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Der Begriff der dv6po)Treta <J>6cnc bei Thukydides

n. Der Prophasisbegriff als Indiz für die Anwendung des medizinischen Aitiologiekonzeptes bei

2. Der Begriff der dv6po)Treta &lt;J&gt;6cnc bei Thukydides

Nach diesem summarischen Überblick über Bedeutungsentwicklung und Verwendungsweise des Physisbegriffes im Zusammenhang mit den Vor-stellungen vom Wesen des Menschen im nichtmedizinischen Bereich kann nunmehr die Frage nach dem Verhältnis der thukydideischen Physisvor-stellung zum medizinischen Denken in den Mittelpunkt treten. Dabei sollen die Resultate dieser kursorischen Übersicht helfen, die Beziehung, die nach unserer Auffassung zwischen der hippokratischen Medizin und Thukydides im Hinblick auf den Begriff der dvOpünreta 4>{KTIC vorliegt,

83) Das einzige Beispiel, das man in gewissem Sinne als Ausnahme hiervon bezeichnen könnte, findet sich in der LausHelenae des Gorgias (VS 82 B 11 § 14), wo es heißt: jbv ainbv 8£ \6yov *re TOU X6you Stivaiuc TTpöc TTV TTJC <JWXT)C T6£IV f\ re TÜW

<j>ap^JulKü)i> Td£ic TTpöc "rt)V TU>V <JW^TW fyixnv. Hier handelt es sich jedoch, wie durch den zweiten Teil des Vergleichs zu erkennen ist, um die Anwendung eines Beispieles aus dem Gebiet der Medizin auf den geistig-seelischen Bereich.

84) Dabei umfaßt diese in der Physis liegende Notwendigkeit zumeist auch nur einen sehr begrenzten Teil der menschlichen Natur, nämlich den Bereich der Triebe. Vgl. VS 82 B 11 5 4; IIa § 15. Vgl. hierzu auch Anm. 82.

85) Dieser Unterschied setzt sich auch in der jeweiligen Beschreibungsperspektive fort:

Während die sophistische Argumentation dem Handelnden ein Rechtfertigungsmodell bieten will, gibt die medizinische Beschreibung dem Betrachter ein Erklärungsmodell.

gegen andere denkbare Einflußquellen, worunter insbesondere die Sophi-stik zu verstehen ist, abzugrenzen und somit gegebenenfalls ihre Singula-rität zu erweisen. Die Hypothese, der thukydideische Physisbegriff ent-stamme der Medizin, wird nämlich nur dann überzeugen, wenn sich zu-gleich die Unableitbarkeit dieser Vorstellung aus anderen als medizini-schen Quellen ergibt. Dieses Beweisziel macht es erforderlich, gerade auf solche Implikationen und Strukturmomente des Physisbegriffes zu achten, die ausschließlich in der Medizin und bei Thukydides bestehen.

Aus praktischen Gründen empfiehlt es sich, den Anfang der Untersuchung bei Thukydides zu nehmen: Da der Physisbegriff bei dem Historiker kein so großes Bedeutungsspektrum wie in den medizinischen Schriften umfaßt, wird es bei der anschließenden Untersuchung von <£umc im medizinischen Bereich einfacher sein, die spezifische Vorstellung, die Thukydides mit den Medizinern gemeinsam hat, aus dem größeren Spektrum des medizinischen Physisbegriffes auszugrenzen und die jewei-ligen Bezugspunkte zwischen Thukydides und der Medizin zu verdeutli-chen.

