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Der Codex epistolaris Carolinus

1. Zu den Quellen des achten und neunten Jahrhunderts

1.2 Der Codex epistolaris Carolinus

Neben dem LP ist der sogenannte Codex Carolinus (oder Codex epistolaris Carolinus, um Verwechslungen vorzubeugen, in der Folge CC abgekürzt) die wichtigste und reichhaltigste Quelle päpstlicher Texte für das achte Jahrhundert. Die Briefsamm-lung ist heute nur in einer mittelalterlichen Handschrift erhalten, dem Codex lat.

449 der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien. Daneben gibt es eine Reihe von neuzeitlichen Abschriften, die sogar vom Herausgeber des Textes für die MGH, Wilhelm Gundlach in Betracht gezogen wurden. Doch letztlich gehen auch diese Abschriften nur auf den einen mittelalterlichen Codex zurück.102

Der einzige mittelalterliche Textzeuge des CC stammt aller Wahrscheinlichkeit nach aus Köln, wo die Abschrift in der zweiten Hälfte des neunten Jahrhunderts ange-fertigt wurde. Der Codex trägt einen Besitzvermerk des Kölner Erzbischofs Willibert, was dazu verleitet hat, die Erstellung auch in seinen Pontifikat zu datieren. Tatsächlich ist der Vermerk allerdings nur in die Handschrift eingeklebt, was eine genaue Zuwei-sung erschwert, auch wenn die Hand, die den Vermerk beschriftet hat, der anlegenden Hand des Vorworts des Codex zumindest stark ähnelt, wenn es sich nicht ohnehin

100 Duchesne, LP I, CCXXVI.

101 Siehe dazu vor allem Bernhard Bischoff, Die südostdeutschen Schreibschulen, Bd. 2, Die vorwiegend österreichischen Diözesen (Wiesbaden 1980) 65 und 102. Siehe auch McKitterick, History 212.

102 Achim Thomas Hack, Codex Carolinus. Päpstliche Epistolographie im 8. Jahrhundert, 2 Bde.

(Päpste und Papsttum 35, 1–2, Stuttgart 2006–2007), Bd. 1, 87–90.

um denselben Schreiber handelte. Doch selbst das würde eine ganz sichere Datierung nicht erlauben, da der Schreiber durchaus länger in Köln gewirkt haben könnte.103

Wichtig ist aber jedenfalls, festzuhalten, dass es sich bei der heute vorliegenden Überlieferung nicht um das Original der Sammlung aus dem späten achten Jahrhun-dert, sondern um eine fast hundert Jahre später hergestellte Kopie handelt.

Auf dieser Grundlage wurde der Text des CC also ediert. Die letztgültige Aus-gabe von Gundlach ist, wie erwähnt, in die MGH, EE 3 (Berlin 1892) 469–657, aufgenommen worden. Ihr Zustandekommen ist jedoch als recht problematisch zu bewerten. Denn es blieb Gundlach versagt, die Handschrift im Original zu begut-achten, er hatte nur die Möglichkeit, Michael Tangl, der sein Kontaktmann in Wien war, eine lange Liste mit Fragen zu schicken, die er anhand einer ihm vorliegenden Abschrift der Handschrift, die Georg Heinrich Pertz 1820 angefertigt hatte, im Ver-gleich mit Philipp Jaffés Ausgabe erstellte. Somit musste sich Gundlach bei der Pro-duktion seines Textes relativ stark auch auf die vorangegangene und zur Zeit seiner Bearbeitung erst wenige Jahrzehnte alte Edition Jaffés verlassen.104

Doch der CC bereitet für eine Edition sehr spezifische Probleme : Im frühen 17. Jahrhundert befasste sich der damalige Leiter der Kaiserlichen Hofbibliothek, Se-bastian Tengnagel, eingehend mit dem Codex und wollte ihn für eine Edition durch Jakob Gretser aufbereiten. Da der vorhandene Text in seinen Augen sehr unzulängli-ches Latein enthielt, brachte er eine ganze Reihe von Korrekturen an, oft direkt über dem alten Buchstabenbestand. Das Problem ist, dass es ohne Ansicht des Originals an manchen Stellen tatsächlich fast unmöglich ist, zu entscheiden, wie der ursprüng-lich eingetragene Text lautete.105

Es verwundert angesichts dieser Faktenlage nicht, dass es bereits kurz nach Er-scheinen der Edition massive Kritik daran gab, nicht zuletzt von Paul Fridolin Kehr, der gleich im Jahr nach der Veröffentlichung eine vernichtende Einschätzung der Edition abgab und kaum Fortschritte gegenüber der Vorgängeredition Jaffés zu

er-103 Siehe Codex epistolaris Carolinus, Österreichische Nationalbibliothek Codex 449 (Codices selecti, 3, Graz 1962) fol. av (der eingeklebte Besitzvermerk) und 1R (zum Vergleich die Kapitalis der Pra-efatio). Vgl. Franz Unterkircher, Einleitung, in : Codex epistolaris Carolinus, Österreichische Nati-onalbibliothek Codex 449 (Codices selecti, 3, Graz 1962) I–XXVII, hier XX, zur Entstehungszeit des Codex, der auf die Unsicherheit der Zuweisung zum Pontifikat Williberts (870–889) hinweist.

