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D ESIDERAT UND F RAGESTELLUNG

Im Dokument Gesellschaft der Unterschiede (Seite 54-61)

Das Wissen über die Bedingungen, die sich förderlich oder hemmend auf die so-ziale und sozialpolitische Praxis der – gegen den Trend – bürgerschaftlich Akti-ven unter den Betroffenen auswirken, ist empirisch schwächer fundiert als das Wissen über die Faktoren, die Angehörige sozioökonomisch benachteiligter Gruppen vom bürgerschaftlichen Engagement fernhalten. Auf dem Feld bürger-schaftlichen Engagements erwerbsloser und einkommensarmer Bürger lassen sich plausible Annahmen darüber eher im Rückgriff auf allgemeine Theorien formulieren, als dass sie aus der empirischen Untersuchung der praktischen Er-fahrungen Betroffener heraus entwickelt wurden. Darüber, wie sich die hem-menden und förderlichen Bedingungen von Engagement, die in diesem Zusam-menhang als relevant erachtet werden, in der Praxis sozial und sozialpolitisch engagierter Betroffener gegenwärtig niederschlagen, inwiefern sie den Aktiven durch ihr Engagement politisch verfügbar werden und welche Faktoren aus de-ren besonderer Perspektive als bedeutsam erscheinen, ist vergleichsweise wenig bekannt.

Bislang mangelt es insbesondere an qualitativen Studien, die dazu beitragen, diese Lücke zu schließen oder zumindest explorativ zu erschließen, indem sie auf das alltägliche soziale und sozialpolitische Engagement Erwerbsloser und Armer fokussieren und auf ihren routinierten Blick als Teilnehmende des sozia-len Bereichs. Gerade vor dem Hintergrund gravierender Veränderungen im poli-tisch umkämpften sozialen Bereich im Zuge der Arbeitsmarktreformen der ver-gangenen Jahre, auf die Betroffene mit vielfältigen Formen der Selbsthilfe und Interessenartikulation reagiert haben (siehe exemplarisch die von Bewegungsak-teuren verfassten Beiträge in Agenturschluss (Hg.) 2006) kommt die Mikroper-spektive auf soziale Konflikte, in denen sich Erwerbslose und Arme gemeinsam zu behaupten versuchen, zu kurz. Die sozialen und sozialpolitischen Aktivitäten Betroffener erscheinen insofern als ein „Dunkelfeld“ (Lenhart 2010), von dem am ehesten noch die abstrakten Umrisse definiert werden können.

Qualitative Arbeiten, in denen die soziale und politische Partizipation von Betroffenen thematisiert werden, stammen oft aus der soziologischen und sozi-alpsychologischen Arbeitslosenforschung. In ihnen geht es in erster Linie um ty-pische Bewältigungsstrategien und erwerbsarbeitsbezogene Einstellungen von Individuen angesichts ihrer sozialen Ausgrenzung durch Erwerbslosigkeit und Armut und nur vermittelt oder am Rande um ihr bürgerschaftliches Engagement, dessen Kontext und bedingende und prägende Faktoren (siehe Kronauer et al.

1993; Kronauer 2002b; Marquardsen 2012; Morgenroth 1990; Vogel 1999; ders.

2002).

Auf dem Forschungsgebiet der sozialen Arbeit sind einige, den Gegenstand teilweise berührende, ihn teilweise auch schneidende, qualitative Studien ent-standen. Besonders eine Arbeit von Notz aus den 1980er Jahren (siehe Notz 1989), in denen sie die unentgeltliche oder gering vergütete Sorgearbeit von Frauen im Nonprofit-Sektor untersucht und dabei die heteronomen Bedingungen und den unfreien Charakter auch der scheinbar selbstbestimmten freiwilligen Arbeit in diesem Bereich analysiert, ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Zu Freiwilligendiensten und der so genannten Bürgerarbeit im Kontext gegenwärti-ger aktivierender Sozialpolitik liegen aus dieser Perspektive zwar umfangreiche-re Essays (siehe Notz 1999; dies. 2012), aber keine empirischen Studien vor. Das stadtteilbezogene Engagement einer Gruppe von Erwerbslosen und Armen und deren Begleitung durch eine emanzipatorische Gemeinwesenarbeit wurde von Munsch (2005a; siehe auch dies. 2003a; 2005b) ethnografisch erforscht. Aller-dings stehen dabei weniger die Bedingungsfaktoren und der Kontext als viel-mehr die besonderen Schwierigkeiten in der Interaktion zwischen Engagierten aus ungleichen sozialen Lagen im Vordergrund, sowie die ausgrenzenden Effek-te eines für Angehörige der MitEffek-telschichEffek-ten typischen Anspruchs an Effizienz im Engagement.

