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Anlage als erklärende Studie

Welche Konsequenzen lassen sich aus den Ergebnissen der Literaturrecherche für die weitere Gestaltung des Forschungsvorhabens ziehen? Zunächst gilt es, zu kon-statieren, dass ein ursächlicher Zusammenhang von Arbeitsbedingungen und Neu-roenhancement bei Arbeitnehmern durch die zitierten Studien nicht oder nur unzu-reichend belegt ist. Hypothesen, dass die Einnahme psychotroper Substanzen mit dem Ziel der Leistungssteigerung durch belastende Arbeitsbedingungen induziert ist, sind zwar plausibel, durch die Datenlage jedoch nicht hinreichend belegt. Das von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) initiierte Vorhaben geht dem Zusammenhang von Arbeitsumfeld und Neuroenhancement tiefer auf den Grund, als dies die bislang vorliegenden Studien können. Im Unterschied zu epide-miologischen Prävalenzmessungen sollen in dieser theorietestenden Studie – wenn möglich – multifaktorielle Erklärungen für Neuroenhancement gefunden werden. Da-bei werden sowohl die ArDa-beitsbedingungen als auch Bedingungen der Person und ihres Umfelds berücksichtigt. Ein besonderer Fokus liegt auf der Frage, wie sich psy-chische Arbeitsbelastungen auf die Einnahme von Stimulanzien und Antidepressiva auswirken und welche Auswirkungen wiederum die Einnahme von Neuroenhan-cementpräparaten auf die mentale Gesundheit hat.

In erster Linie gilt es, die Frage zu prüfen, ob bestimmte Arbeitsbelastungsfaktoren ceteris paribus (!!) zu besonderen psychischen Beanspruchungen bzw. Fehlbean-spruchungen führen, die Arbeitnehmer mit (vermeintlich) leistungssteigernden Sub-stanzen zu bewältigen hoffen. Sofern diese Grundthese stimmt, müssten besonders belastende Arbeitsdispositionen unter sonst gleichen Bedingungen der Person und ihres sozialen Umfelds zu einer höheren Einnahme von „leistungssteigernden“ Sub-stanzen führen als wenig belastende Situationen. Vermutlich bestehen jedoch mul-tidimensionale Beziehungen zwischen persönlichen Einstellungen und Verhaltens-weisen zu Stressbewältigung und den unterschiedlichen sozialen Kontexten (z.B.

private Belastungen, Entlastungen durch Netzwerke usw.). Am wahrscheinlichsten ist ein multifaktorielles Zusammenwirken von Arbeitsdispositionen und Dispositionen der Person sowie Umfeldbedingungen als intervenierende Bedingungen.

Kontrolle der Bedingungen durch das Untersuchungsdesign

Bedingt durch die Vielfalt der Arbeitsexpositionen, Arbeitszeiten und Arbeitsverdich-tung streuen die BelasArbeitsverdich-tungsmomente für Arbeitnehmer über die mehr als 24.000 Be-rufe ganz erheblich. Auch die Zugangsmöglichkeiten zu psychotropen Substanzen und das Neuroenhancement der Arbeitnehmer variieren je nach beruflicher Stellung und Arbeitsumfeld vermutlich erheblich. Bei einer theorietestenden Studie empfiehlt es sich jedoch, die Varianz von Faktoren möglichst so zu kontrollieren, dass die Ef-fekte der Arbeit, der Person und ihres sozialen Umfelds mathematisch-statistisch mit ausreichenden Fallzahlen analysiert werden können.

Diese Anforderungen sind am besten mit einem Untersuchungskonzept zu realisie-ren, das sich auf wenige Berufsgruppen beschränkt, diese aber jeweils mit einer hin-reichend großen Repräsentativstichprobe abbildet. Fragen der Prävalenz stehen bei dieser Untersuchung nicht im Vordergrund; die gemessenen Merkmale müssen des-halb nicht zwingend auf die Grundgesamtheit aller Arbeitnehmer „hochgerechnet“

werden können. Die Repräsentativität muss vielmehr im Hinblick auf die ausgewähl-ten Berufsgruppen und auf jene Faktoren bestehen, die mutmaßlich einen Einfluss auf die Einnahme von Neuroenhancementpräparaten haben. Eine Beschränkung der Studie auf wenige Berufsgruppen ermöglicht es, potenzielle Effekte der beruflichen Stellung, der Arbeitszeit und der Arbeitsbelastungen besser kontrollieren zu können.