Paläographisch ist der Codex eher um die Mitte des neunten Jahrhunderts anzusiedeln. Siehe auch ebd., XIXf. zu den Rubriken.

104 Siehe dazu ausführlich Hack, Codex Carolinus, Bd. 1, 44–47. Zur Edition (und auch zur Person) Jaffés vgl. ebd., 39–42.

105 Unterkircher, Einleitung zum Faksimile von CVP 449, XXI. Siehe auch eine Schriftprobe Tengna-gels, ebd., XIV, Abb. 7. Die „Korrekturen“ Tengnagels lassen sich im Faksimile auf fast jeder Seite deutlich erkennen.

kennen vermochte.106 Einige Zeit später war es auch Kehr, der die Datierung und Anordnung, die Gundlach für die etwa 30 im CC enthaltenen Briefe Pauls I. vorge-schlagen hatte, korrigierte.107 Gundlach hatte schon vor der Kritik Kehrs eine lange Stellungnahme im Neuen Archiv verfasst, worin er seine Vorgehensweise erklärte und größtenteils verteidigte sowie auf seine Probleme bei der Produktion des Textes hinwies.108 Letztlich muss man festhalten, dass die aktuelle Edition zwar keineswegs unbenutzbar ist, aber dennoch nicht völlig zuverlässig.

Glücklicherweise gibt es seit 1962 eine Faksimileedition der Wiener Handschrift, herausgegeben von Franz Unterkircher. Das Faksimile ermöglicht es, strittige Stellen in der MGH-Edition zu überprüfen.

Widmen wir uns nun dem CC selbst : Es handelt sich hier um eine Sammlung von Papstbriefen an verschiedene karolingische Empfänger, die ersten richteten sich noch an Karl Martell, der Großteil der Briefe ist aber an die Könige Pippin und Karl den Großen adressiert. Der CC enthält Briefe der Päpste Gregor III. (2 Stücke), Zacharias (1), Stephan II. (8), Paul I. (32), Stephan III. (5) und Hadrian I. (49) sowie nachgestellt zwei Briefe des am römischen Konzil von 769 abgesetzten Konstantin II.

Der Zeithorizont ist dabei 739 bis 790/791.

Die Sammlung wurde im Jahr 791 begonnen, wie aus dem Vorwort hervorgeht, das nun im Volltext zitiert wird, auch weil es später für die Argumentation noch wesentlich ist :

+ REGNANTE IN PERPETUUM DOMINO ET SALVATORE NOSTRO IESU CHRISTO, ANNO INCARNATIONIS EIUSDEM DOMINI NOSTRI DCCXCI. CAROLUS, EXCEL-LENTISSIMUS ET A DEO ELECTUS REX FRANCORUM ET LANGOBARDORUM AC PATRICIOS ROMANORUM, ANNO FELICISSIMO REGNI IPSIUS XXIII., DIVINO NUTU INSPIRATUS, SICUT ANTE OMNES QUI ANTE EUM FUERUNT SAPIENTIA ET PRUDENTIA EMINET, ITA IN HOC OPERE UTILISSIMUM SUI OPERIS INSTRU-XIT INGENIUM, UT UNIVERS AS EPISTOLAS, QUE TEMPORE BONAE MEMORIAE DOMNI CAROLI AVI SUI NEC NON ET GLORIOSI GENITORIS SUI PIPPINI SUISQUE TEMPORIBUS DE SUMMA SEDE APOSTOLICA BEATI PETRI APOSTOLORUM PRIN-CIPIS SEU ETIAM DE IMPERIO AD EOS DIRECTAE ESSE NOSCUNTUR, EO QUOD 106 Paul Fridolin Kehr, Rezension von Wilhelm Gundlach (ed.), Codex Carolinus, in : Göttingische

Gelehrte Anzeigen 155 (1893) 871–898. Siehe zu seiner Kritik und der folgenden Diskussion : Hack, Codex Carolinus, Bd. 1, 47–51.