Auf jene Praxis bezieht sich hingegen stärker das Erkenntnisinteresse der Bewegungsforschung, der die im vorigen Unterkapitel zusammengefassten Stu-dien zu Erwerbsloseninitiativen zuzuordnen sind. Mit deren seit Ende der 1990er Jahre dominierenden Fokus auf größere Protestmobilisierungen (siehe Lahus-en/Baumgarten 2006; dies. 2010; Giugni (Hg.) 2010; Reiss/Perry (Hg.) 2011), die jedoch eher den Sonder- als den Routinefall in der Erwerbslosenarbeit dar-stellen, rückt der Alltag in den Initiativen, verglichen mit älteren Studien (Wolski-Prenger 1989; Zoll et al. 1991; Rein/Scherer 1993), aus dem Fokus, so-dass der karitativ-solidarische im Verhältnis zum sozialpolitischen Aspekt bür-gerschaftlichen Engagements Betroffener in den vergangenen Jahren unterbe-lichtet bleibt.

Gegenüber den wenigen Ungleichheits-Studien, die der Forschung zu bür-gerschaftlichem Engagement und so genannter Engagementpolitik zugeordnet werden können, haben Arbeiten aus der Disziplin der sozialen Bewegungen den Vorteil, gezielt nach Interessenkonflikten, Macht- und Herrschaftsverhältnissen sowie Kämpfen in ihrem Untersuchungsfeld zu fragen (siehe Piven/Cloward 1996; Piven 2008; Arndt/Frings 2011). Soziale Ungleichheit kann aus dieser Perspektive als Konfliktfeld umkämpfter und vorenthaltener Lebenschancen be-griffen werden, statt – wie in der Forschung zu bürgerschaftlichem Engagement – oft als Ausdruck eines Defizits der Betroffenen, das im Interesse einer ver-meintlich inklusiven, lebendigen Bürgergesellschaft engagementpolitisch zu mildern sei (vgl. Munsch 2011a: 49; dies. 2011b: 750). Dementsprechend inte-ressieren sich Studien aus dieser Richtung eher für die Effekte ehrenamtlicher Tätigkeit auf die Arbeitsmarktchancen Betroffener (siehe Olk 2011: 715f.;

Schulz 2010a; dies. 2010b; Sing 2001; Strauß 2008; dies. 2009) als für deren Möglichkeiten und Grenzen, ihre Interessen und Rechte gemeinsam engagiert zu behaupten. Klatt/Walter (2011) fragen zwar nach den Zugängen und Barrieren bürgerschaftlicher Aktivität, die sich sozial benachteiligten Bürgern in ihren Quartieren bieten beziehungsweise stellen. Doch weniger die praktischen Erfah-rungen selbst, vielmehr die der Praxis zeitlich vorangehenden Voraussetzungen dafür, sich bürgerschaftlich zu engagieren, stehen im Vordergrund ihrer Unter-suchung. In den zuvor genannten Arbeiten werden gezielt Erwerbslose und Ar-me (beziehungsweise Frauen unabhängig von ihrer sozialen Lage) befragt und teilweise teilnehmend beobachtet. Schulz (2010b) stützt sich bei der Untersu-chung des von ihr vermuteten Kompetenzgewinns Erwerbsloser durch bürger-schaftliches Engagement schwerpunktmäßig auf die Aussagen von Sachverstän-digen, das heißt von teils hauptamtlichen Mitarbeitern von Vereinen, die von Erwerbslosigkeit und Armut persönlich nicht betroffen sind. Die Erfahrungen engagierter Erwerbsloser und Armer selbst kommen in ihrer Studie hingegen nur am Rande zur Sprache.

Stellt man schließlich die zu vermutende partielle Entwertung vorliegender Befunde in Rechnung, die eventuell durch die einschneidenden arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Veränderungen der vergangenen Jahre hervorgerufen wur-de, fällt auf, dass die Alltagserfahrungen sozial- und sozialpolitisch aktiver Er-werbsloser und Armer im Konfliktfeld des sozialen Bereichs aus dem Blick der Sozialforschung gerückt sind und zwar ausgerechnet in einem Zeitraum, in dem soziale Bürgerrechte gravierend eingeschränkt wurden und noch werden.

