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Annäherungen

Im Dokument Umgang mit Technik (Seite 33-70)

Die exemplarische - und notwendig unzulängliche - Vorstellung einiger volkskundlicher Studien, die Technik in ihren Auswirkungen auf den All­

tag oder die (Alltags-)Kultur thematisieren, wird mit den auch von Martin Scharfe als vorbildhaft charakterisierten Entwürfen von Ulrich Bentzien, Hermann Bausinger, Rudolf Braun und Wilhelm Brepohl begonnen. Die beiden erstgenannten Arbeiten lassen sich etwas vergröbernd als Streit­

schriften gegen vorherrschende Interpretamente der Volkskunde charakte­

risieren, mit denen die Volkskultur als „vor-technische Veranstaltung"26 de­

finiert wurde. Das jeweilige Generalthema „Technik und Lebenswelt" bzw.

„Technik und Volks kultur" dient diesen Arbeiten als Ausgangspunkt, von dem aus zentrale Vorannahmen revidiert werden sollen. Die Arbeiten von Braun und Brepohl variieren dieses Thema, indem sie den Industrialisie-rungs- und Modernisierungsprozeß in seinen Auswirkungen auf die Volks­

kultur von der Durchsetzung der Fabrikarbeit her interpretieren; Technik ist hier eher sekundäres Thema. Während Bentzien und Braun sich bei aller Kritik noch weitgehend an den volkskundlichen Konventionen der Themenfindung, vorherrschender Interpretamente und Schreibweisen ori­

entieren, sind die Arbeiten Brepohls und vor allem Bausingers durch ein konsequentes Revisionsinteresse gekennzeichnet. Mit der etwas ausführli­

cheren Darstellung dieser vier Studien wird gleichzeitig einem „Minimum an »historiographischer« Tätigkeit"27 Genüge geleistet, indem exemplarisch der volkskundliche Forschungsstand bei der Thematisierung von Technik um 1960 nachgezeichnet wird.28 Diese vier Studien werden dabei gleichzei­

tig als Vorschläge interpretiert, den für das Fach charakteristischen „style of reasoning" zu revidieren. Von diesen Arbeiten der deutschsprachigen Volkskunde gingen in den 60er Jahren bedeutende Impulse aus, die zur Re­

form der Volkskunde in den 70er wesentlich beitrugen, weshalb jeweils kurz auf den fachtheoretischen Argumentationskontext eingegangen wird.

Ulrich Bentzien: Jenseits der Untergangsstatistiken

Bentziens Arbeit „Das Eindringen der Technik in die Lebenswelt der mecklenburgischen Landbevölkerung" wurde 1961 beim Berliner Akade­

26 Bausinger, Volkskultur, S. 3.

27 Krohn/Küppers, Selbstorganisation, S. 84.

28 Diese Rekonstruktion der Konturen der volkskundlichen Forschungslandschaft ge­

schieht natürlich nicht interesselos: Sie ist eine Stilisierung, die die Anschlußfähigkeit der hier vertretenen Thesen sowohl an den disziplinären Gegenstand der Volkskunde als auch an einige Theorien und Konzepte der Soziologie sowie der Technikphilosophie sicherstellen soll. Die Perspektive auf die untersuchten Studien wird also durch einen modifizierten „style of reasoning" bestimmt, der v.a. in veränderten disziplinären Bezü­

gen zum Ausdruck kommt.

mie-Institut für deutsche Volkskunde der DDR als Dissertation einge­

reicht, das sich insbesondere die „Erforschung des werktätigen deutschen Volkes in seiner materiellen und geistigen Kultur"29 zum Ziel gesetzt hatte.