Der Schwerpunkt der Untersuchung über die ävöpümreta cfaiatc bei Thukydides soll darin liegen, die Bedeutung dieses Begriffes für die Geschichtsauffassung des Historikers, insbesondere was die Motivation und den Verlauf des historisch-politischen Geschehens anbelangt, hervor-zuheben. Da Thukydides das geschichtliche Geschehen vor allem unter dem Aspekt der Allgemeingültigkeit erfaßt, ist auch sein Verständnis vom Menschen als Träger dieses Geschehens weitgehend von dieser Perspek-tive bestimmt. Um die Vorstellungen des Thukydides vom Menschen im Rahmen seiner Geschichtsauffassung zu verstehen, ist daher von solchen Stellen auszugehen, an denen der Mensch unter dem Gesichtspunkt des Allgemeinen gesehen wird. Dies ist zunächst dort der Fall, wo eine kollek-tive menschliche Physis vorausgesetzt wird.

ä) Die Vorstellung einer kollektiven Physis bei bestimmten Menschengrup-pen

Als sich der athenische Stratege Nikias angesichts des immer deutlicher werdenden Desasters der Sizilienexpedition mit einem Brief an seine Mitbürger wendet, in dem er die katastrophalen Zustände in der vor Syrakus liegenden Flotte schildert, wo sich Desertion und Müßiggang

breit-gemacht haben (Thuk. VII 11-15), beklagt er sich vor allem darüber, daß er in seiner Stellung als Feldherr keine Möglichkeit habe, diesen Vorgängen Einhalt zu gebieten (VII 14, 2). Der Grund für die Unmöglichkeit, gegen diese Zustände etwas zu unternehmen, wird von Nikias in folgendem Aus-druck angegeben: (xaXfTral ydp a l iui-repat <f>6(jetc äp£at)...

Nikias gibt damit ein Pauschalurteil über die Gesamtheit der Athener ab, das implizit besagt, die fyixjic eines jeden Atheners sei x0^1^ dpfrxt.Zwar läßt das Urteil nicht den Schluß auf eine generelle Physis der Athener zu, allgemein ist das Urteil jedoch in seiner Ausdehnung auf die Gesamtheit der Athener im Hinblick auf den Vorgang des dp£at. Wenige Zeilen weiter fährt Nikias fort (VII 14, 4), er hätte ihnen zwar auch erfreulichere Nachrichten schicken können, aber nicht nützlichere. Den Nutzen seiner Nachrichten bezieht Nikias darauf, daß die Athener nunmehr in voller Kenntnis um die schlimmen Zustände in dem Expeditionskorps ihre Be-schlüsse fassen könnten. Zugleich begründet er seine Entscheidung, die ungeschminkte Wahrheit zu berichten, auch mit seinem Wissen um das Verhalten der Athener in ähnlichen Situationen: . . . Kai &\ia Tdc <j>6aetc

£mcrrd|jLevoc lu,ü>v ßou\ouivQ)i> \ikv Td fiStcrra dKotietv, alncouivcov 8k Xxrrepov, f\v n b\fiv d-rf abruv uf) öumov kicßxi, da<J>aX^OTepov f)yn<jduT|i>

TÖ d\T)0£c SnXaxrat.

Wiederum bezieht sich das Urteil des Nikias auf die ^faretc aller Athener, es setzt allerdings auch hier nicht, wie bereits an der vorgenannten Stelle zu sehen war, eine generelle <f>foxtc für die Gesamtheit der Athener voraus, sondern nur, soweit sie die Gleichartigkeit ihres Verhaltens, die in den bei-den Partizipialausdrücken ßouXouivwv \ikv ... alTtcouivcov 8k Xxrrepov ...

explizit genannt ist, betrifft. Diese präzisierende Aussage über das Ver-halten der Athener bei Beschlußangelegenheiten basiert offenbar auf einer in der Vergangenheit liegenden Erfahrung. Der aus dieser Erkenntnis re-sultierende Entschluß des Nikias, nur die Wahrheit zu berichten, da dies seiner eigenen Sicherheit zuträglicher sei (... dfj<f>aX£oTepov f|yrjadp.T|v TÖ d\n9£c &nXü)crat), macht deutlich, daß Nikias offensichtlich mit einer Wie-derholung des in den <f>6aetc der Athener gründenden Verhaltens in der Zukunft rechnet8^. Das Urteil enthält also auch eine Verallgemeinerung im Hinblick auf die Ausdehnung in der Zeit. Hierzu stimmt genau ein Passus aus der von Thukydides indirekt wiedergegebenen Rede des Nikias beim Kriegsrat vor der vierten Seeschlacht im Hafen von Syrakus, worin dieser seine Entschlossenheit bekundet, sich wegen seines Mißerfolges nicht von