Um diese Lücke ein zu schließen, sollen in der vorliegenden qualitativen Studie folgende Fragen beantwortet werden: Unter welchen typischen hinderli-chen und förderlihinderli-chen Handlungsbedingungen versuhinderli-chen sozial und

sozialpoli-tisch engagierte Erwerbslose und Arme gegenwärtig, ihre selbstgesteckten Ziele im Engagement zu verfolgen? Worin bestehen diese Ziele typischerweise? Inwie-fern setzen die sozialen Rechte, die bei Erwerbslosigkeit und Einkommensarmut zum Tragen kommen und Gegenstand der jüngeren Arbeitsmarktreformen wa-ren, solche Handlungsbedingungen, die sich im bürgerschaftlichen Engagement der Betroffenen niederschlagen? Diesen Fragen wird hier anhand von 16 leitfa-dengestützten Interviews mit erwerbslosen, erwerbsgeminderten und prekär be-schäftigten Männern und Frauen nachgegangen. Die Interviewten engagieren sich in verschiedenen typischen sozialen Projekten wie einer Tafel, Sozialbera-tungseinrichtungen und sozialpolitischen Aktionsgruppen. Sie alle beziehen auf-grund ihrer Einkommenssituation Leistungen der Systeme der sozialen Mindest-sicherung, d. h. ALG II oder Sozialhilfe. Auf die Auswahl der Interviewpartner sowie auf die Methode der Datenerhebung und -auswertung wird im nun folgen-den Kapitel ausführlich eingegangen.

2. Methode

Um förderliche und hemmende Bedingungen empirisch zu bestimmen, unter de-nen von Erwerbslosigkeit und Armut Betroffene sich im sozialen Bereich enga-gieren, wird in dieser Studie ein methodischer Weg eingeschlagen, der mehrere Etappen umfasst: Die Datengrundlage bilden qualitative, leitfadengestützte In-terviews mit Bürgern, die Leistungen der sozialen Mindestsicherung beziehen;

das zentrale Thema dieser Interviews ist ihr soziales und sozialpolitisches Enga-gement. Anhand der in diesem Zusammenhang aufgezeichneten Erzählungen wird im Zuge der Interviewauswertung und -interpretation ein Feld konstruiert, in dem die Befragten mit ihren ehren- und hauptamtlichen Kollegen, den Adres-saten ihres Engagements, weiteren Akteuren aus Politik und Verwaltung sowie anderen Personen und Gruppen handeln. Ziel ist es, den unmittelbaren Kontext ihres Engagements adäquat zu beschreiben und vorrangig entlang typischer Ak-teurskonstellationen zu strukturieren. Diese strukturierte Beschreibung des Aus-schnittes des sozialen Bereichs, in dem die Befragten sich betätigen, bildet den Hauptteil des dritten Kapitels dieser Studie.

Ein Verständnis des bürgerschaftlichen Engagements der Interviewpartner in seinem Kontext ermöglicht weitere Rückschlüsse von deren Aussagen auf hem-mende und förderliche Einflüsse, denen sie als Akteure mit unterschiedlichen Motiven ausgesetzt sind. In diesem Sinne werden derartige Einflüsse anhand der Interviews identifiziert beziehungsweise interpretierend abgeleitet und auf ver-gleichende Weise zu typischen Handlungsbedingungen zusammengefasst. Diese werden im Schlussteil des dritten Kapitels dargestellt und erläutert.

Verstehen ist zunächst ein alltäglicher, intuitiver und unkritischer Vorgang. In einem wissenschaftlichen Rahmen muss es sich reflexiv auf sich selbst beziehen und den Verstehenden – Autoren ebenso wie Lesern – verständlich werden (vgl.

