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„Psychische Störungen in Form von affektiven, somatoformen und Angststörungen sind [...] in Deutschland weit verbreitet“ (Wittchen et al. 1999). Das spiegelt sich auch in der Diagnosenverteilung der hier untersuchten Psychotherapiepatienten-stichprobe wieder. Ab der Pubertät werden bei den Frauen mehr Depressionen, Ängste und Essstörungen beschrieben, während bei Männern mehr expansive Stö-rungen, wie schizoide bzw. antisoziale Persönlichkeitsstörungen und sexuelle Ver-haltensabweichungen auffallen (Rudolf 2002). Getrennt nach den Geschlechtern betrachtet, bestätigt die Diagnosenverteilung dieser Arbeit bezüglich der Essstö-rungen die Angaben der oben genannten Literatur, da sich in der Gruppe der an Essstörungen erkrankten Patienten ausschließlich Frauen befinden. Bezüglich der Angststörungen widersprechen die vorliegenden Ergebnisse der Literatur, da sich die Angststörungen im Vergleich zu den anderen Erkrankungen in der Gruppe der Männer hoch signifikant häufiger zeigen als in der Gruppe der Frauen. Auch die Aussage, dass Frauen häufiger an Depressionen leiden, kann nicht untermauert werden, da es bei dieser Erkrankung wie bei allen anderen an dieser Stelle im Ein-zelnen nicht genannten Störungen keinen signifikanten Unterschied zwischen den Geschlechtern gibt.

Getrennt nach Art der beantragten Therapie betrachtet, fällt auf, dass in der Grup-pe der Patienten, die durch eine analytische Psychotherapie behandelt werden sol-len, der Anteil der an Persönlichkeits- und Zwangsstörungen Erkrankten signifikant höher ist als der in der Gruppe der Patienten, für die eine tiefenpsychologisch fun-dierte Psychotherapie beantragt wird. Eine umgekehrte Verteilung zeigt sich be-züglich der Anpassungsstörungen zusammen mit den posttraumatischen Belas-tungsstörungen. Diese Verteilung spiegelt die unterschiedliche Herangehensweise der beiden hier untersuchten Psychotherapieformen wieder. „Während die tiefen-psychologisch fundierte Psychotherapie die jeweils aktuelle Konfliktdynamik zum Fokus ihrer Arbeit macht, soll im Rahmen der analytische Psychotherapie der für die Krankheitsdisposition verantwortliche Grundkonflikt bearbeitet werden“ (Rudolf und Rüger 2001).

7.3 Alter

Der größte Teil (67,37 %) der hier untersuchten Psychotherapieanträge bezieht sich auf Patienten im Alter zwischen 25 und 44 Jahren. Wie in Kapitel 3 dargestellt, kommen die in der Literatur beschriebenen Untersuchungen zum Thema der Al-tersverteilung unter Psychotherapiepatienten (Bräutigam 1980, Dührssen 1982, Rudolf 1991, Linden et al. 1993, Bolk-Weischedel 2002) zu ähnlichen Ergebnissen.

Der jüngere Teil dieser Gruppe entspricht bezüglich seines Alters den Yavis-Patienten (young, attractive, verbal, intelligent, sophisticated), so dass es sein könnte, dass es den Therapeuten wegen dieser Attraktivität der Patienten leichter fällt, eine positive Beziehung zu ihnen aufzubauen. Der ältere Teil dieser Gruppe entspricht dem Alter, in dem aufgrund vorangehender nicht gelöster Entwicklungs-aufgaben die allgemein bekannte Midlife-Crisis auftreten kann. Im Gegensatz zum höheren Lebensalter wird in der Literatur umfassend die Manifestation und Be-handlung psychischer Erkrankungen im mittleren Lebensalter behandelt. So stellt Baumann (1998) fest, dass bei der Analyse der Abstracts des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Psychologie hauptsächlich Beiträge zu Personen unter 60 Jahren zu finden sind.

In der psychotherapeutischen Versorgung sind Menschen über 60 Jahre immer noch deutlich unterrepräsentiert. Das zeigt sich in dieser Stichprobe an der Alters-verteilung und wird durch die Untersuchung der Merkmale Familienstand und Be-rufstätigkeit durch den geringen Anteil der Verwitweten und Rentner bestätigt.

