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1.3 Migration und Gesundheit

1.3.3 Deutschland als Einwanderungsland

In der Geschichte Nachkriegsdeutschlands lassen sich mehrere Einwanderungswellen als Reaktion auf politische und wirtschaftliche Entwicklungen abgrenzen. Obgleich jede Migrationsgeschichte Individualität besitzt, zeichneten sich die einzelnen Migrationswellen durch Zuwanderung von Bevölkerungsgruppen aus, die häufig Gemeinsamkeiten in der Zuwanderungsmotivation, der Herkunftsregion, Kultur und Bildung teilten.

Die erste Migrationswelle nach Ende des Zweiten Weltkriegs betraf vertriebene und geflüchtete Deutsche aus Mittel­ und Osteuropa, aus dem ehemaligen Reichsgebiet bzw. aus durch Hitlerdeutschland annektierten Gebieten (Stiftung Malteser Migrationsbericht 2017).

Schätzungen gehen von 12 bis 14 Millionen Menschen aus, die gegen Kriegsende und in den Folgejahren vor allem aus Gebieten des heutigen Polens und Tschechiens auf das Gebiet der späteren Bundesrepublik Deutschland (BRD) und der späteren Deutsche Demokratischen

29 Republik (DDR) flüchteten. Rund zwei Millionen Vertriebene verstarben unter den Strapazen der Flucht, teils auch durch Vertreibungsverbrechen (Faulenbach 2002). Trotz widriger Startbedingungen im zerstörten Nachkriegsdeutschland mit materiellem Mangel und Konkurrenz um lebenswichtige Güter wurden die Vertriebenen nicht zuletzt für ihr großes Arbeitskräftepotential für den Wiederaufbau geschätzt. Eine der autochthonen Bevölkerung gleichwertige Bildung, die gleiche Sprache sowie ein gemeinsames kulturelles Fundament erleichterten die Integration.

Bis zur vollständigen Abriegelung der sowjetischen Sektorengrenze im Sommer 1961 erreichten rund 2,7 Millionen Binnenflüchtlinge aus der DDR Westdeutschland, die sich dank gleichwertiger beruflicher Qualifizierung relativ leicht in die neue Heimat einfanden.

Mitte der 1950er Jahre stieg mit dem Wirtschaftswachstum auch der Bedarf an Arbeitskräften in der damaligen BRD. In Anwerbeabkommen mit Italien (1955), Spanien (1960), der Türkei (1961) und weiteren europäischen und nordafrikanischen Ländern wurde der Zuzug sog.

Gastarbeiter nach „Westdeutschland“ vornehmlich für niedrig­qualifizierte Jobs in der Industrie vereinbart (Stiftung Malteser Migrationsbericht 2017). Die Zahl ausländischer Arbeitnehmer erreichte im Jahr 1973 in der BRD mit rund 2,6 Millionen ihren Höchststand (Nuscheler 2004), mit Italienern, Spaniern und Griechen als größte Zuwanderungsgruppen (Stiftung Malteser Migrationsbericht 2017). Infolge des Jom­Kippur­Kriegs und der einhergehenden ersten Ölkrise samt wirtschaftlicher Rezession erfolgte 1973 ein Anwerbestopp (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2020). Rückkehrprämien zeigten nur einen geringen Effekt. Trotz sinkender Zahl der eigentlichen Gastarbeiter stieg in der BRD durch Familiennachzug und eine gegenüber der autochthonen Bevölkerung höhere Geburtenrate der Anteil der ausländischen Bevölkerung (Nuscheler 2004). Zur Zeit des sog. Wirtschaftswunders war die Gastarbeit als befristet vorgesehen gewesen und aktive Bemühungen um Integration nicht unternommen worden. In den späten 1970er und 1980er Jahren offenbarten sich zusehends die sozialen Konsequenzen: die sprachliche und berufliche Eingliederung der Zuwanderer in die bundesrepublikanische Gesellschaft ging nur zögerlich voran, auch im Jahr 1984 zählten noch 70 % dieser Bevölkerungsgruppe zu angelernten oder ungelernten Arbeitskräften.

Anfang der 1970er Jahre wurde im Rahmen der Ostverträge zwischen der BRD und einigen Staaten des Warschauer Paktes die Ausreisefreiheit für in Osteuropa lebende, oftmals benachteiligte Deutsche und deutschstämmige Minderheiten beschlossen. Unter Berufung auf die verbindende deutsche Kultur und konservativ­christliche Werte setzte sich im folgenden Jahrzehnt insbesondere die Christlich Demokratische Union (CDU) unter Helmut Kohl für den

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Zuzug der sog. (Spät­)Aussiedler ein (Stiftung Malteser Migrationsbericht 2017). Bis 2015 erreichten so 4,5 Millionen sog. (Spät­)Aussiedler aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, Polen und Rumänien die Bundesrepublik Deutschland (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016), die meisten in den Folgejahren der sog. Wende ab 1990.

Abb. 1: Entwicklung der jährlichen Asylanträge in Deutschland. Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2020a

Während Asylsuchende bis dato unter den Zuwanderern nur einen geringen Anteil ausmachten, erreichten ab 1980 in Reaktion auf innereuropäische Kriege und Konflikte angrenzender Länder mehr und mehr Asylsuchende das Land. Die erste größere Zuwanderungswelle Asylsuchender ereignete sich 1980 als Konsequenz der gesellschaftlichen Umwälzungen nach dem dritten türkischen Militärputsch, welcher zur Auflösung des Parlaments und der gerichtlichen Anklage Hunderttausender führte. In den 1990er Jahren führten vor allem die Postjugoslawienkriege sowie die Konflikte in den türkischen Kurdengebieten zu weiteren Asylgesuchen. Die Zuwanderung der meist sozial schwachen Asylbewerber stieß teils auf gesellschaftliche Ablehnung; tatsächlich kamen Anfang der 1990er Jahre jedoch insgesamt mehr Menschen durch Familiennachzug und EU­Freizügigkeit nach Deutschland als infolge von Asylgesuchen.

