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Die Augenkette

Im Dokument Tränen in der modernen Kunst (Seite 28-37)

Die bei Picasso bereits anklingende Loslösung des Auges vom Körper erfährt in der Histoire de l’œil (Die Geschichte des Auges)64 von Georges Bataille eine noch weiter reichende und folgenschwere Entwicklung, die eine Bedrohung für das moderne Individuum formuliert. In ihr liegen jedoch zugleich neue Perspektiven verborgen, die eine Erweiterung der Funktionen des Auges und sogar des begrenzten Blickfeldes bedeuten können. Im Jahr 1928 erscheint die Histoire de l’œil unter dem Pseudonym Lord Auch.65 Es handelt sich um eine obsessive eroti-sche Erzählung, die zu Lebzeiten des Autors dreimal verlegt wurde, jeweils unter dem genann-ten Pseudonym und teils fingiergenann-ten Ortsangaben. Die Erstausgabe von 1928 erscheint in Paris in einer Auflage von 134 Exemplaren,66 die jeweils mit acht unsignierten Originallithografien von André Masson versehen sind.67

Der männliche Ich-Erzähler, zu Beginn der Geschichte fast sechzehn Jahre alt, sammelt mit Simone, einem Mädchen seines Alters, erste erotische Erfahrungen. Gleich zu Beginn wer-den sie mit dem Tod einer Radfahrerin konfrontiert, die vor ihren Augen durch einen grausamen Unfall enthauptet wird. Unmittelbar darauf nötigen sie gemeinsam in einer Gewitternacht Mar-celle, die reinste und unglücklichste ihrer Freunde. Simone verfällt zur gleichen Zeit auf die Idee, Eier mit dem nackten Hintern zu zerdrücken, während sie sich mit dem Erzähler vergnügt.

Die Milch, die eigentlich für die Katze bestimmt ist, und das ausfließende Eigelb bzw. Eiweiß werden ebenso in die zahllosen obszönen Spiele eingebunden wie Speichel, Sperma und Urin.

So sind die Orgasmen Marcelles beispielsweise unmittelbar mit ihrem Urinieren verbunden, ein Vorgang, der beide Protagonisten stark erregt. Nachdem sie die unglückliche Freundin nachts aus einem Sanatorium befreit haben, erhängt diese sich, wahnsinnig geworden, laut heulend in einem Schrank. Der Protagonist schneidet sie vom Strick ab und beschläft zum ersten Mal Si-mone neben der Toten. Der Tod der Freundin erregt und irritiert beide gleichermaßen, schließ-lich uriniert Simone über das Gesicht der Toten und in deren weit geöffnete, leblose Augen.

64 Im folgenden wird aus dieser Übersetzung zitiert: Bataille 1994, S. 5–53.

65 „The name Lord Auch (pronounced ōsh) refers to a habit of a friend of mine; when vexed, instead of saying ‚aux chiottes!’ (to the shithouse), he would shorten it to ‚aux ch’. Lord is English for God (in the Scriptures): Lord Auch is God relieving himself”. Bataille 1971 (1943), S. 120.

66 Luckow 1994, S. 237.

67 Buchholz 2003, S. 262.

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Daraufhin reisen sie nach Madrid, wo sie während eines Stierkampfes mit ihrem neuen Freund Sir Edmond den Tod eines Toreros miterleben. Während der Stierkämpfer Granero von den Hörnern des wütenden Tieres dreimal aufgespießt wird, eines der Hörner dringt dabei durch das rechte Auge in seinen Kopf ein, beißt Simone in den rohen weißen Hoden eines getöteten Stie-res, führt den zweiten in ihre Vulva ein und erlebt einen krampfartigen Orgasmus. In einer Kir-che in Sevilla nötigen sie anschließend zu dritt den Priester Don Aminado und entweihen Zibo-rium und Hostien. Zuletzt erwürgt Simone den unglücklichen, an Händen und Füßen gefesselten Mann, während sie ihn gewaltsam beschläft. Sie bittet Sir Edmond, das Auge des toten Priesters auszureißen und ihr zu überlassen. Als finaler Höhepunkt der Ausschweifungen in der Histoire de l’œil evoziert Bataille schließlich ein Bild, in welchem das Auge des Priesters zum Auge der toten Freundin Marcelle wird. Es blickt aus der Vagina Simones den Protagonisten an und ver-gießt „Tränen von Urin“ (i.O. „larmes d’urine“).68 Dieser erschreckenden Vision verleihen Spu-ren von Samen letztlich den „Charakter schmerzlicher Trauer“ (i.O. „caractère de tristesse désastreuse“).69