86) Vgl. dazu auch Weidauer, a.a.O., S. 33.

den Athenern mit Schimpf und Schande und ungerechterweise um-bringen zu lassen (VII 48, 4): OÖKOUV ßotiteoöai a(rr6c ye £mordu,ei>oc

T(ic ' Aörivatcov <J>{KJ6LC £TT alaxpq T e cxlxtcjt K a i d8tK0)C im' 'A&nvalojv

dTroXiaöaL.

Diese Befürchtung wird wiederum mit der Kenntnis der (J>{KT6LC der Athener, deren auf diese Qboic gegründetes Verhalten sich offenbar in der Vergangenheit in der genannten Weise manifestierte, motiviert. Dabei läßt Nikias' Aussage hier abermals den auf der Erfahrung der Vergangenheit beruhenden Schluß auf ein gleiches Verhalten in der Zukunft erkennen.

War bisher im Zusammenhang mit dem Verhalten von Kollektiven immer nurvon^ücxetc in der Mehrzahl die Rede, so daß jeder einzelne Angehörige dieses Kollektivs konkret als Träger einer solchen 4>(KJLC vorgestellt wird, so wird in III 64, 4 ausdrücklich von einer gemeinsamen <{>{KJIC einer be-stimmten Menschengruppe gesprochen. In den Übergabeverhandlungen mit den Peloponnesiern weisen die Platäer auf ihre Verdienste im Kampf mit den Persern hin, worauf die Thebaner, aus Furcht, die Spartaner könn-ten dadurch milde gestimmt werden, den Platäern entgegnen: Kai ä \i£v

TroTe xpnoTol £y£i>ea0e, cbc <J>a*r£, ob Trpoaf|KOVTa £8et£aTe, d 8£ f) 4>(KJIC alel dßoOXeTO £?nX£yx9r| kc TÖ ä\T)Qt< [lerä y d p ' A&nvatcov ÄSIKOV

68öi> l6i>Tcov kx(^pAaaTe'

„Und worin ihr euch einst, wie ihr behauptet, als Helden erwiesen habt, so habt ihr jetzt gezeigt, daß dies nicht aus euch selbst kam. Was aber eure Natur immer wollte (sc. sowohl in den Perserkriegen wie jetzt im Kampf mit den Griechen), das kam als die Wahrheit zutage: Ihr seid nämlich zusammen mit den Athenern, die den Weg des Unrechts beschritten, gegangen." V o n den Thebanern wird nunmehr i n ihrer Anschuldigung gegen die Platäer nicht mehr eine Mehrzahl von (allerdings als gleich vor-gestellten) <J>(KT6LC vorausgesetzt, sondern eine einzige <f>0aic angenom-men, die die Gesamtheit der angesprochenen Menschengruppe umfaßt.

Diese gemeinsame Qboic wird als der Grund des einheitlichen „außenpo-litischen" Willens der Platäer, in der innergriechischen Auseinanderset-zung die Partei Athens zu ergreifen, angegeben. Die Platäer werden in ihrem politischen Handeln als Kollektivum gesehen; damit ist die Gesamt-heit der <f>6creic der einzelnen Platäer in der einen gemeinsamen </>(KJLC dieses Kollektivums aufgegangen. Wie in den beiden vorhergehenden Beispielen ist in dieser 4>{KJLC eine zeitliche Kontinuität impliziert. Diese Kontinuität wird hier durch das Zeitadverb alet sowie durch das durativen Aspekt tragende Imperfekt k$ob\ero nachdrücklich betont.