Freud (1903) ist der Analysierbarkeit älterer Patienten gegenüber skeptisch, räumt aber später ein, dass es auch Personen geben würde, „bei denen diese psychische Plastizität weit über die gewöhnliche Altersgrenze bestehen bleibt“ (Freud 1918, S.

151). Abraham hingegen hebt bereits 1919 den Erfolg psychoanalytischer Behand-lung an älteren Menschen hervor: „Das Lebensalter, in welchem die Neurose aus-gebrochen ist, fällt für den Ausgang der Psychoanalyse mehr ins Gewicht als das Lebensalter z. Z. der Behandlung. Man kann auch sagen, das Alter der Neurose sei belangreicher als dasjenige des Neurotikers“ (S. 116). Dazu kommt, dass das narzisstische Gleichgewicht alter Menschen leicht zu stören ist (Kernberg 1977), da ihnen inzwischen häufig die Möglichkeit fehlt, Enttäuschungen und Kränkungen durch besondere Leistungen auszugleichen. „Die Schwellensituation zur Nachbe-rufszeit ist in vielerlei Hinsicht kritisch durch den Wegfall der Tagesstruktur, durch

Verlust von Freunden oder Partnern, durch Einkommensreduktion und Wohnungs-veränderung usw.“ (Lamprecht 2005, S. 5). Trotzdem ist es auch heute noch so, dass der Anteil der über 60-Jährigen unter den Psychotherapiepatienten ver-schwindend klein ist. Nach der Sekundäranalyse seiner epidemiologischen Daten schätzt Dilling (1981) den Bedarf an psycho- und soziotherapeutischen Hilfestel-lungen für die Gruppe der 50- bis 64-Jährigen auf 19 % und für die Gruppe der über 65-Jährigen auf 7 %.

Dieser angenommene Behandlungsbedarf steht im deutlichen Gegensatz zu der tatsächlichen Behandlungsrate älterer Menschen. Als Begründung für die Ableh-nung von Psychotherapieanträgen für ältere Menschen werden häufig prognostisch ungünstige Faktoren wie geringere Flexibilität, verminderte Plastizität und Entwick-lungsfähigkeit angeführt (Bolk-Weischedel 2002), und das, obwohl Grotjahn bereits 1955 hervorhebt, dass ältere Menschen häufig ihre letzte Chance in der Behand-lung sehen und laut Müller (1982) der Widerstand gegen unangenehme Einsichten im Alter geringer werde. „Zu sehr wurde aus psychoanalytischer - nicht nur aus dieser - Sicht Altern und Altsein unter die kontemplative Aufgabe der Vorbereitung auf Sterben und Tod gestellt. Diese letzte Aufgabe im Lebensverlauf bestimmt ei-nerseits gewiss mit zunehmendem Lebensalter die Sicht des eigenen Lebens (selbstverständlich auch in den psychotherapeutischen Behandlungen!), anderer-seits wird die zweite Hälfte des Erwachsenenlebens (bei dem derzeitigen Durch-schnittsalter der über 50-Jährigen) durch eindeutig andere Einflüsse und Aspekte geprägt“ (Radebold 1992, S. 2).

Eine signifikante Zunahme der Inanspruchnahme ambulanter Psychotherapie der 55 - 64-Jährigen kann durch die Untersuchung von Olfson at al. (2002) belegt wer-den. Auch Maercker et al. (2004) schließen aus ihrer Untersuchung von Inan-spruchnahme und Psychotherapiemotivation einer repräsentativen Bevölkerungs-stichprobe über 65-Jähriger, dass das Thema Psychotherapie in der älteren Bevöl-kerung nicht marginalisiert wird. In Anbetracht der längeren Lebenserwartung und der unter anderem damit verbundenen Prognose, dass in den nächsten Jahrzehn-ten der Anteil der alJahrzehn-ten Menschen in der Gesamtbevölkerung weiter deutlich stei-gen wird, stellt sich die Frage, wie sich diese Versorgungslücke schließen lässt.

Die Tatsache, dass die psychosomatischen Kliniken, die bereits spezifische

Be-Psychosomatik und Psychotherapie in den Jahren 2001 und 2002 ihren For-schungsschwerpunkt in den Bereich Gerontopsychosomatik und Alterspsychothe-rapie gelegt hat, ist als positiv zu bewerten. Es bleibt also abzuwarten, ob sich in einigen Jahren die Altersverteilung bei den Inanspruchnahmepatienten für ambu-lante Psychotherapie immer noch wie in dieser Arbeit auf das mittlere Lebensalter konzentriert oder ob in Zukunft auch vermehrt ältere Patienten therapiert werden.