Obgleich in der Histoire de l’œil die einzelnen Personen dezidiert mit Namen genannt und ihre ausschweifenden sexuellen Handlungen ausführlich beschrieben werden, hat Bataille, Roland Barthes zufolge, „keineswegs die Geschichte von Simone und Marcelle oder die des Erzählers geschrieben“, sondern vielmehr „in Wahrheit die Geschichte eines Gegenstandes“.70 Dieser Gegenstand ist, wie es der Titel zweifelsfrei festhält, das Auge. Dieses wird Barthes zu-folge als Term durchgehend variiert und dekliniert, „und zwar über eine bestimmte Art von Ersatzgegenständen, die zu ihm in einem strikten Affinitätsverhältnis stehen (da sie alle kugel-förmig sind) und dennoch in einem Verhältnis der Ungleichheit (da sie jeweils anders benannt werden)“.71 Die Variationen des Auges bzw. die verschiedenen Stationen der Augenmetapher wie das Ei, der Milchteller und die perlmutterglänzenden Hoden des Stieres, alle Variationen sind hier weißlich und annähernd rund, bilden Barthes zufolge eine „Augenkette“, von der sich eine weitere Metaphernkette ableiten lasse, die ihrerseits alle Spielarten des Fluiden aufgreift und durch den Bezug zur ersten Kette und damit zum Auge als „Tränenkette“ bezeichnet wird.72 Jedes Wort der einzelnen Ketten ist immer nur das Bezeichnende bzw. das Signifikant seines Nachbarterms, wobei die ganze Stufenfolge einer Reihe von Signifikanten auf ein unveränderli-ches Signifikat (dt. Bezeichnetes) verweist; im Falle der Augenkette also letztlich immer zurück auf das Auge, im Fall der Tränenkette ist es die Träne. Das Auge unterliegt Barthes zufolge „auf seinem metaphorischen Weg zugleich der Variation und überdauert doch. Seine Hauptform bleibt über die Bewegtheit der Nomenklatur hinweg bestehen wie die eines topologischen Rau-mes, denn jede Flexion ist hier ein neuer Name und gesprochen ein neuer Wortgebrauch. Das

68 Bataille 1994, S. 48.

69 Ebd.

70 Barthes 1972, S. 25.

71 Ebd., S. 26f.

72 Ebd., S. 30.

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Auge erscheint somit als Matrix für den Weg von Gegenständen, die so etwas wie die verschie-denen ‚Stationen’ der Augenmetapher sind.“73 Das Auge wandert einerseits hin zu anderen Din-gen, die aus ihrem Alltagsgebrauch herausgelöst werden und einem anderen, dezidiert sexuellen Zweck, zugeführt werden. Andererseits wandert es als Gegenstand selbst, wie in der letztge-nannten erotischen Episode, befreit und losgelöst von einem toten Körper zu einem lebendigen Leib, dringt durch das geöffnete Fleisch in diesen ein, adressiert mit seinem Blick den Erzähler und vergießt „Tränen von Urin“.