Zur Ergänzung ließe sich hier noch eine Stelle anfügen, an der zum

< Ausdruck derselben Vorstellung zwar nicht das Substantiv ^krtc begegnet,

\ aber die zu diesem Stamme gehörige Verbalform. Auf der Tagsatzung des peloponnesischen Bundes in Sparta versuchen die Korinther durch eine Schilderung des unsteten Wesens der Athener die Spartaner aus ihrer abwartenden Haltung zu locken und für den Kriegsbeschluß zu bestim-men. Dabei fuhren sie unter anderem aus (I 70, 9): &ure et Ttc aÜTOuc

(= TOUC ' A&nvatouc) Zvve)jbv <f>alr\ ire<f>vK£vai kiA TCU \rf\re airroüc ? xe L V ;

fjauxtav [Ji^Te TOUC dXXouc dfOpooTrouc £ a v , 6p9o)C &v etTrot.

Zweifellos entspricht die Vorstellung des Gewordenseins (Tre<J>i»K^vat) der Athener, die sich hier ausdrückt, genau dem mit dem Begriff <f>6crtc aus-gesprochenen Gedanken, der an den anderen Stellen zu beobachten war:

Das TrecfaiK^vcu umfaßt die Gesamtheit der Athener, es hat sich in der Ver-gangenheit als ein ganz bestimmtes herauskristallisiert und wird auch wohl, wie die Korinther meinen, für die Zukunft so bestehen bleiben. Dies geht aus der finalen Bestimmung kTTI TC*> ... sowie dem Appellcharakter, den die gemachte Behauptung trägt, klar hervor. Zugleich bildet das TTecfwK^vat die Grundlage für das Verhalten der Athener. Dabei ist mit diesem Tre<j>vic£vat, soweit wir das hier vermuten können, auch eine zwingende Notwendigkeit verbunden: es erlaubt den Athenern nicht, sich selbst ruhig zu verhalten und die anderen Menschen in Ruhe zu lassen, sondern bestimmt sie zu einem aktiv-aggressiven Verhalten. Aus der Kenntnis dieser der Physisvorstellung inhärenten Zwangsläufigkeit des Verhaltens lassen sich daher auch prognostische Schlüsse auf die Zukunft ziehen.Dies ist etwa in II 11, 7 der Fall, wo der Spartanerkönig Archi-damos vor dem Einfall nach Attika prophezeit, die Athener würden gegen die Verwüster ihres Landes zu Felde ziehen. Seine Prognose gründet er wiederum auf die Kenntnis des rasch zupackenden Wesens der Athe-ner: Kai ol Xoytauiü £Xdxtora x P ^ e f o t Qv\xq irXetora £c kpyov KaötoraiTat. ' A&rpatouc & *al TTX£OI> Tt TCOV äXXcov eUöc TOUTO Spacrat, ol äpxetv re TCÜV dXXwv df towt Kai kmövrec rf\v TCÜV ir£Xac STJOW uaXXov f\ rf\v aurü)i> öpav.

Archidamos behält mit seiner Vorhersage recht: Die Athener wollen gegen die einfallenden Feinde ausrücken und können nur durch die Überzeu-gungskraft des Perikles von diesem Vorhaben abgebracht werden (II 13 ff.). Der Realitätsgehalt solcher Allgemeinaussagen über das Wesen von Menschenkollektiven wird in diesem Fall also durch das faktische Gesche-hen bestätigt.