Die aufkommende Frage, wer dann die vermehrten Kosten dafür tragen solle, ver-liert durch die Untersuchung von Mumford et al. (1984) an Schärfe. Sie zeigt, dass Menschen mit psychischen Problemen durch eine vermehrte Nutzung medizini-scher Dienstleistungen auffallen, diese erhöhte Inanspruchnahme aber nach psy-chotherapeutischer Behandlung besonders bei älteren Menschen reduziert werde.

Es ist also zu vermuten, dass durch die vermehrte Inanspruchnahme psychothera-peutischer Behandlung durch Ältere an anderer Stelle Kosten einzusparen sind.

7.4 Schulbildung

Die Ergebnisse dieser Arbeit bezüglich des höchsten Schulabschlusses unterstrei-chen die Angaben der Literatur, dass im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ein deutlich höherer Anteil der ambulanten Patienten, die über einen höheren Schulab-schluss wie das Abitur verfügen, zu finden ist (Rudolf et al. 1988, Rüger und Lei-bing 1999). Damit wird in diesem Zusammenhang auch, die These der „YAVIS-Patienten“ (young, attractive, verbal, intelligent, sophisticated) bestätigt. Patienten mit besserer Schulbildung zeigen eine eher psychosomatische Krankheitsauffas-sung (Beckmann et al. 1977) und scheinen deswegen auch bereitwilliger einer psychotherapeutischen Behandlung gegenüber zu stehen bzw. auch häufiger in eine solche überwiesen zu werden. Patienten hingegen, die einen niedrigen Bil-dungsstand haben und somit auch häufig eher der Unterschicht angehören, neh-men sehr viel seltener psychotherapeutische Hilfe in Anspruch. Dies scheint u.a.

mit einem anderen subjektiven Krankheitsverständnis dieser Gruppe zusammen zu hängen, welches häufig eher somatisch orientiert ist (Franz et al. 1999).

Auch getrennt nach Therapieform betrachtet, bestätigen die vorliegenden Ergeb-nisse die Vermutung von Rüger und Leibing (1999), dass der Bildungsstand einen Einfluss auf die Inanspruchnahme und die Indikation von Psychotherapie hat. Für

Patienten mit Abitur wird hoch signifikant häufiger eine analytische statt einer tie-fenpsychologisch fundierten Psychotherapie beantragt.

7.5 Familienstand

Bezüglich des Familienstandes wird in der Literatur ein Überwiegen der Ledigen und Geschiedenen bei neurotischen Patienten beschrieben (Höck 1960). In der vorliegenden Untersuchung zeigt sich im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung be-stätigend bei den Geschiedenen ein deutlich höherer Anteil in der Psychotherapie-patientengruppe. Die Ledigen sind mit 40,40 % zwar häufig vertreten, kommen in der Allgemeinbevölkerung jedoch etwa gleich häufig vor, so dass die Literatur an dieser Stelle nicht bestätigt werden kann. Getrennt nach den Geschlechtern be-trachtet, kann die klinische Einschätzung von Dührssen (1982), dass (junge) Män-ner eher mit Problemen im Zusammenhang mit Kontaktschwierigkeiten kommen und (ältere) Frauen eher wegen Konflikten verbunden mit Trennung und Schei-dung, bestätigt werden, da in dieser Untersuchung im Vergleich zum anderen Ge-schlecht bei den Männern die Ledigen und bei den Frauen die Geschiedenen ü-berwiegen.

Insgesamt dominieren die Nichtverheirateten (Ledige, Geschiedene, Verwitwete) in der Psychotherapiepatientenstichprobe. Cooper (1966) interpretiert seine ähnlichen Ergebnisse so, dass geistig labile Personen geringere Heiratschancen haben bzw.

dass das Verheiratetsein vor psychischer Krankheit schützt. Es muss aber bedacht werden, dass der Familienstand nur annähernd die familiäre Einbindung wiederge-ben kann, da nicht auszuschließen ist, dass Ledige oder Geschiedene schon seit Jahren in eine feste Lebensgemeinschaft integriert sind.

