von einer Wissenschaftler-Ge­

meinschaft fraglos geteilte Sicht- und Erklärungsweise beobachteter Phäno­

mene - betonte Kuhn den dynamischen, nicht-linearen Charakter wissen­

schaftlicher Theorieentwicklungen, hielt dabei jedoch weitgehend an der Popperschen Vorstellung evolutionär-kumulativen Wissensfortschrittes fest.17 Gegen diese Position, die die Ursache wissenschaftlicher Revolutio­

nen in internen Eigenschaften rivalisierender Paradigmen sah,18 entstand vor allem in Großbritannien die „Soziologie des wissenschaftlichen Wis­

sens", die - ausgehend von der These der „Seinsbedingtheit des Denkens"

(K.Mannheim) - mit der Betonung der grundsätzlichen (sozialen und kul­

turellen) Relativität jeglicher Erkenntnis auch wissenschaftsexterne Fakto­

ren der Wissensproduktion und -Vermittlung berücksichtigte und vor allem fragte, „was als wissenschaftliches Denken zählt und wie es Geltung er­

langt."19 Diese Erweiterung der Frageperspektive auf epistemologische und gesellschaftstheoretische Problembereiche führte jedoch nach Einschätzung der Wissenschaftssoziologen Hasse, Krücken und Weingart zu einer

„Uberfrachtung" dieses Ansatzes, zu „zermürbenden Frustrationen aus­

12 Collins, H.M.: Die Soziologie des wissenschaftlichen Wissens. In: Bonß/Hartmann, Ent­

zauberte Wissenschaft, S. 129-149, S. 130.

13 Hasse/Krücken/Weingart, Laborkonstruktivismus, S. 225.

14 Collins, Soziologie, S. 130.

15 Chicago 1970, University of Chicago Press; dt.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolu­

tionen. Zweite revidierte Auflage. Frankfurt/M. 1976, Suhrkamp.

16 Kuhns wissenschaftstheoretische Arbeiten wurden hierbei stark von Ludwik Flecks Un­

tersuchungen aus den 30er Jahren zum Denkstil eines wissenschaftlichen Kollektivs be­

einflußt, auf die allerdings nur im Vorwort von Kuhn verwiesen werden; vgl. Kuhn, Struktur, S. 8.

17 Vgl. Kuhn, Struktur, S. 217, und Popper, Karl: Die Logik der Sozialwissenschaften. In:

Theodor W. Adorno et al.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Neuwied, Berlin 1969, Luchterhand, S. 103-124, S. 118f.

18 Hasse/Krücken/Weingart, Laborkonstruktivismus, S. 229.

19 Collins, Soziologie, S. 130.

weglosen Theoretisierens", die schließlich in einer strikten Ausrichtung auf empirische (Labor-)Studien Erlösung finden sollten.20

Im Gegensatz zu den bisher erwähnten Ansätzen, die sich nahezu aus­

schließlich auf die soziologische Analyse naturwissenschaftlicher Wissens­

produktion richten, unterzieht Pierre Bourdieu in seinen Studien gerade die

„soziologische Vernunft einer soziologischen Kritik", indem er die soziale Genese der sozialwissenschaftlichen Denkkategorien, die Herkunft der ver­

wendeten Konzepte und die soziale Genese der Probleme untersucht, die die Soziologie sich vorgibt.21 Sein Programm einer „Objektivierung des ob­

jektivierenden Subjekts" besteht vor allem darin, „zwei Beziehungskomple­

xe zusammen[zu]bringen: den Raum der Werke oder Diskurse im Sinne unterschiedlicher [wissenschaftlicher] Stellungnahmen - und den Raum der Positionen"22 derjenigen im akademischen Betrieb, die diese Stellungnah­

men abgeben. Bourdieu greift damit die zentralen Fragen der Wissen­

schaftsforschung - insbesondere die Probleme der „Produktionsstruktu­

ren", der Genese und Geltung wissenschaftlichen Wissens - auf. Er beruft sich bei seinem Plädoyer für eine antinarzißtische Reflexivität der Wissen­