Lamnek 1995: 172, 204). Im Rahmen dieser Studie wird in diesem Sinne metho-disch ein qualitativer, interpretativer und reflexiver Ansatz verfolgt. Eine

beson-dere Gefahr bei der interpretativen Auswertung von Daten besteht darin, dass beispielsweise beim Lesen eines Interviews deren Interpret sich durchweg stär-ker von seinen Vorannahmen leiten lassen könnte, als dass er sich auf den eigen-ständigen Gehalt der Interviewerzählung und damit auf die ihm fremde Sicht-weise des Interviewten einlässt. In einem einfachen Zirkelschluss bestätigt er dann lediglich eigene Vorurteile. Theoretisches und alltagspraktisches Vorwis-sen und entsprechende Erwartungen konstituieren den Prozess qualitativ-empirischer Forschung auf mehreren Etappen. Sie beeinflussen, auf welche Wei-se und mit welchem Ergebnis die Stichprobe gezogen wird, welche Fragen for-muliert werden und wie die erhobenen Daten intuitiv verstanden werden. Auch Rückschlüsse von sprachlichen Zusammenhängen auf Interviewebene zu nicht-sprachlichen, gesellschaftlichen Sachverhalten werden teilweise von Vorannah-men gelenkt.

Die bezeichnete Gefahr besteht allerdings weniger darin, dass im Laufe der Interpretation überhaupt Schlussfolgerungen gezogen werden, die sich bei nähe-rer Prüfung als unhaltbar herausstellen, oder dass die Interpretation die Form ei-nes Zirkelschlusses annimmt. Problematisch wird es vielmehr, wenn der Prozess des Interpretierens bereits mit einem einfachen Zirkelschluss oder einer falschen Schlussfolgerung endet, statt dass das jeweils erreichte Verständnis anhand des Textes kritisch geprüft und vertieft wird – wenn also der so genannte hermeneu-tische Zirkel nicht hinreichend oft gedanklich durchlaufen wird und die Bereit-schaft bei der Interpretation fehlt, sich vom Text irritieren zu lassen. Ein daran anschließendes Problem liegt darin, dass die Fragestellung der Studie nicht bloß Anlass bieten soll, etwas beliebig Neues, Unerwartetes und die bestehenden Ge-wissheiten Irritierendes im Feld zu entdecken, sondern dass sie möglichst auch beantwortet werden soll. Hier stellt sich die Frage nach der Gültigkeit (Validity) der Befunde. Im Allgemeinen geht es unter diesem Stichwort darum, ob die her-angezogenen Indikatoren, Indizes und Skalen tatsächlich das erfassen, was sie erfassen sollen (vgl. Schmid 1995: 304; siehe auch Reh 1995: 209ff.). Im Kon-text der vorliegenden Studie ergibt sich dabei die Frage, inwiefern die Rück-schlüsse und Folgerungen von den jeweils herangezogenen Zitaten auf bestimm-te Handlungsbedingungen angemessen und begründet sind.

Diesen Gefahren, die sich im Detail der Interviewauswertung immer neu und auf besondere Weise stellen, soll hier im Allgemeinen auf zweifache Weise vor-gebeugt werden: Erstens durch ein offenes, mehrstufiges Verfahren der Inter-viewauswertung, das bereits in seiner allgemeinen Anlage Wiederholungen des hermeneutischen Zirkels beinhaltet. Denn die dabei verwendeten Auswertungs-techniken (Transkribieren, Kategorien bilden, Paraphrasieren usw.) habe ich nicht im Vorhinein festgelegt und deren Reihenfolge bestimmt, sondern erst

während der laufenden Auswertung in Auseinandersetzung mit dem Gegenstand, angesichts des jeweils erreichten Verständnisses und der sich ergebenden Hin-dernisse für ein weitergehendes, tieferes Verständnis. Zweitens durch eine um-fangreiche und transparente Dokumentation mittels ausführlicher exemplarischer Zitate, die es erlauben, die Interpretation nachträglich nachzuvollziehen und zu kritisieren.

Ein zu lösendes Problem besteht also darin, eine Methode insbesondere der Datenauswertung zu wählen, die dem Gegenstand, soweit sich das im Vorhinein sagen lässt, adäquat ist und es zugleich ermöglicht, ihn so zu entschlüsseln, dass sich die konstituierenden Vorannahmen gegebenenfalls irritieren, in Frage stel-len, korrigieren oder verwerfen lassen. Meinen spezifischen Vorkenntnissen und Annahmen sowie den Erfahrungen beim Zugang ins Forschungsfeld entspricht – wie in der qualitativen Forschung durchaus üblich (vgl. Schmid 1995: 293) – keine der in den zu Rate gezogenen Lehrbüchern vorgestellten Methoden genau;