Hans Bellmer bebildert die 1947 erschienene Ausgabe der Histoire de l’œil mit sechs Zeichnungen, ohne einer allzu simplen Darstellung bloßer Genitalität oder schlichtweg illustra-tiver Pornografie zu verfallen. Er stellt den fluktuierenden erotischen Motiven der Erzählung mehrdeutige visuelle Variationen polymorpher Sexualität zur Seite, die auf den ersten Blick deutlich von ihrer literarischen Vorgabe abweichen.74 Bellmer erweitert damit die Augenmeta-pher auf visueller Ebene und führt die von Bataille intendierte Überschreitung jeglicher Körper-grenzen auf der zeichnerischen Ebene fort. Bereits die erste Illustration Bellmers zeigt eine ei-gentümliche Verschmelzung zweier Frauenkörper, die das erotische Verhältnis zwischen Simo-ne und Marcelle thematisiert. (Abb. 7) Ein äußerst gelenkiger mädchenhafter Körper biegt sich weit nach hinten zurück, so dass die von plissierter Spitze bedeckten Brüste die obere Kontur bilden und der Kopf nicht zu sehen ist. Eine schmetterlingsgleiche Schleife befindet sich über der rechten Brust, zu beiden Seiten stehen wie elektrisiert wirkende, gekräuselte Haare vom Körper ab. Die junge Frau schiebt dem Betrachter das schmale Becken entgegen, der entblößte Bauch mit dem zarten Nabel wird auf diese Weise abgeflacht und die nackte Vulva vorgewölbt.

Entlang der äußeren Konturen wird der Leib von Rüschen bedeckt und gerahmt, die kleinen Füße, keck auf den Zehenspitzen stehend, stecken in hellen Söckchen mit Spangenschuhen. In den Riemen des rechten Schuhs schiebt sich der Finger eines weiteren Mädchens, das rückwärts zum Betrachter steht und sich vornüber beugt, so dass sie ihr nacktes Gesäß dem Betrachter entgegenstreckt. Mit nach unten fallendem offenem Haar schaut das Mädchen zum Betrachter zurück, bzw. auf die Finger ihrer linken Hand, die kühn in den Schuh der anderen eindringen, während ihre nackte Brust von der Hand des ersten Mädchens berührt wird. Die Füße des zwei-ten Mädchens stecken, ganz im Gegensatz zu den kindlichen Spangenschuhen, in Stiefeletzwei-ten mit hohem Absatz.

Die exponierte Vulva bildet bei beiden Frauenkörpern den zentralen Punkt, um den sich beide Leiber gleichermaßen winden und drehen. Die jeweilige Schambehaarung unterstützt dabei den Eindruck, dass das Mädchen mit den Stiefeletten älter oder doch zumindest in sexuel-ler Hinsicht reifer wirken soll als das Mädchen mit den Spangenschuhen, deren Schamhügel im Gegensatz zu dem ihren vollkommen unbehaart ist. In dieser doppelten Lesart zweier Körper, die partiell zu einem Leib verschmolzen werden, lässt sich der Nabel des einen Mädchens

73 Ebd., S. 27.

74 In der richtigen Reihenfolge sind alle sechs Illustrationen abgedruckt in: Taylor 2000, S. 133ff.

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gleichwohl als Anus des anderen lesen. Wird die auf literarischer Ebene erprobte Augenkette nun in die visuelle Sprache Bellmers übersetzt, so erscheinen jene beiden Körperöffnungen als miteinander konvertibel und auch sie stehen, wie die Ersatzgegenstände für das Auge, einerseits in einem konkreten Affinitätsverhältnis zu diesem, da sie kugelförmig sind und andererseits in einem Verhältnis der Ungleichheit, da sie anders bezeichnet werden. Die Austauschbarkeit von Anus und Nabel wird von Bellmer in der dritten Illustration durch eine weitere anatomische Besonderheit ergänzt, mit der Bellmer eindeutig von der literarischen Vorlage der Histoire de l’œil abweicht.75 (Abb. 8)

