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Die Antinomie empirischer Erfahrung

1. McDowells Anti-Anti-Realismus

1.1 Die Antinomie empirischer Erfahrung

Den (oft unbewussten) Grund der Beschränkung der Wirklichkeit auf die Tatsachen, wie sie die nomothetischen Wissenschaften beschreiben, macht McDowell in einer unbefriedigenden Lösung des transzendentalphilosophischen Problems der Möglichkeit empirischer Erfahrung überhaupt aus.11 Tatsächlich handle es sich um eine Antinomie der Intuitionen, dass (1) Erfah-rung als Tribunal für empirisches Denken fungieren können muss und (2) ErfahErfah-rung ein natür-liches Geschehen, nämlich ein Eindruck auf die Sinne des Erfahrenden und somit ein kausales Geschehen ist:

The idea is that we can make sense of intellectual activity’s being correct or incorrect in the light of how things are in the world only if we can see it as, at least in part, answerable to im-pressions the world makes on us, as possessors of sensibility. (McDowell 2000b, S. 4)

Die Akzeptanz eines natürlichen Ereignisses als Rechtfertigungsinstanz von Überzeugungen und Urteilen kann als naturalistischer Fehlschluss, als Vermischung dessen, was Wilfried Sel-lars als logical space of reasons bezeichnet mit dem realm of law, erscheinen.12 Der Begriff empirischen Denkens überhaupt scheint einen Kategorienfehler zu enthalten.

Wer versucht zu erklären, wie empirische Erfahrung möglich ist, dabei jedoch die Prämissen intakt lässt, verkenne, dass es sich um eine echte Antinomie handelt:

Not only do such people often mistake a transcendental anxiety for an epistemological one.

The deeper misconception is to mistake an impossible conceptual bind for a tractable intellec-tual problem – something one might set out to solve without shifting one’s background ass-umptions. (McDowell 2000b, S. 5)

McDowell plädiert für eine umgekehrte Herangehensweise. Da wir offensichtlich empirische Erfahrung machen, müssen wir von hier aus Konzepte des natürlichen Geschehens entwi-ckeln, die dieser Tatsache Rechnung tragen. Sein Projekt sei insofern ein Projekt in

Wittgen-11„I use the word ‘transcendental’, in what I hope is sufficiently close to a Kantian way, to characterize this sort of concern with the very possibility of thought’s being directed at the objective world.“ (McDowell 2000b, S.

3).

12Der logische Raum der Gründe, in dem Urteile und der Begriff des Wissens angesiedelt sind, ist ausgezeichnet durch den normativen Aspekt des richtig- oder falsch-Seins. Sellars zufolge können wir richtige Urteile fällen, wenn wir die Regeln der verwendeten Sprache gelernt haben: „The essential point is that in characterizing an episode or a state as that of knowing, we are not giving an empirical description of that episode or state; we are placing it in the logical space of reasons, of justifying and being able to justify what one says.“ (Sellars 1995, S. 169). McDowell betont, „that a normative context is necessary for the idea of being in touch with the world at all, whether knowlegeably or not.“ (McDowell 2000a, S. xiv) Er überführt so das scheinbar epistemologi-sche in ein transzendentalphilosophiepistemologi-sches Problem.

Als Reich der Gesetze bezeichnet McDowell die spezifische Art und Weise der Wissenschaften, die Welt zu beschreiben, nämlich Gesetze zu formulieren, denen das Verhalten bestimmter Gegenstände entspricht. (Vgl.

McDowell 2000a, S. xiv/xv).

steins Sinne, als es um folgendes geht: “[To] start with the natural world and make a place in it for minds and their contents.” (McDowell 2000a, 110)

Der entscheidende Fehler in den Prämissen der Antinomie sei die Gleichsetzung des realm of law mit der Natur oder dem Realen:

But in spite of the label, those disciplines [Naturwissenschaften, die die Welt durch die Formu-lierung von Gesetzen beschreiben] need not be conceded ownership of the very idea of natural phenomena. The idea of an impression can be both the idea of a kind of natural happening and an idea that belongs in the logical space of reasons. (McDowell 2000b, 7)

Bevor jedoch genauer auf McDowells Lösung des Problems eingegangen wird, die darin liegt, das Konzept der Natur zu erweitern, soll zunächst kurz dargestellt werden, wie der bisherige Umgang mit der beschriebenen Antinomie McDowell zufolge ein angemessenes Verständnis des Verhältnisses von Geist und Welt verhindert hat.