Diese programmatische Ausrichtung des Akademie-Institutes war bereits 1952 von Wolfgang Steinitz auf dem 8. deutschen Volkskundetag in Passau bzw. ein Jahr später auf dem ersten Volkskundekongreß der DDR in Berlin formuliert worden.30 Die dort durchgeführten Untersuchungen waren vor allem auf die beiden Forschungsschwerpunkte „demokratisch-revolutionä­

re und antifeudale Traditionen in der Volksdichtung" und den „Beitrag ländlicher Sozialgruppen des werktätigen Volkes zur Entwicklung der agra­

rischen Produktionsweisen" gerichtet.31 Durch die 1955 eingerichtete „For­

schungsstelle für Agrarethnographie" bzw. die „Abteilung für die Erfor­

schung der bäuerlichen Arbeit und Wirtschaft" am Berliner Akademie-In­

stitut entstand auch ein institutioneller Rahmen, aus dem in den folgenden Jahren eine Vielzahl von Arbeiten hervorgingen,32 deren zeitlicher Schwer­

punkt überwiegend „bei Erscheinungen lag, die noch im Feudalismus wur­

zelten."33 Diese Charakterisierung trifft auch auf die im folgenden vorge­

stellte Arbeit Bentziens zu, der in seiner im 18. Jahrhundert einsetzenden Analyse den Transformationsprozeß von der feudal geprägten Agrarstruk­

tur zu einer agrarindustriellen Produktionsweise nachzeichnet. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt dabei auf der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Allerdings trägt er den Forderungen W.Jacobeits nach einer mit komplexen Methoden vorangetriebenen Erforschung der „Kulturgeschichte des werk­

tätigen bäuerlichen Menschen von früheren Epochen bis zur Gegenwart"34

29 Steinitz, Wolfgang: Die volkskundliche Arbeit in der Deutschen Demokratischen Re­

publik (= Studienmaterial für die Bildungs- und Erziehungsarbeit der Volkskunstgrup­

pen. Sonderreihe zur Volkskunstforschung, H. 1), 2. Aufl. Leipzig 1955, S. 30.

30 Vgl. hierzu Jacobeit, Wolfgang: Bäuerliche Arbeit und Wirtschaft. Ein Beitrag zur Wis­

senschaftsgeschichte der deutschen Volkskunde. Berlin 1965, Akademie-Verlag, S. 147.

31 Zur theoretischen und thematischen Ausrichtung dieser Arbeiten vgl. Jacobeit, Wolf­

gang, Ute Mohrmann: Zum Gegenstand und zur Aufgabenstellung der Volkskunde in der DDR. In: Gerndt, Helge (Hg.): Fach und Begriff „Volkskunde" in der Diskussion.

(= Wege der Forschung, Bd. 641) [erstmals in: L'etopis: Reihe C, Volkskunde 11/12 (1968/69), S. 94-103.] Darmstadt 1988, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 209-222, S. 209ff.

32 Jacobeit (Bäuerliche Arbeit, S. 148f.) listet ein ganze Reihe von Monographien auf, die aus diesem Arbeitszusammenhang entstanden: neben der Dissertation von Bentzien u.a.

Friedrich Sieber (1959): Die bergmännische Lebenswelt als Forschungsgegenstand der Volkskunde, Wolfgang Jacobeit (1961): Schafhaltung und Schäfer bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Reinhard Peesch (1961): Die Fischerkommünen auf Rügen und Hid-densee, Rudolf Weinhold (1963): Stand und Aufgaben einer volkskundlichen Erfor­

schung des Weinbaues im Saale- und Unstrutgebiet.

33 So die Einschätzung von Jacobeit/Mohrmann (Zum Gegenstand, S. 211), die es vor al­

lem als Verdienst Paul Nedos ansehen, ab Mitte der 1960er Jahre auch auf die volks­

kundliche Untersuchung „der Werktätigen unter den Bedingungen des Kapitalismus"

hingewirkt zu haben.

34 Jacobeit, Bäuerliche Arbeit, S. 148.

dadurch Rechnung, daß er auch aktuelle Entwicklungen, wie etwa die Aus­

wirkungen der Bodenreform und die Gründung von LPGs in der DDR, in seine Studie einbezieht.