schaften allerdings auf eine andere Wissenschaftstradition: die französische Epistemologie, die in der angelsächsischen Wissenschaftsforschung bislang kaum rezipiert wurde,23 und wendet deren Problematisierung der (natur­

wissenschaftlichen) Erkenntnis auf die Sozialwissenschaften an.24

Von der Epistemologie Gaston Bachelards und von Georges Canguil­

hem, dessen Nachfolger als Direktor des Instituts für Wissenschafts- und Technikgeschichte an der Pariser Sorbonne, übernimmt Bourdieu die Ein­

sicht in die Diskursivität aller Erkenntnisprozesse und die Kritik an einer

20 Hasse/Krücken/Weingart, Laborkonstruktivismus, S. 230; vgl. dort auch die sehr kriti­

sche Analyse der expliziten Programmatik und impliziten Theorien dieser Studien, die durch eine Übernahme ethnomethodologischer und anthropologischer Zugangsweisen zum Forschungsfeld bei gleichzeitig weitgehend unreflektierter Konstruktion des For­

schungsgegenstandes gekennzeichnet seien. Hasse/Krücken/Weingart bemängeln vor allem die unzulänglichen theoretischen Reflexionen dieses „going native", wodurch die beanspruchte konstruktivistische Forschungsperspektive nicht eingelöst werde. Diese harsche Kritik ist insbesondere gegenüber den Arbeiten Karin Knorr-Cetinas nicht be­

rechtigt, die zumindest in ihren späteren Aufsätzen mit dem von Bourdieu entwickelten Ansatz arbeitet (Knorr, Karin D.: Zur Produktion und Reproduktion von Wissen: Ein deskriptiver oder ein konstruktiver Vorgang? In: Bonß/Hartmann, Entzauberte Wissen­

schaft, S. 151-177); vgl. zu Bourdieus Ansatz unten.

21 Vgl. Bourdieu, Pierre: Homo Academicus. Frankfurt/M. 1992, Suhrkamp, S. 10.

22 Ebd., S. 17.

23 Vgl. Lepenies, Wolf: Vorbemerkung. In: Wolf Lepenies (Hg.): Georges Canguilhem: Wis­

senschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze. Frankfurt/M. 1979, Suhr­

kamp, S. i-iii, der in der ausgebliebene Rezeption der Werke von Bachelard und Can­

guilhem den Grund für vermeidbare Umwege und Sackgassen der Wissenschaftsfor­

schung sieht.

24 Vgl. Bourdieu, Reflexivität, S. 367f.

„kontinuistischen Wissenschaftsgeschichtsschreibung".25 Neben solchen allgemeinen Bedingungen der Erkenntnis macht Bourdieu zusätzlich die speziellen universitären Bedingungen der wissenschaftlichen Erkenntnis zum Thema: „the scientific field is the locus of a competitive struggle, in which the specific issue at stake is the monopoly of scientific authority, de-fined inseparably as technical capacity and social power, or, to put it another way, the monopoly of scientific competence, in the sense of a particular agent's socially recognised capacity to speak and act legitimately (i.e. in an authorised and authoritative way) in scientific matters."26 Für Bourdieu sind damit epistemologische Konflikte immer auch politische Konflikte, in de­

nen um die Definitionsmacht über ein wissenschaftliches Teilgebiet - „the delimination of the field of problems, methods and theories, that may be re-garded as scientific"27 - ebenso gerungen wird wie um das symbolische Ka­

pital, also die Reputation der Forscher.28 Was Kuhn als „Paradigma" kenn­

zeichnete, ist in Bourdieus Prozeßanalyse wissenschaftlicher (Konkur-renz-)Praxis nur die zu einem bestimmten Zeitpunkt gültige „official fic-tion", mit der die „scientific Community" die je gültige wissenschaftliche Orthodoxie legitimiert; Bourdieu ersetzt damit das Wahrheits- durch ein Gültigkeitskriterium.29

