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Die Absurdität irreal-konditionaler Szenarien

Sinnrelationen Sinnkonstitution Die Verhandelbarkeit des sprachlichen Ausdrucks Semantische Flexibilität Semantische Stabilität Sprachkonvention

9) dann wurde er Artist und zwar Falsch….irm Abspringer, sprang das erstemal falsch ab brach sich einen Fuss, der Fuss wurde ihm in der Klinik falsch

3.4.4 Die Absurdität irreal-konditionaler Szenarien

Karl Valentin, Originalvorträge, Verlag Max Hieber, München 1926, S. 27-29

Der „Gebrauch des Konjunktivs II ist vielfältig“ (Kessel/Reimann 2012, S. 87), wobei sechs Verwendungstypen genannt werden können: 1) Höfliche Bitte/Aufforderung, 2) Nichteintritt von etwas Erwartetem, 3) Irreale Wunschsätze, 4) Irreale Konditionalsätze, 5) Irreale Vergleichsätze, 6) Irreale Konsekutivsätze (vgl. ebd.).

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Der „wichtigste Anwendungsbereich des Konjunktivs II“ (Sommerfeldt/Starke 1998, S.

77) ist das irreale Konditionalgefüge, durch das „eine unerfüllte/unerfüllbare (irreale) Bedingung signalisiert wird“ (ebd.). Martin Durrell (2002) ergänzt die uner-füllte/unerfüllbare (irreale) Bedingung um den Aspekt ‚hypothetisch, fiktiv’ und beschreibt den Gebrauch des Konjunktiv II im Deutschen wie folgt:

„The main use of subjunctive II in German – in the spoken language as well as in writing – is to indicate unreal or hypothetical conditions, typically in conditional sentences with wenn (if)[.]” (Durrell u.a. 2002, S. 109)

In den vorangegangenen Kapiteln („Scheinbare Kausalitäten von Sachverhalten“ und

„Hinterfragen von Selbstverständlichkeiten“) wurde im Zusammenhang mit K.V.s Sprachproduktionen der Wahrheitswert des sprachlichen Ausdrucks und der Kausalitäten und Sachverhalte, auf die der sprachliche Ausdruck referiert, diskutiert. Es wurde festgestellt, dass sich zwar der sprachliche Ausdruck verhandeln lässt, nicht jedoch der Wahrheitswert außersprachlicher Kausalitäten und Sachverhalte. Die Klassische Logik setzt für einen Wahrheitswert – also für „die semantische Bewertung von Aussagen mit >wahr< oder >falsch<“ (Bußmann 2002, S. 744) – voraus, dass „der durch sie [die Aussage] bezeichnete Sachverhalt zutrifft“ (ebd.).

Der Konjunktiv II stellt eines der Instrumente zur sprachlichen Explikation von Utopia109 dar – wobei Utopia hier weitgefasst verstanden wird und für vieles stehen kann. Dazu gehören sowohl Wünsche und Vergleiche als auch die Formulierung von (noch nicht) erfüllter Ursache und Wirkung (Bedingung und Folge), also von letztendlich noch nicht vollendet zutreffenden Sachverhalten. Der zutreffende Sachverhalt ist hier lediglich der Wunsch, der Vergleich, oder aber auch die (noch nicht) erfüllte Ursache und Wirkung (Bedingung und Folge) als solche.

Ein sprachliches Zeichen bzw. der sprachliche Ausdruck kann seinen Sinn, seine Bedeutung und damit den Wahrheitswert also auch aus der einfachen Existenz einer irrealen Idee oder Vorstellung beziehen.

Im Hinblick auf K.V.s Sprachverwendung ist vorab ein Aspekt zu dieser Kategorie zu betonen: K.V. nutzt lediglich das bereits vorhandene Potenzial des Irrealis zum

109 „Utopie (griech. ou = nicht, topos = Ort)“ (Wilpert 2001, S. 865), also der Nicht-Ort.

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lichen Ausdruck irrealer Sachverhalte. Im Folgenden wird gezeigt, dass der Konjunktiv II im irrealen Konditionalgefüge bereits einen absurden Modus sprachlichen Ausdrucks darstellt, K.V. es jedoch durch das Arrangement der eingefügten Sachverhalte schafft, die Absurdität wiederum ad absurdum zu führen.

Auf der einen Seite steht also das syntaktische Gefüge, auf der anderen Seite der Aussageinhalt bzw. Wahrheitswert der Sachverhalte, die mit Hilfe des syntaktischen Gefüges arrangiert werden.