Der weitaus größte Teil der Untersuchung Bentziens beruht auf der In­

terpretation von empirischem Material, das Richard Wossidlo zwischen 1889 und 1939 in Mecklenburg erhoben hatte.35 Zusätzlich wird noch land­

wirtschaftsgeschichtliche Literatur und Archivmaterial herangezogen; im letzten Teil seiner Arbeit, der sich mit den Entwicklungen im 20. Jahrhun­

dert beschäftigt, wertet er auch selbst erhobenes ethnographisches Material aus.36 Bentzien ist sich der Problematik sehr bewußt, die bei der Arbeit mit dem unter ganz anderen Fragestellungen entstandenen und nach traditio­

nellen volkskundlichen Kategorien wie Sage, Märchen, Schwank etc. geglie­

derten Wossidlo-Archiv zu berücksichtigen war. So führt er die geringe Menge des von ihm verwertbaren einschlägigen Materials aus dem Gesamt­

bestand des Archivs auf Wossidlos „ausgesprochen romantisch beeinflußte und stets auf das Alter des Uberlieferungsgutes bedachte Sammlernatur"

zurück, die „der Aufzeichnung moderner Ausformungen vielleicht doch hier und da instinktiv widerstanden hat."37 Aber nicht nur quantitativ mel­

det Bentzien Zweifel an seinem Material an: Auswirkungen der Technik sind in dem zugrundeliegenden, traditionell volkskundlichen Material auch deshalb kaum zu beobachten, weil die „Technik und ihre sozialökonomi­

schen Begleiterscheinungen ... ihrerseits den Rahmen der Lebenswelt ge­

sprengt [haben], in den die Sage, das Märchen, das Volkslied als verdichtete Aussageformen gespannt waren".38 Das von ihm auswertbare Material ent­

stammt daher einer schmalen „Grenzzone", in der sich Technik gerade durchzusetzen beginnt, ohne daß die veränderten sozialökonomischen Be­

dingungen die volkstümlichen Formen bereits völlig zerstört haben.39 For­

schungen, die sich am traditionellen volkskundlichen Kanon orientieren,

35 Bentzien (Das Eindringen, S. 13) gibt wichtige Hinweise zu Herkunft und Charakter des von ihm ausgewerteten Materials: „ohne daß [Wossidlo] systematisch nach der Stel­

lung seines Landvolkes zur Technik geforscht hätte, notierte er doch gewissenhaft sol­

che zwanglos gemachten Äußerungen von Landarbeitern und Bauern. Neben diesen formlosen Aussagen registrierte Wossidlo getreu das Eindringen technischer Elemente in die folkloristischen Gattungen (Sage, Schwank usw.) sowie die mundartlichen Be­

zeichnungen der technischen Gegenstände und Vorgänge. Die vorliegende [und in der Arbeit verwendete] Ausbeute des über das gesamte Wossidlo-Archiv verstreuten Mate­

rials entstammt im wesentlichen den Wossidlo-Kästen: Kulturhistorisches (bes. Land­

wirtschaft); Sagen, Schwänke, Rätsel, Reime, Brauchtum; Sprachliches (hier auch Re­

densarten und Lautausdeutungen)."

36 Hierbei handelt es sich sowohl um Interviews als auch „Gespräche und Beobachtun­

gen", die „im Juli 1959 auf der LPG ... bei körperlicher Mitarbeit gemacht" (ebd., S.

355) wurden..

37 Ebd., S. 329.

38 Ebd., S. 331.

39 Mit Bedauern schränkt Bentzien daher ein, daß in seiner - auf diesem durch das volkskundliche Archiv Wossidlos vorgegebene Material beruhenden - Arbeit nur

müssen sich laut Bentzien somit an dem Dilemma abarbeiten, daß der For­

schungsgegenstand Technik die befragten Phänomenbereiche selbst in Fra­

ge stellt oder sogar beseitigt.