Die Grundidee des Forschungsdesigns ist, das Einnahmeverhalten von Arbeitneh-mern anhand von vier ausgewählten Berufen zu untersuchen. In Verbindung mit je-weils hohen Fallzahlen ermöglicht das Konzept die Abbildung einer hohen Intragrup-penstreuung bei gleichzeitiger Kontrolle von Intergruppenunterschieden. Die Unter-suchung konzentriert sich auf vier Berufe, die eine hohe Arbeitsbelastung und – beanspruchung erwarten lassen. Falls ein Zusammenhang zwischen Belastungen, Beanspruchungen und Neuroenhancement besteht, ist dieser bei solch stark belaste-ten Berufsvertretern vermutlich am ehesbelaste-ten zu beobachbelaste-ten. Ausgewählt wurden ab-hängig beschäftigte Ärzte, Werbefachleute, Publizisten und Softwareentwickler/-programmierer. Bei allen vier Berufen spielen hohe kognitive Anforderungen an die Problemlösungsfähigkeit, Kreativität, hohe Konzentrationsfähigkeit und/oder physi-sche Dauerbelastungen in Kombination mit langen Arbeitszeiten eine Rolle. Die vier Berufsgruppen gelten als besonders belastet (RKI, 2011). Hohe und dauerhafte kog-nitive und quantitative Anforderungen gelten in den Gesundheits- und Arbeitswissen-schaften als Grundlage eines krankmachenden Stresserlebens. Sie wurden in Stu-dien als Risikofaktoren für zahlreiche Erkrankungen identifiziert (Karasek & Theorell, 1990).

Die Auswahl wurde auf sozialversicherungspflichtig beschäftigte Arbeitnehmer be-grenzt, weil sie im Unterschied zu Selbständigen und Freiberuflern über deutlich ein-geschränktere Möglichkeiten zur Gestaltung der eigenen Arbeitsbedingungen verfü-gen. Beamte wurden ebenfalls ausgeklammert, weil sie in der Auswahlgesamtheit, aus der die Stichprobe gezogen wurde, nicht repräsentiert sind und aufgrund ihres Arbeitsverhältnisses potenziell andere Arbeitsbedingungen haben als abhängig schäftigte. Nicht zuletzt ist die Beschränkung auf sozialversicherungspflichtig Be-schäftigte auch dem Umstand geschuldet, dass sie die Zielgruppe sind, für die die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin im Rahmen ihres Auftrags be-sondere Verantwortung trägt. Um die Repräsentativität sicherzustellen, wurden die Stichproben der vier Berufe aus der Grundgesamtheit der sozialversicherungspflich-tig Beschäfsozialversicherungspflich-tigten der Bundesagentur für Arbeit gezogen (vgl. dazu Abschnitt 2.3).

Der mehrstufige Untersuchungsansatz

Um den Zusammenhang von Neuroenhancement und Arbeitsbelastungen möglichst valide und zuverlässig zu messen und zu erklären, wurde ein dreistufiger Untersu-chungsansatz konzipiert.

Stufe 1: Face-to-Face-Befragung von Arbeitnehmern der ausgewählten Berufe

Im Rahmen eines ca. einstündigen persönlichen Interviews mit Arbeitnehmern aus den oben genannten Berufen wurden der gesundheitliche Status, die leistungsstimu-lierenden Substanz- und Medikamenteneinnahmen sowie die potenziellen Einfluss-faktoren (Arbeitsdispositionen, individuelle und soziale Faktoren etc.) im Rahmen einer Querschnittbefragung erhoben. Ermittelt wurden die Prävalenzen für Life Time, den Zwölfmonatszeitraum sowie die letzten vier Wochen.

Auf dieser ersten Untersuchungsstufe wurden rd. 1.000 Interviews je Beruf realisiert, insgesamt waren es mehr als 4.166 Interviews.

Stufe 2: Tagebucherhebung

Für eine vertiefende Analyse des Neuroenhancementverhaltens wurde aus der Stichprobe der befragten Arbeitnehmer eine Substichprobe von 1.266 Personen ge-zogen. In einem geschichteten Stichprobenansatz waren darin Personen repräsen-tiert, die im Erstinterview die Einnahme von Stimulanzien und Antidepressiva ohne medizinische Indikation zum Leistungserhalt oder zur Leistungssteigerung bzw. zur Verbesserung des Wohlbefindens angegeben hatten. In dieser Schicht befinden sich Nutzer, die in den letzten vier Wochen, in den letzten zwölf Monaten oder früher schon einmal (life time) Mittel zum Neuroenhancement konsumiert haben. Die zweite Schicht besteht aus den Zielpersonen, die angegeben hatten, über Neuroenhance-ment nachgedacht zu haben. Die dritte Schicht bildeten Nichtnutzer, die noch nie solche Substanzen eingenommen und noch nie darüber nachgedacht haben. Durch zeitnahes Protokollieren einmal am Abend sollten aufgetretene Arbeitsbelastungen und die Einnahme von psychotropen Substanzen zeitnah dokumentiert werden.

Insgesamt nahmen 710 Personen an der Tagebucherhebung teil.

Stufe 3: Problemzentrierte Tiefeninterviews

Eine Auswahl von 33 Arbeitnehmern, die in der Face-to-Face-Befragung als Nutzer von Neuroenhancern identifiziert werden konnte, wurde abschließend qualitativ in einem problemzentrierten Tiefeninterview befragt. Die Interviews, durchgeführt von psychologisch geschulten Therapeuten, sollten weiteren Aufschluss über Faktoren, Auslöser und potenzielle Lösungswege geben, die mit standardisierten Befragungen nicht zu erschließen sind. Im Fokus der Gespräche standen Motive und Effekte des Neuroenhancements. Es wurden Vorgeschichte und Funktionalität des Problemver-haltens diagnostiziert.

In dieser letzten Untersuchungsphase konnten 33 Tiefeninterviews realisiert werden.