25 Vgl. hierzu insbes.: Canguilhem, Georges: Die Geschichte der Wissenschaften im episte-mologischen Werk Gaston Bachelards. In: Wolf Lepenies (Hg.): Georges Canguilhem:

Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze. Frankfurt/M. 1979, Suhrkamp, S. 7-21. Sowohl Canguilhem als auch Bachelard beschränkten die Episte­

mologie auf eine Analyse der Naturwissenschaften; eine Übertragung auf die Geisteswis­

senschaften wurde von Bachelard explizit ausgeschlossen, da deren Fachgegenstand „poe­

tische Sinneffekte" produziere: sie seien epistemologisierungsunfähig (vgl. hierzu und zu einer wissenschaftstheoretischen Einordnung Bachelards Balke, Friedrich: Nachwort zur Neuausgabe - Das Ethos der Epistemologie. In: Bachelard, Gaston: Epistemologie. Neu­

ausgabe. Frankfurt/M. 1993, Fischer, S. 235-252, hier S. 236).

26 Bourdieu, Pierre: The specificity of the scientific field and the social conditions of the progress of reason. In: Social Science Information 14/1975, S. 19-47, S. 17 (kursiv i.O.).

27 Bourdieu, Specificity, S. 23.

28 Wolf Lepenies weist darauf hin, daß sich generell seit den 70er Jahren eine Tendenz ab­

zeichne, Prozesse der Wissenschaftsentwicklung statt wie zuvor mit einer Metaphorik der

„naturnahen Schilderung von Wachstumsprozessen" mit einem Vokabular zu kennzeich­

nen, „mit dessen Hilfe der Absolutismus oder das Ancien Regime etablierter Theorie­

traditionen anprangernd beschrieben werden, deren Unfähigkeiten und Ungerechtigkei­

ten nurmehr mit Staatsstreichen oder Revolutionen begegnet werden kann." (Studien, S. vi) Bourdieu geht über solche metaphorische Kritik hinaus, da er Politik im akademi­

schen Milieu als funktionale Kategorie analysiert.

29 Bourdieu teilt damit die wahrheitsrelativistischen Positionen der britischen „Soziologie des wissenschaftlichen Wissens"; die stärkere Dominanz sozialer Faktoren bei der Beur­

teilung der Gültigkeit wissenschaftlichen Wissens trägt ihm von Hasse/ Krücken/Wein­

gart (Laborkonstruktivismus, S. 239, Fußmote 41) die Kritik ein, er lege letztlich ein „öko­

nomisches Modell wissenschaftlichen Handelns" vor. Diese pauschale Kritik trifft sicher­

lich nicht zu, enthält aber ihren wahren Kern in der Tatsache, daß Bourdieus Praxis­

konzept (Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kaby-lischen Gesellschaft. Frankfurt/M. 1979, Suhrkamp) von einem auf soziale und kulturelle

Für den weiteren Gang dieser Untersuchung ist insbesondere eine dreifa­

che Unterscheidung hilfreich, die Bourdieu vornimmt: Er differenziert zwi­

schen wissenschaftlicher Orthodoxie - der institutionell abgesicherten und legitimierten Abgrenzung eines Gegenstandsbereiches, der verwendeten Methoden und Theorien -, der Heterodoxie - revolutionären Herausforde­

rungen der Orthodoxie - und den Doxien - „the aggregate of the presuppo-sitions which the antagonists regard as self-evident and outside the area of argument, because they constitute the tacit condition of argument"30. Fach­

konflikte sieht Bourdieu damit durch „epistemologische Paare" geprägt -für die Sozialwissenschaften Ende der 60er Jahre etwa Adorno und Popper -, die das Feld legitimer orthodoxer sowie heterodoxer wissenschaftlicher Argumentation abstecken und damit eine Thematisierung der Doxien ver­