Gleich zu Beginn seiner Dissertation weist Bentzien auf die Schwierig­

keit hin, daß die von ihm untersuchte Fragestellung „Mensch und Technik"

bislang in der Volkskunde in bezug auf moderne Maschinentechnik nicht untersucht worden sei40; die wenigen Untersuchungen auf diesem Gebiet beschränkten sich überwiegend auf eine „Statistik des Untergangs volks­

tümlicher Formen unter dem Einfluß technischer Erscheinungen".41 Wäh­

rend jene Beschreibungen dazu tendierten, einzelne Maschinen isoliert für das Aussterben dieses oder jenes Volksgutes verantwortlich zu machen, versucht Bentzien solche Veränderungen des traditionellen Volkslebens als Ergebnis der Durchsetzung „der modernen Produktionsweisen" zu inter­

pretieren und damit als Teil eines folgerichtigen und letztlich notwendigen (Anpassungs-)Prozesses.42 So orientiert sich auch der Argumentationsgang an einem - allerdings nicht explizit formulierten - ökonomisch begründeten Verlaufsmodell: Der „entwicklungsgeschichtliche Fortschritt"43 im Um­

gang mit Technik realisiert sich dabei in zwei Etappen als unmittelbare Re­

aktion auf das „Eindringen" der Technik in die Lebenswelt der mecklen­

burgischen Landbevölkerung. Nach einer ersten Phase, in der Technik vor allem als „Fremdkörper" erfahren wird, gelingt in einer zweiten weitgehend der „Einbau" in die Lebenswelt durch praktische, alltägliche Handhabung technischer Errungenschaften.

„volkskundlich greifbare Äußerungen" (Ebd., S. 243) interpretiert und damit „nur ein Ausschnitt der vielschichtigen Auswirkungen des Einbruches der Technik sichtbar ge­

macht" (S. 361) werden könne.

40 Ebd., S. 3; für diese Vernachlässigung des Themas Technik macht er insbesondere „ro­

mantische Sichtweisen" und das „verständliche Bemühen, in Sammlung und Forschung bevorzugt das alte Überlieferungsgut zu bergen und zu deuten" (ebd., S. 7) verantwort­

lich.

41 Ebd., S. 6. Diesen volkskundlichen Forschungsstand, der letztlich durch den Wegfall der Untersuchungsgegenstände charakterisiert ist, referiert Bentzien lakonisch: „[...] die durch den Automobilverkehr oder die elektrische Beleuchtung entzauberte Szenerie nahm den Spukgeschichten den erzählerischen Reiz, Rhythmus und Lautstärke der Ma­

schine töteten den Gesang bei der Arbeit; auch die Knechte sangen nicht mehr auf dem Weg zur Feldarbeit, seitdem dieser mit dem Fahrrad zurückgelegt wurde. Mit dem Ver­

fall des alten ländlichen Arbeitsgeräts starben auch deren volkssprachliche Benennun­

gen aus, so daß die moderne Technik unmittelbar mundartzerstörend wirkte." (Ebd.) 42 Bentzien (Ebd., S. 6) verweist dabei auf Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, (MEW Bd. 23,

Berlin 1969, Dietz) insbes. Kapitel 13.1 „Maschinerie und große Industrie" (S. 391-407).

Daß Bentzien hier - auf den ersten Blick überraschend - von der Durchsetzung moder­

ner Produktionsweise« - statt von der Durchsetzung der Produktionsweise „Waren­

produktion" - spricht, erklärt sich wohl als Hinweis auf Marxsche VerlaufsvoStellun­

gen, nach denen die „Umwälzung in der Produktionsweise in einer Sphäre der Industrie ... ihre Umwälzung in der anderen [bedingt]." (Marx, Kapital, Bd. 1, S. 404)

43 Bentzien, Das Eindringen, S.ll.

Bentzien geht in seiner Arbeit von der „elementaren Gegensätzlichkeit von moderner Technik und tradierter Volks kultur"44 aus; diese Leitdiffe­

renz von Gemeinschaftskultur und kapitalistischer Gesellschaft bestimmt die für die Konzeption seiner Arbeit grundlegende Vorstellung eines allein von externen Transformationsbedingungen induzierten Veränderungspro­

zesses der traditionellen Lebenswelt. Dieses Konzept wirkt sich direkt auf die sprachliche Ebene aus: Die Technik dringt in die statische Lebenswelt der Agrargesellschaft ein, bricht dort traditionelle Strukturen auf. Technik wirkt hier als externer, übermächtiger, unbeeinflußbarer Faktor, auf den letztlich nur mit einer - adäquaten - Anpassungsleistung reagiert werden kann. Dieser Gegensatz von Technik und untersuchter Lebenswelt wird auch durch die verwendete Technikdefinition aufgebaut, unter der „die praktische Anwendung der theoretischen Beherrschung der Natur durch die moderne Naturwissenschaft"45 verstanden wird. Demgegenüber ist die untersuchte Lebenswelt durch eine praktische Naturbeherrschung geprägt, der die spezifisch ökonomische Rationalität fremd bleibt.