107 Paul Fridolin Kehr, Über die Chronologie der Briefe Pauls I. im codex Carolinus, in : Nachrich-ten von der Königlichen Gesellschaft der WissenschafNachrich-ten zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, 2 (1896) 103–157.

108 Wilhelm Gundlach, Ueber den Codex Carolinus, in : Neues Archiv, 17 (1892) 525–566.

NIMIA VETUSTATAE ET PER INCURIAM IAM EX PARTE DIRUTA ATQUE DELETA CONSPEXERAT, DENUO ME MORALIBUS MEMBRANIS SUMMO CUM CERTAMINE RENOVARE AC RESCRIBERE DECREVIT – INCIPIENS IGITUR, UT SUPRA DIXIMUS, A PRINCIPATU PRAEFATI PRINCIPIS CAROLI AVI SUI, USQUE PRAESENS TEM-PUS ITA OMNIA EXARANS, UT NULLUM PENITUS TESTIMONIUM SANCTAE EC-CLAESIAE PROFUTURUM SUIS DEESSE SUCCESSORIBUS VIDEATUR, UT SCRIPTUM EST : „SAPIENTIAM OMNIUM ANTIQUORUM EXQUIRET SAPIENS“ ET CETERA.109 Wahrscheinlich wurde die Sammlung in Regensburg in der Zeit des langen Aufent-halts des karolingischen Hofes in der ehemaligen agilolfingischen Hauptstadt zwi-schen August 791 und Herbst 793 fertiggestellt.110

Allerdings enthält der CC keineswegs alle Papstbriefe aus dem Zeitraum, den der CC abdeckt. Das zeigt sich schon in der Reihe von Fällen, die Achim Hack zusam-mengestellt hat. In Hacks Liste finden sich ausschließlich Papstbriefe, deren Exis-tenz sich sicher aus Briefen des CC selbst erschließen lässt, insgesamt sieben Stücke.111 Doch damit nicht genug – es finden sich auch eine Reihe von Lücken in der Überlie-ferung, für die völlig klar sein muss, dass es in dieser Zeit Kommunikation gegeben hat. Das beste Beispiel sind die Briefe Hadrians I., die erst nach dem Fall Pavias im Spätsommer oder Herbst 774 einsetzen. Somit ist kein Brief aus den ersten zweieinhalb Jahren von Hadrians Pontifikat erhalten – obwohl der LP ganz klar belegt, dass Kom-munikation mit den Franken und Karl dem Großen stattgefunden haben muss.112 Man könnte nun annehmen, dass Briefe weggelassen wurden, um bestimmte unangenehme Themen auszuklammern oder Unstimmigkeiten zwischen Papsttum und Karolingern zu verschleiern. Doch im CC sind, wie wir unten in Kapitel 5.6.2 sehen werden, Briefe enthalten, die von Spannungen zwischen dem Papst und den Karolingern berichten.

Das reine Vorhandensein dieser Briefe ist ein starkes Indiz, dass zwar Briefe zur Gänze weggelassen wurden, das aufgenommene Material jedoch nicht verändert wurde. Den-noch ist aber nicht auszuschließen, dass die weggelassenen Stücke absichtlich nicht aufgenommen wurden – hier kommen aber mehrere Möglichkeiten in Frage : Die Briefe könnten inhaltlich zu heikel gewesen sein, um sie in den CC aufzunehmen, genauso wäre es aber denkbar, dass sie von ihrer Form her oder konkreter von ihrer Sprache her nicht den Gefallen des Königs oder eher des Kompilators fanden. Oder sie wurden als inhaltlich mittlerweile überholt betrachtet. Die letzte Möglichkeit ist schließlich,

109 CC, Praefatio, ed. Gundlach 476.

110 Hack, Codex Carolinus, Bd. 1, 80–82.

111 Hack, Codex Carolinus, Bd. 2, 952–956.

112 Vgl. LP I, 486–514 (Vita Hadrians I.).

dass die fehlenden Briefe einfach in Regensburg nicht zur Verfügung standen, weil sie an einem anderen Ort aufbewahrt wurden oder bereits verloren oder zerstört worden waren.113 In Regensburg waren nämlich sicherlich nur jene Briefe vorhanden, die Teil des beweglichen Schatzes des fränkischen Hofes waren.114