Im Zuge der EU­Osterweiterung sowie durch die wirtschaftlichen Folgen der globalen Finanzkrise 2007 begünstigt, kam es Ende der 2000er Jahre zu einem Zuzug vorwiegend von Erwerbsmigranten aus Südost­ und Osteuropa (Stiftung Malteser Migrationsbericht 2017). So kamen etwa im Jahr 2008, während des Höhepunkts der Weltwirtschaftskrise, die meisten innereuropäischen Zuwanderer aus Polen (131.000), Rumänien (47.000), Ungarn (25.000) und Bulgarien (23.000) nach Deutschland (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016).

0 100000 200000 300000 400000 500000 600000 700000 800000

1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015

Anzahl der Asylanträge

Jahr

31 Der syrische Bürgerkrieg zwischen den Regierungstruppen Baschar al­Assads und oppositionellen Kräften unter Beteiligung verschiedener Drittstaaten führte seit dem Jahr 2011 zu massiven Flüchtlingsströmen innerhalb des Nahen Ostens und nach Europa (Stiftung Malteser Migrationsbericht 2017). Schätzungen des UN­Menschenrechtsrats zufolge waren im Jahr 2015 mehr als vier Millionen Syrer in die Nachbarstaaten geflüchtet, weitere 7,6 Millionen befanden sich innerhalb Syriens auf der Flucht (United Nations High Commissioner for Refugees 2015). Viele erreichten über das Mittelmeer oder die westliche Balkanroute Westeuropa (Stiftung Malteser Migrationsbericht 2017). Die Zahl der Asylgesuche in Deutschland erreichte im Jahr 2015 den historischen Jahreshöchststand von 890.000 (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2020a). Die meisten Asylsuchenden stammten dabei aus Syrien, Afghanistan und dem Irak; mehr als zwei Drittel der Antragssteller waren männlich und unter 30 Jahre alt, ein Drittel sogar noch minderjährig (Stiftung Malteser Migrationsbericht 2017).

Abb. 2: Charakterisierung der 19,3 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland (Stand 2017). Abkürzungen: dt. = deutsch, ME = Migrationserfahrung, MH = Migrationshintergrund. Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019

Im Untersuchungsjahr 2017 lebten in Deutschland 19,3 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, ein knappes Viertel der Bevölkerung. Jede zweite Person mit

Deutsche: eingebürgert, mit ME (10,4 %)

Deutsche: eingebürgert, ohne ME (2,6 %)

Deutsche: Spätaussiedler (15,1 %)

Deutsche: MH, geboren mit dt.

Staatsangehörigkeit (22,9 %) Deutsche: dt. Staatsangehörigkeit durch Adoption (0,3 %)

Ausländer: mit ME (41,0 %)

Ausländer: ohne ME (7,8 %)

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Migrationshintergrund ist Ausländer, besitzt also nicht die deutsche Staatsangehörigkeit (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019). Im Zehnjahreszeitraum zwischen 2007 und 2017 stieg die Anzahl der Menschen mit Migrationshintergrund von rund 15 Millionen auf über 19 Millionen um 25 % bei etwa konstanter Gesamtbevölkerungszahl. Dieser Anstieg ging maßgeblich auf den Netto­Zuzug von 2,4 Millionen Ausländern zurück (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2020b), u.a. im Rahmen der sog. Flüchtlingswelle von 2015/2016.

Insgesamt machen Ausländer mit eigener Migrationserfahrung als Migranten der ersten Generation mit 41 % die größte Gruppe unter den Menschen mit Migrationshintergrund aus.

Mit 23 % folgen an zweiter Stelle mit deutscher Staatsbürgerschaft geborene Menschen mit Migrationshintergrund (Abb. 2). Rund zwei Drittel der in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund sind selbst zugewandert (erste Generation), das übrige Drittel ist bereits in Deutschland geboren (zweite oder Folgegeneration). Personen mit Herkunft aus den ehemaligen Gastarbeiterentsendestaaten, etwa der Türkei, Italien und Griechenland, leben weitaus häufiger bereits in der zweiten oder nachfolgenden Generation in Deutschland als Personen aus anderen Ländern (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019).

Abb. 3: Herkunftsländer und ­regionen der 1,2 Millionen Berliner mit Migrationshintergrund (Stand 2017). Quelle: Amt für Statistik Berlin­Brandenburg 2018b

Frankreich

33 Die Bundeshauptstadt Berlin hatte im Untersuchungsjahr 2017 mit 17,6 % den höchsten Anteil ausländischer Bevölkerung unter allen deutschen Bundesländern, gefolgt von den anderen Stadtstaaten Bremen (17,4 %) und Hamburg (17,2 %) (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019). Jeder dritte Berliner (33 %) hat einen Migrationshintergrund; die häufigsten Herkunftsländer sind die Türkei (14,8 %), Polen (9,1 %), Russland (4,6 %), Syrien (3,1 %) und Italien (3,0 %) (Amt für Statistik Berlin­Brandenburg 2018b).