An dem oben skizzierten ökonomisch bestimmten Verlaufsmodell ist auch die Gliederung der Arbeit ausgerichtet: Nachdem in einem ersten Ka­

pitel („Die Grundlagen - Abriß der Technikentwicklung in Mecklenburg") die Entwicklung der Agrartechnik, der ländlichen Industrie, der Verkehrs­

technik und der häuslich-persönlichen Technik chronologisch dargestellt werden, verfolgt Bentzien in zwei weiteren Hauptteilen seine zentrale The­

se eines zweiphasigen Modells der Wirkung, die Technik „auf den materiel­

len und geistigen Lebensbereich"46 entfaltet. Im Kapitel „Die Technik als Fremdkörper in der Lebenswelt" werden die „Hauptfaktoren des Ein­

bruchs der Technik" dargestellt, ihre „Wirkung als bedrohendes Element (im Spiegel abergläubischer Reaktionen), die Tatsache der anfänglichen Nichtbeherrschung und des Nichtverstehens technischer Arbeitsvorgänge, sowie die Auswirkungen im sozialökonomischen Bereich"47. Diesen drei Punkten entsprechen die jeweiligen Unterkapitel. Die zweite Phase seines Verlaufsmodelles skizziert er wiederum in drei Unterkapiteln: an der

„volkssprachliche[n] Verarbeitung der technischen Phänomene sowie ihre[r] Hereinnahme in die folkloristischen Formen [... und an der] Frage der Bewältigung der Technik in der Lebenswirklichkeit."48

Bemerkenswert an dieser Gliederung ist, daß Bentzien im ersten, technikgeschichtlichen Teil chronologisch argumentiert, davon jedoch im zweiten und dritten Teil abweichen muß, um seine These vom „entwick­

lungsgeschichtlichen Prozeß" in den Reaktionen der Landbevölkerung auf die sich durchsetzende Technik belegen zu können. In einer Fußnote weist

44 Ebd., S. 4 bzw. S. 6.

45 Ebd., S. 9.

46 Ebd., S.U.

47 Ebd., S. 12.

48 Ebd., S. 12.

er darauf hin, daß sich eine „chronologische Gesamtgliederung [...] für die volkskundlichen Teile der Arbeit [verbot], da in diesem Falle etwa spät greifbare negative Auswirkungen hinter bereits früher belegten Äußerun­

gen eines positiven Verhältnisses o.ä. hätten behandelt werden müssen."49

Aber nicht allein der Hinweis, daß die erzählte „Entwicklungsgeschichte"

nur unter Verzicht auf die Chronologie der Entwicklung konstruiert wer­

den kann ist in einer Fußnote versteckt. Auch die zentrale Begründung da­

für, warum überhaupt von einer Höherentwicklung der Reaktionen ge­

schrieben werden kann, findet sich an entlegener Stelle: „Für die Anord­

nung der hier gewählten Aspekte [der Darstellung] war ... die ideologische Qualität der betreffenden Äußerungen bestimmend."50