b) Der Begriff der dvOpcüTreia <f>vaic in generalisierender Bedeutung A m wichtigsten für unsere Untersuchung ist der thukydideische Physisbe-griff in der umfassenden Bedeutung „Menschennatur" (ävöpameta c^atc bzw. <)){KJLC dvOpcÄTrcov). Im Gegensatz zu der im vorherigen Abschnitt dargestellten Verwendung, bei der es sich jeweils um die fyixjeic: bzw. die ((>(KJIC einer bestimmten Gruppe von Menschen handelte, und auch da nur hinsichtlich eines irgendwie umgrenzten Bereiches, wie z.B. der Be-schlußfassung oder der Außenpolitik, spricht Thukydides an zentralen Stellen seines Werkes in einer umfassenden Verallgemeinerung von der dvGpoTreta (friicnc schlechthin. So heißt es in den berühmten Worten aus der sogenannten Pathologie des Krieges (III 82, 2): Kai kiriireae TroXXd Kai XaXETrd KOTA crrdatv TOLC TTÖXeai, yiyv6p.ei>a \xkv Kai atel kad^eva, £coc fiv f| airrf] <|>{K7ic dv9p<uTrün> Tj ...

„Und viel Schweres brach infolge des Aufruhrs über die Städte herein, wie es wohl geschieht und immer sein wird, solange die Physis der Menschen dieselbe ist."

Für die interpretatorische Auswertung ist von Belang, daß dieser Satz nicht einem Sprecher der thukydideischen Reden in den Mund gelegt wird, sondern in dem Exkurs steht, in dem Thukydides aus seiner Warte über die Entartungserscheinungen während der Bürgerkriege in den griechischen Städten spricht. Man muß somit davon ausgehen, daß der Historiker in diesem Satz seine persönliche Ansicht zum Ausdruck bringt. Demnach gibt es eine allen Menschen gemeinsame <J>(KJIC, die für die Gesamtheit der Menschen dieselbe ist8 7 ) (f) aird\ <J>0atc di>8p<irnw). Weiterhin wird von dieser <f>uxjtc dvOpoÜTTCov gesagt, daß sie zu allen Zeiten unveränderlich und somit konstant sei, wenngleich Thukydides in seiner Formulierung, die von der Verwendung des prospektiven Konjunktivs (£coc &v ... fj) bestimmt ist, sich sehr vorsichtig über die Fortdauer dieses Zustandes in der Zukunft äußert. Für die Vergangenheit und die Gegenwart steht ihm aufgrund der

87) Besonders schön zeigt sich auch in der berühmten Stelle II 41, 1 im Epitaphios die Vorstellung einer trotz allen ethnischen und individuellen Unterschieden, deren Bedeu-tung Thukydides natürlich nicht verkennt, gemeinsamen Menschennatur: Kai Ka8'

^KaaTou SOKHV dV \LOI TÖI> ainbv AVßpa irap' i\\uix> £irt TrXeicrr' äi> et8n Kai \ierä Xapliw HOAIOT' Ai> e&TpaTr£Xfc>c TÖ <ju\ia afrrapKec trap^x^^ai- MitTÖv abrbv ÄVSpa bezeichnet Thukydides das Wesen des Menschen, das nach Abstraktion der individuellen Unterschiede bei allen Menschen das gleiche ist. Ganz entsprechend heißt es in I 84, 4 (aus dem Munde des Archidamos): „Man darf nicht glauben, daß von Mensch zu Mensch ein großer Unterschied sei."

Kenntnis des Gewesenen die Gültigkeit dieses Satzes eindeutig fest, aber auch für die Zukunft ist, wie sich an der thukydideischen Ausdrucks weise ablesen läßt, mit allergrößter Wahrscheinlichkeit zu erwarten, daß diese Konstanz weiterhin gegeben sein wird8®. Thukydides setzt hier bei seinen Lesern einen Consensus communis voraus, der es ihm erlaubt, die Vor-stellung von der Konstanz der dvOpameta <f>6atc gleichsam als ein fest-stehendes Axiom zu formulieren, ohne es näher begründen zu müssen.