es kam also darauf an, eine eigene Strategie zu entwickeln und dabei selektiv auf die Literatur zurückzugreifen. Orientierung boten besonders die grundlegenden und systematisierenden Überlegungen von Meuser und Nagel (1991; 2009) zu Experteninterviews. Im Unterschied zu denjenigen (Auswertungs-)Methoden qualitativer Sozialforschung, in welchen abschließend Typen von Einzelfällen gebildet werden, geht es in der vorliegenden Studie um die Konstruktion des Kontextes, in dem die interviewten Personen handeln, sowie um die Ermittlung typischer Kontextfaktoren. Der Fokus liegt also nicht auf den Einzelfällen, die die Befragten darstellen, sondern auf den allgemeinen Bedingungen, unter denen sie handeln. Die Interviewpartner können gewissermaßen als Experten für diesen Kontext gelten, über den sie aus der Teilnehmerperspektive sprechen. Das in den einzelnen Interviews quasi bruchstückhaft vorliegende Gesamtbild des Kontex-tes lässt sich anhand des sich ergänzenden und eventuell widersprechenden Wis-sens der Interviewten interpretativ zusammensetzen:

„Anders als bei der Einzelfallanalyse geht es hier nicht darum, den Text als individuell-besonderen Ausdruck seiner allgemeinen Struktur zu behandeln. Das Ziel ist vielmehr, im Vergleich mit den anderen Expertinnentexten das Überindividuell-Gemeinsame herauszu-arbeiten [...]. Es sind die Texte des Aggregats ‚ExpertInnen‘, die wir als Ganzes zum Ob-jekt der Interpretation machen; auf der Typik des ObOb-jekts behandeln wir die einzelne Ex-pertin von vornherein als Repräsentantin ihrer ‚Zunft‘.“ (Meuser, Nagel 1991: 452) Während einige hemmende und förderliche Kontext-Faktoren von den Befragten genannt und in den Interviews ausdrücklich behandelt werden (beispielsweise unerschwingliche Preise von Fahrten und Reisekostenerstattung), lässt sich auf

andere Einflüsse lediglich schließen. Ohne die prinzipielle Möglichkeit, Rück-schlüsse zu ziehen von sprachlichen Eigenschaften eines Textes auf nichtsprach-liche Sachverhalte, unter denen der Text zustande gekommen ist, wäre eine An-näherung an eine Reihe von hemmenden und förderlichen Faktoren bürger-schaftlichen Engagements anhand von Interviews – statt beispielsweise durch teilnehmende Beobachtung (siehe Lüders 2009) – gar nicht erreichbar. Die mit den Befragten geführten Gespräche sind zwar nicht identisch mit deren Praxis, aber ihre Tätigkeiten und deren Kontext sind in ihren Aussagen grundsätzlich repräsentiert (vgl. Lamnek 1995: 176, 200).

„In dem, was Menschen sprechen und schreiben, drücken sich ihre Absichten, Einstellun-gen, SituationsdeutunEinstellun-gen, ihr Wissen und ihre stillschweigenden Annahmen über die Umwelt aus. Diese Absichten, Einstellungen usw. sind dabei mitbestimmt durch das sozi-okulturelle System, dem die Sprecher und Schreiber angehören und spiegeln deshalb nicht nur Persönlichkeitsmerkmale der Autoren, sondern auch Merkmale der sie umgebenden Gesellschaft wider – institutionalisierte Werte, Normen, sozial vermittelte Situationsdefi-nitionen usw. Die Analyse von sprachlichem Material erlaubt aus diesem Grunde Rück-schlüsse auf die betreffenden individuellen und gesellschaftlichen, nicht-sprachlichen Phänomene zu ziehen.“ (Mayntz cit. in Lamnek 1995: 172)

Ein qualitatives Interview zu führen, heißt in diesem Sinne zugleich, einen nicht alltäglichen, aber doch alltagsähnlichen kommunikativen Akt zu initiieren und so der anschließenden wissenschaftlichen Analyse einen Zugang zu den alltägli-chen Praxen der Befragten und deren Kontexten zu verschaffen, die in den Er-zählungen repräsentiert sind (vgl. Lamnek 1995: 200). Ob und inwieweit es ge-lingt, eine solche Gesprächssituation herbeizuführen und berechtigte Rück-schlüsse auf die darin repräsentierten Praxen und gesellschaftlichen Sachverhalte zu ziehen, ist abhängig von einer ganzen Reihe methodischer Entscheidungen, die in diesem Kapitel rekapituliert werden.

2.1 D

ATENERHEBUNG

Im Dokument Gesellschaft der Unterschiede (Seite 54-61)