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Charakteristika der Praxislernklassen aus Sicht der Lehrer

Übersicht 3: Kernelemente der Konzepte im Schuljahr 2000/01

3 Beschreibung der Ausgangslage in den Praxislernklassen

3.2 Charakteristika der Praxislernklassen aus Sicht der Lehrer

Sollen die Praxislernklassen in den Schulen auf der Grundlage unserer Daten cha-rakterisiert werden, lassen die dargelegten Ergebnisse die folgenden Schlussfolge-rungen zu: Meist sind die Jungen den Mädchen zahlenmäßig überlegen. Darüber hinaus sind viele Schüler in der Vergangenheit schon einmal an schulischen Leis-tungsanforderungen gescheitert und haben eine Klasse wiederholen müssen, wes-halb der Altersdurchschnitt in den Praxislernklassen höher ist als in den anderen Klassen des Jahrgangs. Die Klassenwiederholung hat in vielen Fällen offenbar aber keine dauerhafte Leistungsverbesserung bewirken können. Vielmehr weisen Praxis-lernschüler, wenn man sie mit den anderen Schülern des Jahrgangs vergleicht, signifikante Leistungsnachteile in den Kernfächern auf, im Falle der Albert-Schweitzer-Schule auch im Fach Arbeitslehre. Besonders stark ausgeprägt sind die Leistungsunterschiede an der Albert-Schweitzer-Schule und an der Gesamtschule Brandenburg Nord. Dabei geht an beiden Schulen die Leistungsproblematik mit anderen Problemen einher: An der Albert-Schweitzer-Schule gibt es verhältnismäßig viele Praxislernschüler, die häufig den Unterricht schwänzen und instabilen Familienverhältnisse ausgesetzt waren oder sind. Letzteres gilt auch für die Praxislernschüler an der Gesamtschule Brandenburg Nord. Zurückkommend auf die Leistungsdefizite der Praxislernschüler ist die Feststellung wichtig, dass diese keine gravierend negativen Auswirkungen auf bestimmte selbstbezogene Stimmungen und Kognitionen zu haben scheinen. Die Selbsteinschätzungen z. B. hinsichtlich der persönlichen Zukunftserwartung, der Anstrengungsbereitschaft oder der Schulfreude sind vergleichbar mit den entsprechenden Selbsteinschätzungen der Schüler in den Parallelklassen. Wie die Lehrer der beteiligten Schulen die Kriterien für die Auswahl der Schüler bewerten und ob und inwieweit sich daran etwas geändert hat, lässt sich den folgenden Zitaten entnehmen.

"Wir mussten es ganz krass ändern. Angefangen haben wir mit den Schlimmsten, den

mal, aus den Klassen rausnehmen und in eine Klasse stecken, sondern wir wirklich die nehmen, denen das Lernen schwer fällt, die wenig Selbstvertrauen haben und dadurch na-türlich zu Schulverweigerern werden, ist ja klar, weil sie nicht akzeptiert werden. Und die El-tern müssen einen Antrag stellen und begründen, warum. Das haben wir damals alles nicht gemacht. Warum möchten Sie, dass ihr Kind in diese Praxislernklasse geht. Ja, wir wollten es wirklich total neu aufbauen. Das haben wir gelernt, würde ich sagen. Das haben wir wirk-lich hundertprozentig gelernt. So, dass auch der Ruf dieser Projektklasse wiederhergestellt wird. Manche sehen immer noch rot, wenn sie hören 9f, die denken dann nur an, ja ..." (Al-bert-Schweitzer, Lehrer)

"Also, es müssen Schüler sein, die wirklich von sich aus auch wollen und wo wir im Vorfeld sicher sind, dass da auch die Bereitschaft da ist, dass die was lernen wollen. Die aber auch wirklich nur schwach sind, Hilfe brauchen, die aber auch diese Hilfe annehmen. Und bei de-nen, die die Hilfe absolut nicht annehmen wollen, da kann man sich auf den Kopf stellen, man kann sich alles Mögliche ausdenken, ja, und, wie gesagt, dann erreicht man in so einer Konstellation dann noch, dass eigentlich die, die dabei sind und Hilfe annehmen würden, sich vielleicht noch mit ablenken und runterziehen lassen." (Brandenburg Nord, Lehrer) Beide Schulen haben demnach bei der Auswahl der Schüler zu Beginn des Modell-versuchs zu stark auf die Entlastung der Regelklassen und zu wenig auf ein hinrei-chendes Entwicklungspotenzial in den Praxislernklassen geachtet. Dabei sehen die Lehrer das Problem nicht in erster Linie in den Leistungsdefiziten, sondern vielmehr in dem damit einhergehenden leistungsverweigernden, mitunter aggressiven und störenden Verhalten der Schüler. Bei der Neuzusammenstellung der Praxislernklas-sen wurden folglich solche Schüler ins Auge gefasst, die ein gewisses Maß an Lern-motivation erkennen lassen und deren Eltern eine Teilnahme am Projekt befürworten und im Rahmen ihrer Möglichkeiten unterstützen. Nach dieser Maßgabe hatten be-reits die anderen drei Schulen die Zielgruppe für den Modellversuch ausgewählt, sie haben damit nach eigenen Aussagen gute Erfahrungen gemacht.

Die Zitate belegen aber auch, dass die Wahrnehmung der Schüler durch die Lehrer nur zum Teil mit dem Bild übereinstimmt, das wir auf der Grundlage der Informatio-nen aus der Schülerbefragung entwickelt haben. Voll und ganz bestätigt werden die Leistungsrückstände der Praxislernschüler gegenüber den Schülern in den Regel-klassen. Allerdings sind die Lehrer im Unterschied zu den Praxislernschülern der Meinung, dass dieser weniger leistungsmotiviert sind als die Vergleichsschüler (siehe Ausprägung der Anstrengungsbereitschaft oder der Schulfreude in Abbildung 3 bzw.

Tabelle 9). Geht man davon aus, dass die Fremdwahrnehmung der Lehrer zutrifft, könnte es sich bei der vergleichsweise positiven Selbstwahrnehmung der Schüler um einen Bezugsgruppeneffekt handeln. Dieses Phänomen ist in der erziehungswissen-schaftlichen und in der psychologischen Forschung häufig untersucht worden (vgl.

Haeberlin, 1991, der den Forschungsstand hierzu dokumentiert hat). Danach erfolgt die Selbsteinschätzung z. B. der eigenen Begabung eher aufgrund von Vergleichen mit dem sozialen Umfeld als mit objektiven Kriterien. Sofern Wahlmöglichkeiten zwi-schen verschiedenen Bezugsgruppen bestehen, werden jene bevorzugt, welche mit den eigenen Überzeugungen und Fähigkeiten möglichst übereinstimmen. Das be-deutet konkret: Praxislernschüler finden in einer Klasse mit insgesamt herabgesetz-ter Lernmotivation Vergleichsmaßstäbe, die eine relativ positive Einschätzung der eigenen Lernmotivation erlauben. Amerikanische Forscher beschreiben dieses Phänomen anschaulich mit "to be a little fish in a big pond or a big fish in a little pond": In dem "kleinen Teich" der Praxislernklasse kann man sich leichter als "großer

Lernmotivation sowie die anderen erhobenen Einstellungen und Orientierungen ei-nen gewissen Schonraum dar. Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf die Frage nach dem pädagogischen Wert der Einrichtung spezieller Klassen für Praxislernschüler.

Wir haben diesen Aspekt sowohl mit den Praxislernschülern selbst als auch mit den Lehrkräften in den Interviews erörtert. Im nächsten Kapitel präsentieren wir die Er-gebnisse.