1) „Wenn Sie nämlich oben Wasser hineinschütten würden, und der Boden wäre nicht da, da könnten Sie ja oben zehn, zwanzig oder sogar dreißig Liter hineinschütten – das würde alles wieder unten hinauslaufen.“ (SW 1, Aquarium I: S. 13, Z. 23-26)

2) „Jetzt die Hauptsache vom ganzen Aquarium ist der Boden, der muß unbedingt da sein, denn wenn man nur die vier Wand hätt’ und den Boden nicht, und man schüttet oben Wasser, ’nein, dann läuft das Wasser unten raus, da dürfen Sie zehn Jahre Wasser neinschütten, das läuft immer unten’raus. Damit aber das Wasser nicht rausläuft, deshalb ist der Boden da.“ (ebd., Aquarium II: S. 183)

3) „unten is der Boden, der s’Wasser haltet, damit s’Wasser nicht unten wieder durchläuft, wenn ma oben eines hineinschüttet, wenn der Boden nicht wär, da dürfen sie oben 10, 20, 30 Liter neinschütten, des tät alles wieder unten durchrinnen.“ (ebd., Aquarium III: S. 185)

Lediglich in der Textvariante I (Beispiel 1) verwendet K.V. das irreale Konditio-nalgefüge. In den Textvarianten II und III (Beispiel 2 und 3) formuliert K.V. denselben Sachverhalt mit Hilfe einer kausalen Konstruktion (mit deshalb und damit) im Indi-kativ. Die Konstruktionen unterscheiden sich zwar, die Sachverhalte und damit Ursache und Folge bleiben jedoch die gleichen. In diesen Beispielen verbinden sich sprachliche Übergenauigkeit (genaue Beschreibung der Beschaffenheit eines Aquariums), das Hinterfragen von Selbstverständlichkeiten (ohne Boden würde das Wasser unten wieder herauslaufen) und die Absurdität der Sprachhandlung und damit des Arrangements der Sachverhalte im Rahmen eines Kausal- bzw. Konditionalgefüges. Der Boden des Aquariums ist in den drei Textvarianten – in Textvariante Aquarium II explizit – „die

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Hauptsache“ (siehe Beispiel 2) und gleichzeitig die Ursache bzw. Bedingung. Da es sich bei der Beschreibung der Sachverhalte insgesamt um eine Selbstverständlichkeit handelt, stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit der sprachlichen Explikation.

Die Existenz der Konditional- und Kausalgefüge zeigt, dass die Möglichkeit derartiger Formulierungen für Sprecher/Produzenten notwendig ist, andernfalls gäbe es diese Konstruktionen nicht. Der entscheidende Moment bei der Produktion sprachlicher Ausdrücke mit solchen Konstruktionen ist die Produktion eines pragmatischen Wertes, also eines kommunikativ verwertbaren sprachlichen Ausdrucks. Wie ist der kommunikative Wert der drei Beispiele nun zu beurteilen?

Aus der Sicht der Klassischen Logik (siehe „Scheinbare Kausalitäten – Wahrheitswert“) trifft der Sachverhalt110 zu und muss demnach als wahr angenommen werden. Hier wird evident, dass der Wahrheitswert alleine jedoch keinen kommunikativen bzw.

pragmatischen Wert begründen kann, da die Sachverhalte und deren sprachliches Arrangement unsinnig bleiben.

K.V. steigert in den folgenden Beispielen (4 und 5) die Absurdität der Struktur der Sachverhalte, deren Wahrheitswert und deren sprachliches Arrangement.

4) „wenn das bei einem Aquarium auch so wär’, als wie beim Vogelhaus, dann dürfte in einem Aquarium ungeniert ein Boden drinn’ sein, dann lief halt das Wasser, wenn man wirklich eins hineinschütten tate, da hinaus, wo der Draht nicht da ist.“ (ebd., Aquarium II: S. 183)

5) „Bei einem Vogelkäfig sind die Wände auch so ähnlich wie bei einem Aquarium, aber da ist alles ganz anders. Da sind die Wände nicht aus Glas, sondern aus Draht. Es wäre ja auch ein Riesenunsinn, wenn’s beim Aquarium ebenso wäre, weil das Aquarium das Wasser nicht halten könnte.“ (ebd., Aquarium I: S. 13, Z. 26-30, siehe auch Aquarium III: S. 185)

Der Vergleich eines Aquariums mit einem Vogelhaus ist – salopp ausgedrückt – wie der von Äpfeln und Birnen: Sie haben einzelne Merkmale gemeinsam (siehe Beispiel 5:

„sind die Wände auch so ähnlich“) und in anderen Merkmalen unterscheiden sie sich markant (siehe Beispiel 5: „da ist alles ganz anders“). Diese Aussagen sind wahr, deren

110 Wenn kein Boden da wäre, würde das Wasser herauslaufen.

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Einbettung in den Kotext ist jedoch wiederum absurd, da K.V. hier Selbstverständlichkeiten formuliert und sie in absurde Relation zu anderen Sachverhalten stellt.

