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Die Bezeichnung der Adressaten

Im Dokument Gesellschaft der Unterschiede (Seite 153-156)

3.2 S OZIALES UND SOZIALPOLITISCHES E NGAGEMENT Die Interviewten verbinden nicht nur die gemeinsame Erfahrung, am

3.2.1 Persönliche Anlässe

3.2.3.1 Die Bezeichnung der Adressaten

Ob auf sich allein gestellt oder gemeinsam mit anderen Aktiven – in jeder von den Interviewpartnern praktizierten Form bedeutet soziales Engagement, dass es Adressaten gibt, die es mit Hilfsangeboten oder Inhalten zu erreichen gilt. Aus-nahmslos alle Interviewten sprechen über ihre persönlichen Erfahrungen im Umgang mit den Menschen aus ihren Zielgruppen, einige schildern dabei aus-führlich ihre Erlebnisse. Um zu verstehen, wie sich deren Interaktion jeweils ty-pischerweise gestaltet, ist es aufschlussreich, sich zunächst anzusehen, wie die Aktiven ihre Adressaten im Allgemein benennen. Solche Bezeichnungen – „Be-troffene“, „Bedürftige“ etc. – liefern bereits einige Hinweise auf die jeweils ge-gebene oder angestrebte Beziehung zu den Menschen, für die man sich enga-giert. Solche Bezeichnungen werden, so ist zumindest anzunehmen, nicht will-kürlich und auf beliebige Weise gewählt, sondern sie korrespondieren mit den zuweilen konfliktbehafteten Erlebnissen mit den Adressaten und mit den Erfah-rungen eigener Betroffenheit. Im alltäglichen Sprachgebrauch bereits geläufige Bezeichnungen können angesichts solcher Erfahrungen als angemessen und brauchbar übernommen oder als unangemessen und sogar schädlich verworfen werden. Bezeichnen heißt in diesem Zusammenhang, einen bestimmten Aspekt

des Bezeichneten hervorzuheben, Assoziationen hervorzurufen und andere As-pekte wiederum auszublenden. Indem man konkrete Individuen beispielsweise unter abstrakten Bezeichnungen von „Kunden“ oder „Klienten“ zusammenfasst, betont man deren Eigenschaft, ein bestimmtes Angebot nachzufragen oder eine Beratung in Anspruch zu nehmen, und abstrahiert davon, dass sie sich möglich-erweise in einer existenziellen Notlage befinden oder bestimmte Sozialleistun-gen beziehen. Sofern solche Aspekte nicht als gleichwertig betrachtet werden können, sondern aus gesellschaftlicher oder persönlicher Perspektive unter-schiedliche positive und negative Wertigkeiten aufweisen, geht mit einer Be-zeichnung zugleich eine Aufwertung oder Abwertung einher. Bestimmte Vorur-teile sind darin enthalten, andere sollen damit vielleicht vermieden, verschleiert oder gezielt hinterfragt und unterlaufen werden.

Eine grundsätzliche Sensibilität hinsichtlich der Folgen der (richtigen oder falschen) Bezeichnung der Adressaten drückt sich in der Wortwahl einiger Inter-viewpartner und in deren gelegentlichen Reflexionen darüber aus. Während manche beispielsweise neben anderen Ausdrücken auch den im allgemeinen Sprachgebrauch verankerten der „Hartz-IV-Empfänger“ verwenden (#01, #07), lehnt eine Interviewpartnerin diese Bezeichnung ausdrücklich ab, da sie nach ih-rem Empfinden negativ besetzt ist: „Den Namen nenne ich eigentlich gar nicht gerne. Wir sagen zu Hause eigentlich lieber Arbeitslosengeld II, weil Hartz IV, das hat immer so einen Beigeschmack, den ich eigentlich nicht so sehr gut fin-de.“ (#14: 27) Die Anforderungen an eine angemessene Bezeichnung und die Funktionen, die diese erfüllen muss, sind vielfältig und oft nicht deckungsgleich;

manchmal sind sie sogar unvereinbar. Die in verschiedenen Interviews verwen-deten Ausdrücke „Arbeitslose“ (#01, #02, #11), „Betroffene“ (#01, #02), „Be-dürftige“ (#01, #02) benennen gemeinsame Probleme der Adressaten, anstatt de-ren Lage euphemistisch zu beschönigen; sie verweisen unmissverständlich auf einen Mangel an Ressourcen und ein Leiden an sozialen Ungleichheitsverhält-nissen. Andererseits beinhaltet ihr Gebrauch die Gefahr, die so Bezeichneten auf ein bestimmtes Defizit zu reduzieren, ihre Leistungen und Stärken zu ignorieren und sie in eine Rolle des Opfers zu drängen, statt sie als grundsätzlich Gleiche anzusprechen. Solch ein Bedürfnis nach Anerkennung, eventuell nach gegensei-tiger, erwiderter Anerkennung, könnte den sozialpolitisch neutralen Bezeichnun-gen „Frauen und Männer“ (#02), „Leute“ (#01, #02, #11, #16), „Menschen“

(#01, #02), „Bürger“ (#01) zugrunde liegen, die von einigen Interviewpartnern verwendet werden.