1.1.1 Oszillation zwischen Kohärentismus und dem „Myth of the Given“

Wie sich aus der als selbstverständlich hingenommenen aber illusionären Identifikation des-sen, was wir Natur, Wirklichkeit oder Welt nennen, mit dem Reich der Gesetze und dem soge-nannten Geist mit dem logischen Raum der Gründe weitere Zwänge für verschiedene Bereich des Denkens ergeben, zeigt McDowell in Mind and World:

I aim at explaining how it comes about that we seem to be confronted with philosophical obli -gation of a familiar sort and I want the explanation to enable us to unmask this appearance as illusion.“ (McDowell 2000a, xi)

Es wurde bereits beschrieben, dass im Zentrum der philosophischen Anstrengungen der Ver-such einer Vermittlung zwischen den Intuitionen steht, dass in jeglichem Erkenntnisprozess (1) ein gewisser Grad an Spontaneität des erkennenden Subjekts beteiligt sein muss und die Welt, wie sie an sich, also unabhängig von der Spontaneität des Subjekts ist, der Grund dafür sein muss, dass es sich um Erkenntnis handelt, dass also die Überzeugung darüber, wie es sich verhält übereinstimmt damit, wie es sich wirklich verhält, und (2) die Welt in einer Beschrei-bung durch Gesetze unmöglich Gründe liefern kann.

Die bisherigen Vorschläge, diesen beiden Forderungen gerecht zu werden, oszillieren laut Mc-Dowell zwischen den gleichermaßen unbefriedigenden Polen eines Kohärentismus und ver-schiedenen Versionen von Theorien, die alle dem Mythos des Gegebenen verfallen. McDowell übernimmt diesen Begriff von Sellars, der als „Myth of the Given“ die Idee bezeichnet, dass empirisches Wissen auf irgendeine Art nicht weiter ableitbares Wissen (das uns einfach gege-ben ist) gründe:13

13Sellars betont, dass sich seine Kritik am Mythos des Gegebenen nicht allein gegen Sinnesdaten als Grund al-len empirischen Wissens wendet, sondern, dass er jegliche Form des Gegebenen ablehnt: „Many things have said to be 'given': sense contents, material objects, universals, propositions, real connections, first principles,

[T]he point of the epistemological category of the given is [...] to explicate the idea that empi-rical knowledge rests on a foundation of non-inferential knowledge of matter of fact. (Sellars 1995, S. 128)

McDowell kritisiert den Kohärentismus am Beispiel von Donald Davidsons Wahrheitstheorie, die in positiver Weise ausgezeichnet sei, da sie der Eigenständigkeit, dem sui generis-Charak-ter der Rationalität Rechnung trägt, indem sie die Unmöglichkeit einer Reduktion rationaler Verhältnisse (wie Konsistenz, Kohärenz, usw.) auf eine reine Gesetzlichkeit betont. Davidson beschreibt das Verhältnis zwischen dem Mentalen und dem Physischen in seiner Theorie des anomalen Monismus als ein Verhältnis der Supervenienz:

Although the position I describe denies that there are psychophysical laws, it is consistent with the view that mental characteristics are in some sense dependent or supervenient, on physical characteristics. Such supervenience might be taken to mean that there cannot be two events alike in all physical respects but differing in some mental respects [...]. Dependence or super-venience of this kind does not entail reducibility through law or definition [...]. (Davidson 1970, S. 214)

Die Wahrheit von Überzeugungen kann folglich nicht direkt auf physischen Tatsachen beru-hen, sondern nur andere psychische Tatsachen kommen als Wahrheitsbedingungen infrage, wobei das ganze Geflecht von psychischen Tatsachen auf physischen Tatsachen superveniert.

McDowell stimmt mit Davidson in der Nichtreduzierbarkeit der Rationalität auf Gesetzlich-keit überein, allerdings will er daran festhalten, dass die Wahrheitsbedingungen einer Über-zeugung in der physischen Welt liegen, dass die Begründung für eine ÜberÜber-zeugung, „dass x“, die Tatsache, „dass x“, ist. Er kritisiert, dass in Davidsons Darstellung die Welt nur eine Ent-schuldigung für unsere Überzeugungen und Urteile liefert, die auf ihr supervenierten, wäh-rend eine Rechtfertigung gefordert sei. Davidson hält also an der zweiten Prämisse der Anti-nomie fest, während er der Meinung ist, ein angemessenes Verständnis des Verhältnisses von Geist und Welt könne sich auf ein kausales Verhältnis von Geist und Welt beschränken, wäh-rend nicht gefordert ist, dass die Welt Gründe liefert für Überzeugungen.14

Die verschiedenen Versionen des Mythos des Gegebenen15 hingegen halten McDowell zufolge an der ersten Prämisse fest, während sie den sui generis-Charakter der logischen Räume ver-lieren. Sie alle enthalten die Voraussetzung, unsere Urteile beruhten auf einer prälogischen Er-fahrung, uns sei also etwas gegeben, was außerhalb des Bereichs der begrifflichen Bestimmt-heit liege. Damit diese prälogische Erfahrung den absoluten Grund unseres Wissens über die

even givenness itself. […] If, however, I begin my argument with an attack on sense datum theories, it is only as a first step in a general critique of the entire framework of givenness.“ (Sellars 1995, S. 127/128).