In Textvariante II (siehe Beispiel 4) setzt K.V., im Rahmen des Vergleichs von Aquarium und Vogelhaus, die Bedingungen „die Hauptsache vom ganzen Aquarium [ist] der Boden“ mit „wenn das [die Wände] bei einem auch so wär’, als wie beim Vogelhaus“ in Relation. Damit stellt er einen Überkreuz-Vergleich an. Salopp gesagt, eine Wand ist eine Wand und ein Boden ist ein Boden und beide haben ihre eigene Funktion. In Beispiel 4 unterläuft K.V. mit dem irrealen Konditionalgefüge seine eigene Behauptung, dass der Boden die Hauptsache eines Aquariums wäre. Denn in dem Moment, in dem die Wände des Aquariums nicht mehr aus Glas, sondern aus Draht wären, wäre der Boden seiner wichtigen Funktion enthoben, denn „dann lief halt das Wasser, wenn man wirklich eins hineinschütten tate, da hinaus, wo der Draht nicht da ist“ (siehe Beispiel 4).

Der Vergleich der Beschaffenheit des Aquariums und des Vogelkäfigs ist bereits absurd genug. Nun stellt sich die Frage, ob das Adjektiv absurd einerseits grammatikalisch grundsätzlich steigerbar ist und andererseits ob eine Steigerung sinnhaft ist. Denn im Folgenden formuliert K.V. eine hypothetische Beschaffenheit und Nutzbarkeit von Fischen.

6) „Da hab’ ich den Fisch aufheben und wieder ins Aquarium zurücktun wollen, aber der Fisch war so glatt und ist mir immer wieder aus der Hand geglitscht. Ja, wenn er aus Eisen wäre, dann hätte ich einen Magnet genommen, und die Sache wäre erledigt gewesen. Aber es ist ja wieder von der Natur so schön eingerichtet, daß die Fische nicht aus Eisen sind, sonst könnten sie ja erstens nicht schwimmen, und zweitens könnte man sie ja dann nicht essen.“ (ebd., Aquarium I: S. 14, Z. 15-22)

Der Fisch aus Eisen, der mit Hilfe eines Magneten gehandhabt werden kann, gehört zu den valentinischen Themen und kommt in verschiedenen Monologen vor111. Nun ist der Wahrheitswert des Sachverhalts wiederum unbestritten, der Gedankengang als solcher

111 Siehe z.B. der Monolog MFAF. Siehe auch weitere Belege im Anhang unter „Die Absurdität konditionaler Szenarien“.

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und dessen Explikation sind jedoch absurd. Diese Absurdität wird hier durch das Konditionalgefüge (Konjunktiv II) verstärkt. Mit der Feststellung „Aber es ist ja wieder von der Natur so schön eingerichtet“ (siehe Beispiel 4)112 und den folgenden Wahrheitswerten (im Beispiel fett markiert) entfernt sich K.V. kurzzeitig von der Absurdität.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Kriterium „Wahrheitswert“ in Bezug auf sprachliche Produktionen ambivalent ist und das Auffinden des zutreffenden Sachverhalts vom Arrangement des sprachlichen Ausdrucks erschwert sein kann.

Sprachlicher Ausdruck und ausgedrückter Sachverhalt stehen in einem ambivalenten Verhältnis zueinander und müssen im Hinblick auf Absurdität und Nonsens unterschiedlich beurteilt werden. Ein sprachliches Zeichen bzw. ein sprachlicher Ausdruck als solcher kann nicht absurd sein, durchaus aber sinnentleert. Der damit ausgedrückte Sachverhalt hingegen kann sowohl absurd als auch sinnlos sein. Der Konjunktiv II (Irrealis) als Modus des sprachlichen Ausdrucks hingegen birgt bereits das Potenzial des Absurden in sich.

112 Ebenfalls im Anhang unter „Valentinische Phrasen“ zu finden.

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4 Abschließender Befund: Die Verhandelbarkeit des sprachlichen