Doch zu welchem Zweck wurde der CC überhaupt angelegt ? Florence Close hat kürzlich dazu bemerkt : „Le roi entendait très manifestement immortaliser le souvenir de la relation qui unit sa famille à la papauté, en soulignant le rôle de défenseur de l’Église déjà assumé par ses ancêtres. Le Codex Carolinus (CC) n’est pas le fruit d’as-semblage exhaustif mais le résultat d’une scrupuleuse collecte de documents entreprise à des fins propagandistes.“115 Trotz aller Meriten ihres Aufsatzes : Diese Einschätzung des CC führt wahrscheinlich zu weit. Erinnern wir uns, was im Vorwort der Samm-lung geschrieben wurde : … eo quod nimia vetustate et per incuriam iam ex parte diruta atque deleta conspexerat, denuo … renovare ac rescribere decrevit.116 Als Grund wird vom Schreiber also angegeben, dass die alten Papstbriefe, die mit ziemlicher Sicherheit auf Papyrus geschrieben waren,117 sonst dem Zerfall anheim gefallen wären. Und diese Darstellung ist eigentlich ziemlich glaubwürdig. Dafür spricht etwa auch, dass der Text von CC 15118 nicht mehr rekonstruiert werden konnte und daher nur eine Zusammenfassung eingefügt wurde. Gegen eine Verwendung als Propagandainstru-ment spricht neben dem tatsächlichen Interesse an Konservation der Briefe auch die Tatsache, dass der CC nur in einer einzigen Handschrift überliefert ist (wiewohl es sich bei dieser um eine Kopie handelt). Sehr viele Exemplare können daher nicht in Umlauf gewesen sein. Man vergleiche das nun mit dem Befund tatsächlicher Propa-gandaschriften, etwa des LP oder der Vita Karoli Magni Einhards.119

Somit ist im Zweifel dem Vorwort also eher zu glauben : Die Briefe sollten vor allem erhalten werden, um sie weiter verwenden zu können.120 Der CC ist also vor

113 Dieser Ansicht neigt Hack, Codex Carolinus, Bd. 1, 65, zu.

114 Hack, Codex Carolinus, Bd. 1, 80.

115 Florence Close, De l’alliance Franco-Lombarde à l’allience Franco-Pontificale, in : Francia. For-schungen zur westeuropäischen Geschichte, 37 (2010) 1–24, hier 2. Auch Stefano Gasparri, The Fall of the Lombard Kingdom. Facts, Memory and Propaganda, in : 774 : ipotesi su una transizione ; atti del Seminario di Poggibonsi, 16–18 febbraio 2006, ed. ders (Turnhout 2008) 41–65, hier 43, hat ähnliche Ansätze, er bezeichnet den CC unter Einschränkungen auch als Ausdruck der päpstlichen Propaganda, doch er sieht schlussendlich das Ziel des Erhalts der Texte als zentral an.

116 CC, Praefatio, ed. Gundlach 476.

117 Hack, Codex Carolinus, Bd. 1, 65.

118 CC 15, ed. Gundlach 512, Text in Anm. a zu CC 15.

119 Siehe zum Beispiel Guenée, Histoire et culture 250.

120 So sieht das auch Hack, Codex Carolinus, Bd. 1, 67, der auch darauf hinweist, dass es sich sicher nicht um eine literarische Briefsammlung handelt, wie man sie sonst sehr häufig findet.

allem als Sammlung zum politischen, antiquarischen und vielleicht kanzleimäßigen Gebrauch zu betrachten. So gesehen wäre es auch verständlicher, wieso nur ein Teil der Briefe als wichtig genug für die Sammlung erachtet wurde. Die anderen Stücke wurden einfach aus inhaltlichen oder stilistischen Gründen nicht mehr benötigt.

Abgesehen von dieser wichtigen Information zum Verwendungszusammenhang des CC liefert das Vorwort der Sammlung aber auch eine eher rätselhafte Informa-tion. Es ist nämlich davon die Rede, dass der Codex nicht nur die Briefe der Päpste, sondern auch jene der Kaiser enthalten sollte (de summa sede apostolica beati Petri apos-tolorum principis seu etiam de imperio, siehe Zitat oben). Doch in der aktuellen Fassung ist kein Brief der Kaiser aufgenommen worden. Johannes Haller hat de imperio so in-terpretiert, dass damit die Stadt Rom, die zur Abfassungszeit vieler Briefe ja tatsäch-lich noch zum Kaiserreich gehörte, gemeint sei.121 Dorine van Espelo hat in einem Aufsatz vor Kurzem Hallers Ansatz aufgegriffen und sehr überzeugend argumentiert, dass imperium in der Bedeutung „Herrschaft“ zu lesen ist und sich auf den Nutzen der Schreiben für die karolingische Machtentfaltung bezieht.122 Die Forschung ist heute also insgesamt pessimistischer denn je, ob Briefe des Kaisers je integriert wurden oder überhaupt aufgenommen werden sollten. Da unser einziger Textzeuge aber nur eine spätere Kopie ist, kann diese Frage letztlich nicht endgültig entschieden werden.123