14Für eine ausführliche Diskussion von Davidsons Konzept empirischer Erfahrung und McDowells Kritik siehe Christensen 2008, S. 23 ff.

15McDowell bezieht sich exemplarisch auf Gareth Evans' Wahrnehmungstheorie. Da allerdings nicht unumstritten ist, ob er Evans damit gerecht wird, soll McDowells Verständnis des Mythos des Gegebenen hier unabhän -gig von Evans' Theorie dargestellt werden.

Welt bilden kann, muss sie durch gewisse Infallibilität ausgezeichnet sein, oder wie Sellars es ausdrückt, sie muss selbstbeglaubigend sein: „These self-authenticating episodes would con-stitute the tortoise on which stands the elephant on which rests the edifice of empirical know-ledge.“ (Sellars 1995, S. 167)

Dieses prälogisch Gegebene soll den Kontakt unseres Denkens zur Welt sichern, was McDo-well zufolge jedoch deshalb nicht gelingt, weil gar nicht verständlich ist, wie etwas Prälogi-sches, das außerhalb der Rationalität und des Bereichs begrifflicher Bestimmtheit angesiedelt ist, unserem Denken Rechtfertigung verschaffen soll:

Suppose we are tracing the ground, the justification, for a belief or judgement. The idea [of the Myth of the Given] is that when we have exhausted all the available moves within the space of concepts, all the available moves from one conceptually organized item to another, there is still one more step we can take: namely, pointing to something that is simply received in expe-rience. It can only be pointing, because ex hypothesi this last move in a justification comes af-ter we have exhausted the possibilities of tracing grounds from one conceptually organized, and so articulable, item to another. (McDowell 2000a, S. 6)

Bestenfalls könne man hier wiederum einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Gegebe-nen und dem sinnerfüllten Wahrnehmungsurteil annehmen, was allerdings der ursprünglichen Forderung, nämlich die Entsprechung zwischen Urteil über die Welt und tatsächlichem Sein der Welt verständlich zu machen, so wenig gerecht werde wie der Kohärentismus: „In effect, the idea of the Given [wie auch der Kohärentismus] offers exculpations where we wanted jus-tifications.“ (McDowell 2000a, S. 8)

1.1.2 McDowells Lösungsstrategie: Wahrnehmung als passive Aktualisierung konzeptueller Fähigkeiten

McDowell schlägt eine Auflösung der Antinomie durch Verwerfung der Prämisse vor, derzu-folge Erfahrung als kausales Geschehen außerhalb des logischen Raumes der Gründe anzusie-deln ist und unserem Denken also keinerlei Rechtfertigung verschaffen kann. Jeder Sinnesein-druck sei stattdessen als Zusammenspiel von Spontaneität und Rezeptivität zu verstehen, je-doch in einem Sinne, in dem Rezeptivität nicht einmal einen begrifflich abzutrennenden Bei-trag zu dieser Kooperation leiste.16 Sinneseindrücke seien vielmehr als Aktualisierung konzep-tueller Fähigkeiten zu verstehen: „Impressions can be cases of its perceptually appearing – being apparent – to a subject that things are thus and so.“ (McDowell 2000a, xx)

Es ist die Sprache, die die Vermittlung von Spontaneität und Rezeptivität, also die Plausibili-sierung der Ansicht, Erfahrung liefere Gründe für Urteile, leisten soll. Dieselben Begriffe, die an aktiver Reflexion beteiligt sind, seien dies auch bereits an Wahrnehmung und Empfindung.

16[R]eceptivity does not make an even notionally separable contribution to the co-operation [between receptivity and spontaneity]“ (McDowell 2000a, S. 9).

Hier werden sie auf passive Weise aktualisiert, während das Subjekt in einer kontrollierten Reflexion aktiv und selbstkritisch mit den Begriffen umgeht:

A judgement of experience does not introduce a new kind of content, but simply endorses the conceptual content, or some of it, that is already possessed by the experience on which it is grounded.”(McDowell 2000a, S. 48/49)

Der entscheidende Unterschied zwischen dem Urteil, „dass p“ und der bloßen Wahrnehmung,

„dass p“ liege darin, dass im Falle des Urteils ein Akt der Freiheit ausgeführt wird, während in der bloßen Wahrnehmung die konzeptuelle Fähigkeit unfreiwillig aktualisiert wird. (Vgl. Mc-Dowell 2009e, S. 9ff.)