Bei den Patienten, für die eine analytische Psychotherapie beantragt wird, ist im Vergleich zu den Patienten, für die eine tiefenpsychologisch fundierte Psychothe-rapie vorgesehen ist, davon auszugehen, dass sich unter ihnen vermehrt „Singles“

befinden, da sowohl bei dem Familienstand „ledig“ als auch bei den Merkmalen

„zur Zeit kein fester Partner“ und „noch nie eine feste Partnerschaft“ ein hoch signi-fikant häufigeres Auftreten zu erkennen ist. Signisigni-fikant häufiger zeigt sich außer-dem in dieser Gruppe die Eigenschaft „allein lebend“. Diese Ergebnisse weisen auf

form genutzt werden kann. „Immer wenn bei einem Patienten die biographische Entwicklung weitgehend durch ungünstige und sehr starre Beziehungsmuster ge-kennzeichnet ist, die im Sinne eines Wiederholungszwangs immer ähnliche Konflik-te konsKonflik-tellieren, sollKonflik-te die Indikation einer analytischen Psychotherapie erwogen werden“ (Rudolf und Rüger 2001).

7.6 Lebensgeschichtliche Entwicklung und kritische Lebenser-eignisse

Das Diathese-Stress-Modell kann in der vorliegenden Untersuchung als theoreti-scher Rahmen fungieren. Viele der untersuchten Merkmale können als Vulnerabili-tätsfaktoren gewertet werden, die im Laufe der lebensgeschichtlichen Entwicklung zu einer erhöhten Anfälligkeit geführt haben könnten. Hier ist es insbesondere nicht verwunderlich, dass sich im Vergleich zur Normalbevölkerung höhere Belastungen finden lassen. So beispielsweise das Ergebnis, dass im Verhältnis der Anteil der Patienten, deren Mutter bei der Geburt des Kindes jünger als 20 Jahre alt war, hoch ist, oder auch das Ergebnis, dass im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung vie-le Patienten aus großen Familien mit vier oder mehr Kindern stammen. Dass im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung Psychotherapiepatienten häufiger geschieden sind, lässt sich in diesem Zusammenhang so werten, dass als aktueller Stressor das belastende Lebensereignis, Trennung vom Lebenspartner, als letzter Faktor zum Ausbruch der psychischen Erkrankung beigetragen hat. Ein anderer Stressor, mit dem auch eine erhöhte Anfälligkeit für psychische Störungen verbunden sein könnte, Arbeitslosigkeit, ließ sich in dieser Untersuchung allerdings nicht bestäti-gen. Das wiederum lässt sich möglicherweise dadurch erklären, dass die Men-schen mit niedrigem Schulabschluss und fehlender Berufsausbildung, die am häu-figsten von Arbeitslosigkeit betroffen sind, nur selten Psychotherapie in Anspruch nehmen.

Ein Schwachpunkt dieser Untersuchung bezüglich des Diathese-Stress-Modells ergibt sich dadurch, dass es für einige Ergebnisse wie z.B. die körperliche Gewalt in der Erziehung keine Vergleichszahlen der Allgemeinbevölkerung gibt. Außerdem stellt sich die Frage, ob die in der Lebensgeschichte mit Scham besetzten Themen wie Alkoholabhängigkeit der Eltern, Suizidversuche oder sexueller Missbrauch von den Patienten bereits zu diesem frühen Stadium der Therapie während der

proba-torischen Sitzungen wahrheitsgetreu beantwortet werden, so dass die hier ange-gebenen Ergebnisse bezüglich dieser Punkte vermutlich zu niedrig angesiedelt sind. Auffällig ist jedoch noch das Ergebnis, dass etwa ein Drittel der Patienten kei-nen festen Partner hat und wiederum fast ein Drittel dieser Patienten auch noch nie eine feste Partnerschaft hatte. Trotz der zum Teil fehlenden Vergleichszahlen kann also vermerkt werden, dass insbesondere Menschen, die viele Stressoren und we-nige persönliche Ressourcen haben, sich in Psychotherapie begeben. Insgesamt ist das Vulnerabilitäts-Stress-Modell von großer Allgemeinheit, die konkreten Er-gebnisse lassen sich aber in das Modell gut integrieren. Dass diese für das Diathe-se-Stress-Modell relevanten Faktoren wirklich einen für die vorliegenden psychi-schen Erkrankungen prädisponierenden Einfluss hatten, kann hier nur vermutet werden.