Eine junge Frau mit lockigem Haar sitzt selbstvergessen auf dem Boden, den Rücken an eine nur schwach skizzierte Wand angelehnt. Die Beine angewinkelt und weit gespreizt blickt sie auf ein aufgerichtetes Glied, das senkrecht aus ihrer Vagina emporragt. Mit dem linken Zei-gefinger berührt sie sacht die Eichel, mit zwei spitzen Fingern der rechten Hand umfasst sie zuunterst den Schaft an genau der Stelle, an der Vagina und Glied miteinander verbunden sind.76 Das erigierte Glied, das steil aus der Vagina dieser jungen Frau aufragt, ist Sue Taylor zufolge der Batailleschen Erzählung absolut fremd. Dies mag insofern stimmen, da diese auffällige Ana-tomie in der Histoire de l’œil keine Erwähnung findet. Taylor nimmt daher an, dass Bellmer in seinen sechs Illustrationen generell eine allzu große Nähe zum Text vermeiden wollte, um einer untergeordneten Rolle der Bilder entgegenzuwirken. Besonders die dritte Illustration sei dafür ein Beleg.77 Es geht Bataille jedoch gerade um die Überwindung klarer geschlechtlicher Zuord-nungen. Die Überschreitung jeglicher Körpergrenzen ist sein erklärtes Ziel, das von Bellmer in der dritten Illustration demzufolge nur recht frei interpretiert wird. Barthes würde dem ange-sichts jener Zeichnung sicherlich zustimmen, fasst den Erotismus Batailles jedoch hauptsächlich poetisch auf: „Was mit dem Spiel von Metapher und Metonymie in der ‚Geschichte des Auges’

nämlich endgültig überschritten werden kann, ist der Sexus, was natürlich nicht heißt, ihn sub-limieren, ganz im Gegenteil.“78

Zu einem nicht geringen Teil entzieht er die Erzählung damit natürlich einer pornografi-schen Lesart. Barthes versteht den Erotismus Bataillescher Prägung im Gegensatz zu Bellmers provokativer Visualisierung in der dritten Illustration jedoch nicht als unmittelbar oder gar ex-plizit phallisch: „Der hier entwickelten imaginären Welt liegt kein sexuelles Phantasma als Ge-heimnis zugrunde. Wäre dem so, müßte man erst einmal erklären, warum das erotische Thema

75 Fälschlicherweise wird die fünfte Illustration häufig als dritte Illustration benannt, was hauptsächlich daran liegt, dass Buch und Illustrationen nie im Zusammenhang betrachtet werden. Anders lässt sich die mehrfache Fortführung dieses Fehlers wohl kaum erklären. Taylor äußert sich zu dem Problem ausführlich, in: Dies. 2000, S. 137. Leider erliegt auch noch Christiane Ladleif diesem ursprünglich von Webb begangenen Irrtum, siehe Ladleif 2003, S. 92ff.

76 Interessant in Bezug auf die von zahlreichen Autoren erwähnten Kastrationsängste ist hier die Handhaltung im Zusammenspiel mit den scharfen Konturlinien: Zeigefinger und Mittelfinger öffnen sich dort, wo Vagina und Schaft einander berühren, wie die Klingen einer Schere. Versteht man den Phallus als erigiertes Auge, wie es bei Clair wei-ter unten im Text anklingt, so impliziert diese Handhaltung nicht nur die drohende Kastration, sondern gleichfalls die bevorstehende Loslösung des Auges vom Körper.

77 Taylor 2000, S. 137f.

78 Barthes 1972, S. 33.

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hier niemals direkt phallisch gewendet wird (es handelt sich um einen ‚runden’ Phallismus).“79 Hinzu kommt, dass die Augenkette seiner Ansicht nach keineswegs mit einem sexuellen Term, sondern mit einem Teller Milch für die Katze beginnt: „Wenn die Kette einen Anfang hat, wenn die Metapher einen generativen Term enthält, von dem her das Paradigma sich stufenweise auf-baut, muss man zumindest einräumen, daß die ‚Geschichte des Auges’ keineswegs das Sexuelle als ersten Term der Kette nennt. Nichts berechtigt zu der Feststellung, die Metapher gehe von den Genitalien aus, um bei offenbar geschlechtslosen Dingen wie Ei, Auge, Sonne zu enden.“80 Die „offenbar geschlechtslosen Dinge“ sind allerdings nicht ganz geschlechtslos, sondern im-merhin direkte Repräsentanten des „runden Phallismus“: Eier, Hoden und Augen, vollkommen rund, dringen in Anus und Vagina der Frau ein. Dass die Augen des erregten Betrachters ihrer-seits vor Erregung anschwellen wie ein erigiertes Glied, stellt Taylor anhand jener Szene zwei-felsfrei fest, in welcher das Auge des kurz zuvor getöteten Priesters in die Vulva Simones einge-führt wird: „Bataille echoes this metaphor in Histoire de l’œil, at the chilling moment when his narrator stares at Don Aminado’s plucked eyeball in Simone’s vagina and feels as though his own eyes were bulging from his head, ‚erectile with horror’ (i.O. „érectiles à force d’horreur“).”81 In jener Szenerie werden Schrecken und Lust, Tod und Sexualität, das Reine und das Heilige, sowie das Unreine und das Sündige über das Auge als Matrix motivisch in eins geführt. Der gewaltsame Tod des Priesters wird mit dem Tod Marcelles überblendet, da sein Auge in der Vagina Simones zum blassblauen Auge der toten Freundin wird, auf das wiederum die angeschwollenen Augen des Betrachters wie erigiert blicken. Zugleich wird das penetrieren-de Auge penetrieren-des Mannes (Don Aminado) zum penetrierenpenetrieren-den Auge penetrieren-der Frau (Marcelle), so dass die Fähigkeit zur Penetration in übertragener Lesart gleichwohl beiden Geschlechtern zugesprochen wird.