Auch die im Hinblick auf ihre Wortbedeutung einander ähnlichen Ausdrücke

„Kunden“, „Kundschaft“ und „Klientel“ (#03, #11, #16, #13), die von einigen ehrenamtlichen Sozialberatern und Tafelmitarbeitern verwendet werden, blenden

den Wohlfahrtsaspekt der dort angebotenen Dienstleistungen systematisch aus und sie suggerieren ein ganz gewöhnliches Verhältnis von Verkäufern zu Käu-fern, Anwälten zu Klienten, wie es sich in jedem anderen Geschäft oder in jeder Kanzlei ebenfalls einstellt. Gegen die Scham ihrer „Kunden“ als gesellschaftlich abgehängt und abhängig gesehen zu werden, von dem in solchen Projekten en-gagierte Interviewpartner berichten (siehe unten: 3.2.3.2), bieten sie eine Illusion von Gleichheit auf. Die darin enthaltene Täuschung wird von einem freiwilligen Mitarbeiter eines Sozialkaufhauses en passant entlarvt, als er betont, dass die je-weilige Lebenslage keinen Unterschied dabei macht, ob jemand darin einkaufen darf, oder nicht: „Jedermann, ob es Arbeitssuchende sind oder Normale, also je-dermann darf kommen.“ (#06: 50)

Ein Interviewpartner löst für sich das Dilemma, den Mangel, unter dem die Betroffenen leiden, klar zu benennen, ohne sie herabzuwürdigen, indem er zwi-schen einem moralisch irrelevanten materiellen Mangel der Betroffenen und ei-nem moralisch verwerflichen Mangel an sozialer Verantwortung – gemeint sind vermutlich gesellschaftliche Eliten als Gewinner der ungleichen Einkommens-verteilung – unterscheidet: Er legt an einer Stelle im Interview besonderen Wert auf die Feststellung, dass die Menschen, für die er sich in seiner Bürgerinitiative für ein Sozialticket einsetze, „finanzschwach“, jedoch nicht „sozialschwach“, seien. Finanzschwach zu sein, bedeute für ihn, wenig Geld zur Verfügung zu ha-ben, sozialschwach hingegen, über keine hinreichend ausgeprägte soziale Ein-stellung zu verfügen, auf Kosten anderer zu leben und ihnen das Leben schwer zu machen (#02: 255).

Eine sensible und vermeintlich neutrale Bezeichnung für die Zielgruppe, wie beispielsweise „Kundschaft“, kann auch als ein sprachliches Mittel begriffen werden, durch das die Projektmitarbeiter in der teils aufreibenden Arbeit mit Angehörigen ihrer Zielgruppe die erforderliche Disziplin wahren und als kon-fliktträchtig wahrgenommene Differenzen zwischen ihnen und jenen nicht auf sprachlichem Wege noch weiter verschärfen. Einige Tafelmitarbeiter reden in den Interviews über teils sprachbedingte Verständigungsschwierigkeiten, Miss-verständnisse und Streitfälle mit Migranten (#12, #13, #16). Dabei sprechen zwei Interviewpartner konsequent von „ausländischen“, „russischen“ oder „tür-kischen Mitbürgern“ anstatt von „Ausländern“, „Russen“ oder „Türken“. Mit der Mentalität mancher Kunde, meint beispielsweise eine Tafelmitarbeiterin, habe sie so ihre Probleme, „grade was jetzt die türkischen Mitbürger sind“ (#16: 40);

auch mit anderen Kunden habe sie sich gelegentlich schon darüber unterhalten, wie „unverschämt“ ihrer Meinung nach gerade die „türkischen Mitbürger“ seien (#16: 46). Sie spricht also einen Konflikt und eine Spaltungslinie im Handlungs-feld der Tafel an, deren Reichweite sich anhand der Interviews jedoch nicht

nä-her bestimmen lässt. In diesem Zusammenhang wirkt der Ausdruck „türkische Mitbürger“ wie mit Bedacht gewählt.2 Möglicherweise erfüllt diese Formulie-rung eine bestimmte Funktion im Umgang mit den Kunden. Die Unterscheidung zwischen Deutschen und Ausländern, die offenbar eine Rolle dabei spielt, wie die interviewten Tafelmitarbeiter ihre Kunden wahrnehmen und zwischen ihnen Unterscheidungen treffen, wird aufrechterhalten, indem die vermutete nationale Herkunft („türkischer“) genannt wird; zugleich wird die so festgestellte Diffe-renz durch deren Bezeichnung als „Mitbürger“ wieder etwas relativiert. Sie wird in einem handhabbaren Rahmen gehalten.

Schließlich kann auch der völlige Verzicht darauf, der Zielgruppe einen Na-men zu geben, zum Problem werden, weil dies geringschätzig und respektlos klingt. Als sie an einer Stelle des Interviews über ihre Kunden spricht, verwendet eine Tafelmitarbeiterin das bestimmte Personalpronomen „die“: Wenn einmal besonders viele Lebensmittel gespendet würden, sagt sie, bekämen „die das“ auf die Grundration „draufgepackt“. Sie verbessert sich sofort und lacht entschuldi-gend: „*Die* – Entschuldigung, das sagt man nicht, das kriegt *die Kundschaft*

draufgepackt.“ (#11: 7)

Im Dokument Gesellschaft der Unterschiede (Seite 153-156)