Woran Bentzien diese ideologische Qualität bemißt, wird dabei explizit nicht geklärt; erst aus dem Zusammenhang seiner Argumentation wird deutlich, daß dieser Maßstab in einer spezifischen Rationalitätsvorstellung besteht. Nach dem von ihm konstruierten „Stufenschema" stellt die „objek­

tiv unterste Stufe [der] Auseinandersetzung von Mensch und Technik"51 die abergläubische Reaktion dar, die rational höchste Stufe der negativen Reak­

tionen sind Proteste gegen die rationalisierenden Auswirkungen der Land­

maschinentechnik. Diese negativen Reaktionen stehen jedoch in ihrer ideo­

logischen Qualität wiederum unter den positiven Reaktionen, die in der ge­

glückten „Bewältigung der Technik in der Lebens Wirklichkeit", d.h. in ei­

nem rationalen Umgang ihre höchste Stufe erreichen, wobei rational hier offenbar Einsicht in die ökonomischeNationalität - und letztlich deren Ak­

zeptanz - meint. Erst unter Verzicht auf die Chronologie gelingt es Bent­

zien somit, einen „Prozeß der Höherentwicklung" zu zeichnen, der „vom Negativen (Furchtvorstellungen, Unverständnis, Ablehnung) zum Positi­

ven (Beherrschung, Bejahung)"52 zwar mit Hindernissen und Verzögerun­

gen verläuft, letztlich jedoch glattgeht: Furcht wandelt sich in Beherr­

schung, Ablehnung in Bejahung, irrationale Reaktionen weichen einem ra­

tionalen Umgang. Das von Bentzien konstruierte „entwicklungsgeschicht­

liche Modell" organisiert als „organizational imagery"53 nicht nur den Ar­

gumentationsverlauf des Textes, sondern auch die Interpretation seiner Da­

49 Ebd., S. 12, Fußnote 1.

50 Ebd., S. 94, Fußnote 1 (Hervorhebung von mir, S.B.).

51 Ebd., S. 94.

52 Ebd., S. 361.

53 Auf diesen Zusammenhang durch die Analyse von Textualisierungsstrategien hingewie­

sen zu haben, mit denen die Autorität und Plausibilität wissenschaftlicher Texte herge­

stellt wird, ist das Verdienst der kritischen, selbstreflexiven Wendung in der US-ameri­

kanischen Ethnologie seit den 70er Jahren. So formulieren etwa George E. Marcus und Dick Cushman (Ethnographies as Texts. In: Annual Review of Anthropology, 11/1982, S. 25-69, S. 40): „An ethnographic text requires an overall conception in the form of some kind of organizational imagery of its subject matter within which its concerns will be confined. The authority of the ethnographic writer is thus ultimately bound to the kind of story he sets for himself to teil." Für die Anwendung der in diesen Diskussionen

ten. Dieses Ordnungsmodell, mit dem er Informationen über die Lebens­

weise, Einstellungen und Reaktionen der Landbevölkerung textuell organi­

siert und zugänglich macht, leitet seine Plausibilität direkt aus dem Marxschen evolutionistischen Modell der Stufenfolge der Produktions­

weisen ab, indem er zwar zeitverzögerte, doch letztlich adäquate Anpas­

sungsleistungen der Landbevölkerung an die sich durchsetzende ökonomi­

sche Rationalität der kapitalistischen Warenproduktion beschreibt.

Die Plausibilität und Stringenz dieser Darstellung hat jedoch spezifische Kosten, da das zugrundeliegende Modell eine Lesart der Quellen privile­

giert. Dies wird etwa an einer Passage deutlich, in der die Verdrängung des Hakenpfluges durch den moderneren Wendepflug thematisiert wird. Die Landarbeiter wandten gegen die neue Technik ein, daß das Unkraut nicht mehr wie beim Haken abgerissen und vernichtet, sondern untergepflügt wurde und so nach kurzer Zeit den Boden wieder überwuchern konnte.

Bentzien interpretiert die zahlreichen von ihm genannten negativen Bewer­

tungen wie folgt:

„Die den Nachteil in der Queckenvertilgung bei weitem überwiegenden Vorteile der Pflugarbeit (tiefere Furche usw. ...) konnten vom Landarbeiter nicht unbemerkt bleiben. Er sah sie auch, ohne freilich das eine Negativum in der dann einseitig werdenden Gesamtbeurteilung zu übergehen. Eine solche Einstellung, die bestimmte Mängel rein sachlich hervorzuheben scheint, dabei aber nur die negative Seite erfaßt, zeigt ein Unvermögen allseitiger Einschätzung und rationellen Abwägens von Vor-und Nachteilen Vor-und muß daher noch als Äußerung eines latenten Unverständnisses gewertet werden."54