Diese besondere Fähigkeit des Auges zur Penetration überwindet die Grenzen der Logik und des sexuell Distinkten. Bei Jean Clair heißt es, das Auge „is not only a passive, feminine receptacle (…), but it is also a phalloid organ able to unfold and erect itself out of its cavity and point towards the visible. The gaze is the erection of the eye.”82 Der Blick oder das Auge als Inbegriffe des „runden Phallismus“ werden von Bellmer visuell zu einem direkten Phallismus übersteigert, das erregte Auge wird überblendet mit dem erigierten Glied, das ebenso steil aus der weiblichen Geschlechtsöffnung emporragt, wie das Auge bei großem Schrecken oder Stau-nen in der Augenhöhle anschwillt.83 Damit liefert er auf der bildlichen Ebene eine Steigerungs-form der Batailleschen Idee eines erigierten Auges, zugleich überblendet mit der Darstellung eines hermaphroditischen Wesens. In diesem Licht erscheint Bellmers dritte Illustration als vi-sueller Beleg für die Mehrgeschlechtlichkeit der Körper bzw. die bereits in der ersten

79 Ebd., S. 28f.

80 Ebd., S. 28.

81 Taylor 2000, S. 180f.

82 Clair 1991, S. 229.

83 Vgl. hierzu auch Abb. 5 und 6. Die Augen von Picassos Weeping Women ragen teleskopartig aus ihren Höhlungen.

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on angedeutete polymorphe Sexualität: „Das Männliche und das Weibliche sind vertauschbare Bilder geworden; das eine wie das andere zielen zu ihrem Amalgam hin, dem Hermaphrodi-ten.“84

Taylor erkennt in Bellmers Arbeiten generell ein intuitives Verstehen von Batailles Ideenwelt,85 die hauptsächlich auf der Idee der Transgression beruhe, wie es Susan Rubin Su-leiman bündig formuliert: „the characteristic feeling accompanying transgression is one of in-tense pleasure (at the exceeding of boundaries) and of inin-tense anguish (at the full realization of the force of those boundaries). And nowhere is this contradictory, heterogeneous combination of pleasure and anguish more acutely present (for Bataille) than in the inner experience of eroti-cism, insofar as this experience involves the practice of sexual ‚perversions’. (…) In erotieroti-cism, as in any transgressive experience, the limits of the self become unstable ‚sliding’.”86 Die Bataillesche Idee der Transgression in der Überblendung von Auge und Vulva und die bildliche Verschmelzung von Begehren und Begehrtem zeigt sich in Bellmers späteren Zeichnungen, in welchen er den Körper seiner Lebensgefährtin Unica Zürn mit dem seinen verknüpft. Das Auge des Künstlers wird in den Leib der geliebten und begehrten Frau eingeführt. Therese Lichten-stein bezieht sich beispielsweise auf eine Arbeit aus dem Jahr 1964: „In another drawing of Unica, titled Eye Vulva (1964), a wide, narrow eye peeks out suspiciously from the opening of her vagina. This image suggests an almost direct transcription of the mood of sexual transgres-sion found in Georges Bataille’s Story of the Eye.”87