hindern. Es ist eine „objective relationship between opposing accomplices who, through their very antagonism, demarcate the field of legitimate argu­

ment, excluding as absurd, eclectic, or simply unthinkable, any attempt to take up an unforeseen position"31. Diese Thematisierung der Orthodoxien, Heterodoxien und Doxien steht ganz in der Tradition von Bachelard, Can­

guilhem und Foucault, die alle drei auf die ausgrenzende Macht von Diskur­

sen hingewiesen haben. Insbesondere Bachelard thematisiert mit dem Be­

griff des „epistemologischen Hindernisses"32 eben diesen Effekt der in den offiziellen Diskursen nicht thematisierten und damit wissenschaftlich unbe­

wußten, aber folgenreichen Vorannahmen über die Untersuchungsgegen­

stände einer Wissenschaft. Bourdieu greift diese von Bachelard, Canguil­

hem und Foucault verfolgte epistemologische Fragestellung auf und wendet sie im Rahmen des Selbstreflexivitätsprojektes der Wissenschaftsforschung auf die soziologische „Erforschung des wissenschaftlich Unbewußten" der Gesellschaftswissenschaftler an.

Der Bourdieusche Ansatz eröffnet damit eine etwas andere Perspektive auf die von Kuhn herausgearbeiteten Paradigmen eines wissenschaftlichen Faches: Sie stellen demnach die je herrschende Orthodoxie einer Disziplin dar, gegen die ebenso legitime heterodoxe Positionen Stellung beziehen können. Mit diesen beiden Bereichen ist jedoch nur der Teil der Problem­

abgrenzungen, Vorannahmen über den Forschungsgegenstand und Mo­

Phänomene übertragenen und an die Spezifität sozialer und kultureller Prozesse angepaß­

ten Marktmodell her argumentiert. Dieser Ansatz liegt auch den wissenschaftstheoreti­

schen Überlegungen Bourdieus zugrunde, ohne daß dies expliziert würde.

30 Bourdieu, Specificity, S. 34 (kursiv von mir, S.B.); Bourdieu argumentiert hiermit sehr ähnlich wie Michael Polanyi in seinem 1966 veröffentlichten Buch „The Tacit Dimen­

sion" (dt.: Implizites Wissen. Frankfurt/M. 1985, Suhrkamp), in dem die Bedeutung des

«tacit knowledge" als Voraussetzung jeglicher wissenschaftlicher Arbeit beschrieben wird.

31 Bourdieu, Specificity, S. 39f.

32 Vgl. etwa Bachelard, Gaston: Epistemologie. Neuausgabe. Frankfurt/M. 1993, Fischer Verlag, S. 220.

dellvorstellungen bezeichnet, der im wissenschaftlichen Diskurs explizit thematisiert wird. Die Doxien hingegen bleiben verdeckt, sie stellen das stillschweigende Set an Vorannahmen einer Disziplin dar. Mit den Doxien thematisiert Bourdieu die Ursache der „blinden Flecke" wissenschaftlicher Beobachtung, die Erkenntnishindernisse, die im offiziellen Diskurs unbe­

wußt bleiben. Für die weitere Untersuchung der wissenschaftlichen Kon­

zepte und Vorannahmen der Volkskunde, die zu einer Vernachlässigung der Thematisierung von Technik führten, ergibt sich aus diesen Überlegun­

gen, daß neben den in den großen wissenschaftstheoretischen Debatten der Volkskunde explizit benannten theoretischen und methodischen Konzep­

ten auch deren Doxien zu untersuchen sind: Es soll im folgenden insbeson­

dere auf mögliche „Erkenntnishindernisse" und die durch stillschweigende Vorannahmen verursachten „blinden Flecke" geachtet werden.