Für die Landarbeiter bedeutete die erschwerte Unkrautbekämpfung vor al­

lem deutlich mehr Arbeit, während die durch den Einsatz der neuen Boden­

bearbeitungstechnik deutlich gesteigerten Erträge für sie keinen Vorteil bo­

ten. Ihren Widerstand gegen diese „Rationalisierung" kann Bentzien unter seiner Frageperspektive nicht als Ausdruck eines spezifischen Interesses werten, das den ökonomischen Rationalisierungsinteressen der Gutsbesit­

zer gleichwertig entgegengesetzt war. Obwohl er in anderen Zusammen­

hängen mit bemerkenswerter Sensibilität die hoffnungslose soziale Lage der Landarbeiter, ihren erzwungen geringen Bildungsstand etc. beschreibt, muß er hier - um sein teleologisches Modell belegen zu können - die popu­

läre Rationalität delegitimieren und als irrationale Vorstufe zu wirklicher Einsicht und Akzeptanz herrschender, ökonomischer Rationalität (abqua­

lifizieren:55 Seine Entscheidung, keine reine „Untergangsstatistik" volks­

tümlicher Formen zu schreiben, zieht die Wahl eines den Text und die

entwickelten Theorien und Problematisierungen für die Volkskunde vgl. Welz, Gisela:

Die Straße lebt. Bemerkungen zu einer Urbanen Taktik. In: Zeitschrift für Volkskunde 1/1991, S. 1-15, insbes. 9-15.

54 Bentzien, Das Eindringen, S. 179.

55 Vgl. hierzu die Kritik an gängigen handlungstheoretischen Rationalitätskonzepten un­

ten, Teil II, Kapitel „Praxis".

Quelleninterpretation orientierenden, evolutionistischen Modells nach sich, das zudem noch politisch konform ist/sein muß. Der Endpunkt des von ihm gezeichneten bruchlosen Prozesses - die Übernahme der ökono­

mischen Rationalität durch die Landbevölkerung - muß aber deren spezifi­

sche Rationalität, die sie gegen die Einführung neuer Techniken protestie­

ren ließ, unsichtbar machen; der Landbevölkerung wird der Diskurs der je­

weils Herrschenden (Ökonomie) eingeschrieben. Die Feststellung des US-amerikanischen Ethnologen James Clifford trifft auch Bentziens Studie zu:

„Even the best ethnographic texts - serious, true fictions - are systems, or economies of truth. Power and history work through them, in ways their authors cannot fully control".56

Diese eher ideologiekritischen Einschränkungen sollen jedoch die Stärke von Bentziens Arbeit nicht schmälern. Auch auf spärlicher Materialbasis gelingt es ihm, zur Frage des alltäglichen, praktischen Umgangs der Land­

arbeiter mit der neuen Technik wichtige Hinweise herauszudestillieren.

Hierbei argumentiert er ex negativo, indem er landwirtschaftsgeschichtli­

ches Quellenmaterial interpretiert, in dem ein unproblematischer „Einbau der Technik in die Lebenswelt" beschrieben wird; so analysiert er beispiels­

weise zusammenfassend die - insgesamt reibungslose - Einführung der Dreschmaschine:

„[Sie griff] von vornherein so nachhaltig in die Arbeitswelt der Trägerschicht ein, daß sie mit ihrer dominierenden ökonomischen Wirksamkeit einer Ausbreitung abergläu­

bischer Reaktionen keinen Rückhalt gab. [...] Die Landmaschine bestimmte von Anfang an unmittelbar Inhalt und Form der täglichen Arbeit. Sie wurde von der Hand des Arbeiters gelenkt und bedient [...]; das produktive Verhältnis [...], das ihn in der

bischer Reaktionen keinen Rückhalt gab. [...] Die Landmaschine bestimmte von Anfang an unmittelbar Inhalt und Form der täglichen Arbeit. Sie wurde von der Hand des Arbeiters gelenkt und bedient [...]; das produktive Verhältnis [...], das ihn in der

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