Ferner verbindet sich an dieser Stelle eine dritte wichtige Implikation mit dem Physisbegriff: Die dvöpcoTreta <f>0atc ist für Thukydides sowohl der hinreichende wie der notwendige Grund, daß sich solche Ereignisse wie in Kerkyra zutragen und stets zutragen werden (... ytyv6p.eva Kai alel ku6[ieva . . . ) . Solche von der menschlichen Physis verursachten Gescheh-nisse sind, wie Thukydides weiter ausführt, zu jeder Zeit da, sie werden nur durch die äußeren Verhältnisse modifiziert: uxiXXoi> &k Kai fjcnjxatTepa Kai

TOTC etSeat St'nXXayuii'a, (Lc äv ^Kacrrat a l p,eTaßoXal TCOV ZVVTVXIMV

e<J>t<TTcoi>Tai.

Aus dieser letzten Bemerkung läßt sich noch eine weitere Aussage über die dv6pa)Treta <t>üaic ableiten: Thuydides versteht die Auswirkungen der menschlichen Natur, die sich aus ihrem natürlichen Gewordensein erge-ben, unter dem Aspekt der Reaktivität. Letztlich sind die jeweiligen Umstände für das Verhalten der Menschennatur verantwortlich. So besitzt die dvOpcoiTeta </>{KJIC während der Friedenszeit weitaus weniger Veranlas-sung, sich in der von Thukydides in der Pathologie beschriebenen Weise auszuwirken. Dies ergibt ganz eindeutig die Äußerung, mit der Thukydides das Vorangegangene erläutert (III 82, 2): kv \xkv y d p elpr^irj Kai dyaOotc

*rrpdy|iaatv dt Te TröXetc Kai ol IStarrat dp.etvouc Tdc yvü)u,ac kxovui 8td [xf\ kc dKOuatouc dvdyKac TrliTTetv. Bestimmte Noüagen (dvdyKat)

zwingen also die dvGpometa <f>6atc zu dem genannten Verhalten; ihre Ver-haltensweisen müssen somit als zwangsläufige Reaktion auf bestimmte äußere Umstände verstanden werden. Zu solchen Notlagen kommt es na-turgemäß besonders während eines Krieges oder eines Bürgerkrieges, der von Thukydides als eine Sonderform des Krieges verstanden wird. Er verweist daher auch im Zusammenhang dieser Stelle, w o er v o n den gewaltsamen Reaktionen der dvöpcoTreta 4>(K7tc auf dvdyKat spricht, auf diese Manifestation menschlicher Konflikte. Der Krieg gilt ihm als ein

88) Auffallend ist, daß sich in den anderen Aussagen über die Konstanz derdu8pü)TTeta ^fonc in den Reden diese distanzierte Vorsicht, was die Gültigkeit dieses Satzes für die Zukunft anbelangt, nicht zeigt. Vgl. etwa I 76, 2; V 105, 2.

gewalttätiger Lehrer, der die Möglichkeiten für ein leichtes Leben im Alltag aufhebt und die Leidenschaften der Masse nach der augenblicklichen Lage stimmt (III 82, 2): 6 8£ Tr6Xe^oc i<f>eXu)i> rt\v eimoplav TOU Ka9' fjuipav

ßtaioc Si8doxaXoc Kai Trpöc T d Trap6i>Ta Tdc öpydc Taiv TTOXALOV öu.oidi.

Dementsprechend muß auch in dem Anfangssatz von III 82, 2: Kai ^TT^rreae TroXXd K a i xo^Trä Karä ordaiv raic Tr6\eaiv... der Ausdruck K a T a uräaiv im kausalen Sinn mit „infolge des Bürgerkrieges" wiedergegeben werden und nicht im zeitlichen Sinne mit „in ständigem Aufruhr"8 5 0. Besonders betont wird die Allgemeingültigkeit der Wesenszüge der menschlichen Natur auch in III 84, 29 0 ): TOH> V6\I(ÜV KpaTf|aaaa f) dvöporrTeta

<{>0aic, eLü>8uta Kai rrapd TOUC v6\xovc dSiKeiv, dcruiif] £8f|Xa)crei> dKpaTf]C

\ikv öpyijc o&aa, Kpetaacav rov Sixatou, TroXeula 8£ TOU TrpotixovToc.