Niklas Luhmann weist darauf hin, daß Paradigmen eine „Unterbrechung von Selbstreferenz"33 einer Wissenschaft darstellen. Ein solcher „Systemzu­

stand" ist für die von Kuhn beschriebene „normale Wissenschaft"34 kenn­

zeichnend: So stellen etwa die in der Fachgeschichte der Volkskunde recht zahlreichen Aufsätze „Die Volkskunde als Wissenschaft" Versuche dar, für die Disziplin paradigmatischen Status zu erlangen und damit eine entlasten­

de Unterbrechung der Selbstreferenz zu erreichen, um „normale", vom per­

manenten selbstreflexiven Rekurs freigestellte Forschung zu ermöglichen.

Gleichzeitig sollen die Disziplin und die in ihr Arbeitenden im akademi­

schen Milieu legitimiert und damit der wissenschaftliche Status der For­

schungsergebnisse als Voraussetzung des geregelten interdisziplinären Austausches' abgesichert werden.35 Dieser Zusammenhang kann mit den von Wolf Lepenies36 entwickelten Begriffen der kognitiven, sozialen und historischen Fachidentität verdeutlicht werden, mit denen diese disziplinä­

ren Stabilisierungsbemühungen auf Zeit gefaßt werden können. Kognitive Identität meint hierbei die Betonung der Kohärenz der Orientierungen, Problemstellungen, Erklärungsweisen und Methoden, mit denen das jewei­

lige Theorie- oder Forschungsprogramm von konkurrierenden Program­

33 Luhmann, Wissenschaft, S. 503.

34 Kuhn, Strukturen, S. 37ff.

35 Die Unterbrechung der wissenschaftlichen Selbstreferenz mittels Paradigmatisierung hatte möglicherweise für die von Kuhn beschriebene „normale Wissenschaft" seine Be­

rechtigung, ist m.E. jedoch unter den gegenwärtig gesellschaftlich erzwungenen Anfor­

derungen an wissenschaftliche Selbstreflexivität nicht mehr adäquat. Insofern kann die Wissenschaftsforschung - positiv betrachtet - als Beitrag zu der gegenwärtig notwendi­

gen Entparadigmatisierung von Wissenschaft interpretiert werden. Bourdieus Arbeiten sind sicherlich dieser Aufgabe verpflichtet. Allerdings lassen sich gegenwärtig auch Ten­

denzen beobachten, die auf eine Indienstnahme der Wissenschaftsforschung zur Remono-polisierung des wissenschaftlichen Wahrheits- und Herrschaftsanspruches deuten und sie zu einer Rechtfertigungstheorie machen; vgl. Bourdieu, Specificity, S. 37, oder Beck, Risi­

kogesellschaft, S. 278ff.

36 Vgl. hierzu Lepenies, Studien, S. i-iii.

men unterschieden wird. Soziale Identität soll mit organisatorischer und in­

stitutioneller Stabilisierung erreicht werden, die dem Kampf um das Uber­

leben und dem Erhalt akademischer Reputation dient. Historische Identität besteht in der (Re-)Konstruktion einer disziplinären Vergangenheit, mit der gleichfalls die Distinktion gegenüber Konkurrenzdisziplinen sichergestellt und die frühzeitige Binnendifferenzierung des Faches verhindert werden soll.

Lepenies betont insbesondere die Bedeutung von „Immunisierungs- und Abwehrleistungen"37, die programmatische Definitionen eines Faches ge­

genüber Konkurrenzdisziplinen besitzen. Hieraus leitet er ab, daß eine Fachgeschichtsschreibung, die sich allein an den „kognitiven Gehalten" ei­

ner Disziplin orientiere und von deren stetiger Erweiterung ausgehe38, prä-sentistische Verkürzungen produziere. Sie lasse nicht nur soziale Faktoren der Produktion, Selektion und Speicherung wissenschaftlicher Alternativen unberücksichtigt, sondern projiziere auch das gegenwärtige Bild einer Dis­

ziplin unzulässigerweise in die Vergangenheit39, ein auch in den Wissen­

schaftsgeschichtsschreibungen und Uberblicksartikeln der Volkskunde vorherrschendes Verfahren, das Wolf gang Brückner als „unreflektierte Dauerreflexion"40 kritisiert.