Einer entsprechenden Zeichnung von Bellmer ohne Titel aus dem Jahr 1963 ist in Klam-mern der Titel Selbst-Auge beigefügt. (Abb. 9) Die fein gezeichneten Körpergebilde fluktuieren in einem Liniengewebe aus rund-ovalen anthropomorphen Gebilden, die sich überlagern und ineinander übergehen. Im Zentrum dieser bewegten Linien befindet sich dem Titel gemäß das Auge des Künstlers, das zum rechten Bildrand blickt. Gänzlich wimpernlos wird der Augapfel gerahmt von schweren wulstartigen Lidern, die zugleich als fleischige Schamlippen gedeutet werden können, da die sie umgebende äußere Kontur nicht einen menschlichen Kopf, sondern vielmehr ein üppiges Frauengesäß beschreibt. Dieses muss zwei Frauenkörpern zugleich zuge-hören, da ihm mehr als nur zwei Schenkel zugeordnet werden können. Einmal wirkt das rechte stehende Bein als Standbein und das linke mit dem verrutschten Strumpfband als Spielbein, so dass sich das Gesäß dem Betrachter keck und leicht schief entgegenreckt. Dann wiederum scheint der Körper zu liegen, da sich am inneren Augenwinkel ein Paar Schenkel anschließt, das sich dem linken Bildrand entgegenspreizt. Der in der oberen Bildhälfte an das Gesäß anschlie-ßende weibliche Oberkörper ist zunächst in einer Seitenansicht wiedergegeben, da nur die rech-te weibliche Brust zu sehen ist, deren Brustwarze seitlich zum linken Bildrand weist und einen

84 Bellmer 1962, S. 150.

85 Siehe Taylor 2000, S. 136.

86 Suleiman 1990, S. 75. Bellmer bestätigt dies in einem Interview aus dem Jahr 1975: „I agree with Georges Bataille that eroticism relates to a knowledge of evil and the inevitabilty of death, it is not simply an expression of joyful passion.” Webb, 1975, S. 369.

87 Lichtenstein 2001, S. 69.

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Tropfen weißer Flüssigkeit vergießt. Dieser Tropfen steht in direkter Analogie zu den beiden weiß schimmernden Tropfen, die aus dem Vagina-Auge fließen und, je nach Blickwinkel, ein-mal den Schenkel, einein-mal die Gesäßbacken benetzen. Dieser Oberkörper könnte jedoch ebenso frontal gesehen werden, wobei die linke Brust nur durch eine flüchtige Kreisform beschrieben wird. An diesen Körper schließt ein abgewinkelter Arm an, der unter seiner Achsel ebenfalls zwei helle Lichtpunkte aufweist, die tropfenförmig ausgebildet sind. Die Spalte der Achsel lässt sich gleichzeitig als Vagina lesen, die feuchten Tropfen sowohl als Schweiß als auch als Vaginalsekret. Der an die Achsel anschließende Arm ist angewinkelt, die zugehörige Hand stützt sich mit ihrem Rücken auf jener Gesäßrundung ab, die das Selbst-Auge bzw. die zentral positionierte Vagina umschließt. Doch verwandelt sich an der Stelle das Handgelenk plötzlich, durch die vexierbildartige Überlagerung von Linien, in die Eichel eines aufgerichteten Gliedes.

Auf ihr befinden sich ebenfalls zwei helle Lichtpunkte, so dass Brustwarze, Achselhöhle, Vagi-na bzw. Auge und Penis über die Weißhöhungen der tropfenförmigen Gebilde in direkter Ver-bindung zu lesen sind. Die austretenden Flüssigkeiten verketten die Körperöffnungen und vor-gewölbten Erhebungen miteinander.

So setzt der am rechten Bildrand befindliche nackte, auf dem Rücken liegende weibliche

So setzt der am rechten Bildrand befindliche nackte, auf dem Rücken liegende weibliche

Im Dokument Tränen in der modernen Kunst (Seite 28-37)