Im Zusammenhang der Erörterung des Verhältnisses von Erfahrung und Sprache reformuliert McDowell einen entscheidenden Gedanken Wittgensteins:

[T]here is no ontological gap between the sort of thing one can mean, or generally the sort of thing one can think, and the sort of thing that can be the case. When one thinks truly, what one thinks is what is the case. So since the world is everything that is the case (as he himself once wrote), there is no gap between thought, as such, and the world.“ (McDowell 2000a, S. 27) McDowells Verständnis der Wahrnehmung als passiver Aktualisierung konzeptueller Fähig-keiten soll also nicht nur eine rationale Verbindung zwischen Sinneseindrücken und Urteilen plausibilisieren, sondern zugleich zeigen, „dass in der skeptischen Frage die Sinnbedingungen für diese Frage unterschritten werden.“ (Loidolt 2010, S. 158) Es ist durch die Feststellungen getragen, dass eine Konzeptualisierung nicht-konzeptuellen Inhalts etwas völlig Unverständli-ches wäre und dass jeder unserer Eindrücke (selbst basale Empfindungen wie Farbempfindun-gen) immer schon in einen größeren Kontext eingebettet sind, dass die Eindrücke nur vor dem Horizont der Welt sind, was sie sind. Andererseits, so wird nun deutlich, ist die Welt nichts an-deres als dieser Horizont. Unsere Kriterien dafür, was real ist und was als eine gelungene Re-präsentation eines Gegenstandes im Denken gilt, kommen nicht von außerhalb unseres Welt-bildes, sondern sind eng verbunden mit der Erfahrung, die wir faktisch machen. Der skepti-sche Zweifel jedoch kann nur ein spezifiskepti-scher, sinnvoller Zweifel sein, wenn an der Erfüllbar-keit bestimmter Kriterien gezweifelt wird. Ein echter skeptischer Zweifel befürchtet eine nicht korrigierbare Täuschung. Was McDowell wohl anmerken will ist, dass wir nur aufgrund von Korrektur über den Begriff der Täuschung verfügen. Nur weil wir schon immer davon ausge-hen, dass zumindest einige unserer Urteile der Realität gerecht werden, verfügen wir über den Begriff einer unabhängigen Welt, die wir erfassen oder verfehlen können.17

17Kern bemerkt zurecht, dass McDowells Darstellung nicht in der Lage ist, einen epistemologisch skeptischen Zweifel derart auszuräumen, dass bezweifelt wird, dass wir in Bezug auf ein bestimmtes Urteil jemals sicher sein können, dass keine Täuschung vorliegt. (Vgl. Kern 2000, S. 928ff.) Dies scheint mir in unserem Zusam -menhang jedoch nicht problematisch zu sein, denn im Zusam-menhang der Frage nach der Objektivität von Werten, ist tatsächlich die Korrektur eines konfusen Verständnisses davon, was es heißt, überhaupt etwas zu

Es geht also bei der Beschreibung von Wahrnehmung als passiver Aktualisierung konzeptuel-ler Fähigkeiten darum, ein Bild des empirischen Denkens zu bekämpfen, demzufolge sich die-ses innerhalb einer inneren Sphäre abspielt, die eingebettet ist in eine äußere Sphäre der Reali-tät, mit der es lediglich durch nicht-konzeptuelle Sinneseindrücke in Verbindung steht. McDo-well kämpft immer noch gegen ein Humesches Weltbild an:

In der Welt findet die Vernunft, wie Hume nachdrücklich betont, weder Sinn noch verständli-che Ordnung. Vielmehr sei jegliverständli-che verständliverständli-che Ordnung in unserem Weltbild ein Produkt der Tätigkeiten des Geistes, und diese Tätigkeiten selbst seien nichts weiter als etwas, was sich seinerseits sozusagen sinnleer in der Natur abspielt. (McDowell 2009c, S. 40)

Indem nun bereits Sinneseindrücke als konzeptuell aufgeladen betrachtet werden und direkt zeigen, was der Fall ist, muss die Rationalität, die nach McDowell nichts anderes ist als das Reich konzeptueller Fähigkeiten,18 sich bereits in der Welt selbst finden.

Damit ist deutlich, inwiefern diese transzendentalphilosophischen Überlegungen mit be-stimmten ontologischen Annahmen einhergehen, die im Folgenden näher beleuchtet werden sollen.

1.2 Partielle Wiederverzauberung der Welt und Naturalisierung der Rationalität – Erste