37 Lepenies, Studien, S. xx.

38 Als negatives Beispiel einer solchen „kontinuistischen" Konstruktion disziplinarer Ver­

gangenheit und Gegenwart sei hier „Die Wissenschaftstheorie der deutschen Volkskun­

de" Herbert Freudenthals (= Schriften des Niedersächsischen Heimatbundes, N.F., Bd.

25. Hannover 1955, Niedersächsischer Heimatbund e.V. Hannover, insbes. S. 7ff.) er­

wähnt. Ein solches Verfahren, in dem die Fachkontinuität betont und die (epistemologi-schen) Brüche der Theorie- und Problemkonstruktionen vernachlässigt werden, kann auch unter kommunikationstheoretischen Gesichtspunkten kritisch analysiert werden.

Peter Fuchs (Moderne Kommunikation. Zur Theorie des operativen Displacements.

Frankfurt/M. 1993, Suhrkamp, S. 49ff.) weist auf die herausgehobene Position der „dritten Zeitstelle" in Kommunikationssituationen hin: So reagiert etwa ein Sprecher an der dritten Zeitstelle korrigierend auf die Äußerung seines Gegenübers (= zweite Zeitstelle), wenn er fürchten muß, in seiner ersten Äußerung (erste Zeitstelle) mißverstanden oder nicht völlig verstanden worden zu sein. Analog können traditionelle Fachgeschichtsschreibun­

gen als Versuch gewertet werden, die „dritte Stelle" innerhalb der Fachdebatten zu beset­

zen: Der Fachhistoriker konstruiert mit seiner Darstellung einen linearen Ablauf der Fachdiskussionen (durch Berufung auf „Vorläufer" oder durch Ausschluß von „Irrtü­

mern") und setzt sich selbst an die Pfeilspitze des beschworenen Vektors der Fachent­

wicklung.

39 Vgl. hierzu in Bezug auf volkskundliche Fachgeschichtsschreibungen Gerndt, Helge:

Einleitung. In: Ders. (Hg.): Fach und Begriff „Volkskunde" in der Diskussion. Darmstadt 1988, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 1-21, S. 5f.; Gerndt warnt insbesondere da­

vor, Fachgeschichte unter der Prämisse der Sinnstiftung für die gegenwärtige Wissen­

schaftspraxis zu rekonstruieren. Andererseits weist Gerndt explizit darauf hin, daß jede historische Rekonstruktion notwendig Selektion sei - das „Objektivitäts"problem wird so zwar angesprochen, jedoch nur appellhaft problematisiert.

^0 Brückner, Wolfgang: Die Wissenschaftsgeschichte der Volkskunde und die Institutionen-Erforschung in den Geisteswissenschaften. In: Ders. (Hg.): Volkskunde als akademische Disziplin. Studien zur Institutionenausbildung. Referate eines wissenschaftlichen Sympo­

Im folgenden müssen daher disziplinkonkurrentielle ebenso wie institu­

tionelle Kontexte der wissenschaftlichen Problem- und Theorieproduktion zumindest angedeutet werden.41 Dabei sind Fachkonflikte und -debatten eher auf die unstrittigen Doxien zu befragen, während Ortho- und Hetero-doxien nur einen untergeordneten Stellenwert einnehmen. Diese Untersu­

chungsperspektive weist damit Ähnlichkeiten mit der von Hermann Bau­

singer vorgetragenen (Ideologie-)Kritik der volkskundlichen Forschungen auf, mit der er das Untersuchungsdesign volkskundlicher Studien kritisiert, die die Kontinuitätsannahmen gegenüber volkskulturellen Erscheinungen unbefragt ließen.42

Im Dokument Umgang mit Technik (Seite 73-80)