„... nachdem sie über die Gesetze Herr geworden war, zeigte die menschliche Natur, da sie ohnehin gewohnt ist, sich gegen die Gesetze zu vergehen, unbekümmert, daß sie ihrer Leidenschaft nicht Herr ist, aber stärker als das Recht ist und in Feindschaft zu dem Hervorragenden steht."

Als Ausdruck für die Allgemeingültigkeit der Menschennatur findet sich hier das generalisierende Adjektiv duöponreta sowie die in dem Partizip (elcüButa) implizierte Dimension der zeitlich nicht begrenzten Dauer.

A n dieser Stelle ist weiterhin eine wichtige Beobachtung zu machen, die schon in anderem Zusammenhang angedeutet wurde: Der menschlichen Physis ist eine unwiderstehliche Zwangsläufigkeit inhärent. Sie ist stärker als jede menschliche „Setzung" (Kpetacrcüv 8£ TOV StKatou), sie läßt sich durch die Gesetze, die ein geordnetes Zusammenleben der Menschen ermöglichen sollen, nicht in Schranken halten (TCOV v6\mv KpaTf|aaaa)9 1 ).

89) Zu der Version „infolge ..." vgl. auch Classen-Steup, Kommentar, Bd. III, S. 165 mit Bezug auf III 2,3 (ibidem S. 3). Die Übersetzung in zeitlichem Sinne findet sich bei: Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, übersetzt von G.P. Landmann, München

21977, S. 250.

90) Das Kap. III 84 wurde seit dem Altertum (von den Scholiasten) verschiedentlich als nachträglicher Zusatz erklärt, die Echtheit ist auch heute noch umstritten. Gegen die Authentizität dieser Stelle sprechen sich F.M. Wassermann, Thucydides and Disintegra-tion of Polis, TAPA 85, 1954, S. 46 ff. (jetzt unter der dem Titel „Thukydides und die moralische Krise der Polis" in: WdF-Band „Thukydides", S. 400-411, dort S. 409) und M.A.

Barnard, Stasis in Thucydides, Diss. Univ. of North Carolina, Chapel Hill 1980, S. 235 ff.

aus. Selbst wenn sie mit ihrer Ansicht recht haben, muß man zugeben, daß der Verfasser dieses Abschnittes die wesentlichen Punkte der thukydideischen Physisvorstellung genau getroffen hat.

91) Diese und auch die folgende Stelle stehen natürlich in deutlichem Bezug zu der sophistischen Nomos-Physis Antithese, daher nimmt sie auch F. Heinimann, a.a.O., S. 152

Besonders deutlich wird dieser Sachverhalt in III 45, 7 ausgesprochen:

&TTXÜ)C re iiSbvaTov Kai TToXXrjc efnriOetac, öortc oteTat TTJC dvGpcaTTetac

föaeux: öpoxo^unc irpoöuiJtcoc Tt Trpa£at dTTOTpoTn^v Ttva k xe i v y6uujf lax^t f] äAXq> TO> Setvqi.

„Es ist schlechterdings unmöglich und ein Zeichen großer Einfalt, wenn einer glaubt, es gebe, wenn die menschliche Natur entschlossen zu einer Tat schreitet, irgendein Abwehrmittel dagegen, sei es durch die Kraft von Gesetzen oder durch etwas anderes Furchtbares."

Die der menschlichen Physis innewohnende Notwendigkeit definiert sich somit folgendermaßen: Sie zwingt in bestimmten Lagen das handelnde

Die der menschlichen Physis innewohnende Notwendigkeit definiert sich somit folgendermaßen: Sie zwingt in bestimmten Lagen das handelnde