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«Wir dürfen den Bogen nicht überspannen»

Im Dokument Psychoonkologie 01 (Seite 42-45)

Die immer grössere Spezialisierung erweitert zwar die Behandlungsoptionen – aber führt oft auch dazu, dass der Patient als Ganzes aus dem Blick gerät, sagt Daniel Scheidegger, der Präsident der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW). Die Onkologie spiele in vielerlei Hinsicht eine Vorreiterrolle für andere Bereiche der Medizin.

ben: «Jetzt gibt es die Computertomographie, also brau-chen wir für eine bestimmte Indikation die konventionel-le Röntgenuntersuchung nicht mehr.» Jetzt kriegen Sie als Patient zuerst ein Röntgen und dann noch ein CT. So haben wir bisher nur immer alles angehäuft – und es des-halb verpasst, alte Sachen tatsächlich wegzuräumen.

Und das soll sich nun ändern?

Wir kommen nicht mehr darum herum, uns zu fragen, was wir uns mit unserem solidarisch getragenen Gesund-heitswesen leisten können. Hinzu kommt, dass wir Men-schen sterblich sind und uns unserer Endlichkeit bewusst sein müssen.

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SPEZIALARTIKEL

Sehen Sie irgendwo Anzeichen für ein gestiegenes Bewusstsein?

Im Moment profitieren einfach noch zu viele Personen vom aktuellen System, deshalb sind auch die Widerstände gegen eine Veränderung noch ziemlich gross. Aber wenn jeder – auch noch so sanfte – Eingriff ins System abge-lehnt wird, verbleiben am Schluss nur noch die radikalen Optionen. Wir dürfen den Bogen nicht überspannen. Wir müssen als Gesellschaft realisieren, dass wir das System ausbeuten, und dass es so nicht weitergeht. Wir sollten gemeinsam um einen Tisch sitzen und entscheiden, wo wir Abstriche in Kauf nehmen.

Das ist schwierig, weil die Sichtweise vom Gesund-heitszustand abhängt. Geht es mir gut, bin ich ge-willt, medizinische Massnahmen zu begrenzen, aber wenn es mir schlecht geht, werde ich darauf beste-hen, dass man mich behandelt.

Als Intensivmediziner habe ich – leider – immer wieder erfahren, wie mir Angehörige gesagt haben: «Was Sie jetzt mit meinem Mann oder mit meinem Bruder ma-chen, das hat er nie so gewollt.» Man muss also von Fall zu Fall sorgfältig entscheiden, was Sinn macht. Der Ent-scheid, ob es sich lohnt, noch eine Spritze zu setzen, die eine halbe Million Franken kostet, fällt unterschiedlich aus, je nachdem, ob sie für mich oder für eines meiner Enkelkinder bestimmt ist, die ja ihr Leben noch vor sich haben. Ich beobachte, dass in der Schweiz allmählich ein solches Umdenken stattfindet. Das zeigt sich auch an den stark steigenden Mitgliederzahlen von Vereinen wie Exit.

Eine vernünftige Medizin soll die Leute gehen lassen, wenn sie nicht mehr leben wollen. Dafür können es wir uns als Gesellschaft auch wieder leisten, bei den wenigen Personen, die das auch wirklich verlangen, alles zu versu-chen, um sie am Leben zu erhalten – auch wenn das mit sehr grossen Leiden verbunden sein kann, wie ich immer wieder sehen musste.

Wie kommt es überhaupt dazu, dass die Medizin über das Ziel hinausschiesst und nicht merkt, wo sie aufhören sollte?

Der Fortschritt in den Behandlungsmethoden führt dazu, dass wir immer seltener in der Situation sind, dass wir sagen müssen: «Wir haben alles versucht, mehr können wir nicht tun». Umso wichtiger ist es, dass sich jeder Einzelne überlegt, wo für ihn die Grenze liegt. Und dass diese Überlegungen in einer Patientenverfügung schrift-lich festgehalten werden, damit die Angehörigen und die Ärzte darauf zurückgreifen können, wenn sie schwierige Entscheide fällen müssen.

Vielleicht ist es oft auch einfacher, etwas zu versu-chen, als die Untätigkeit auszuhalten?

Ja, das höre ich immer wieder von Kolleginnen und Kol-legen, dass sie viel mehr Zeit brauchen, jemandem zu

er-klären, wieso eine bestimmte Massnahme in seinem Fall nicht angezeigt ist, als wenn sie die Massnahme einfach durchführen.

Sie haben in einem Interview mit dem «Tages-An-zeiger» gesagt, dass Ihnen die überbehandelten Patientinnen und Patienten vor allem gegen den Schluss Ihrer Karriere zu schaffen machten. Hat sich das Problem mit der Zeit verschärft – oder haben Sie weniger genau hingeschaut, als Sie noch jünger waren?

Ja, ich glaube, ich war lange Zeit zu wenig aufmerksam und habe das Thema auch verdrängt. Ausserdem wollte ich vor allem zu Beginn meiner Karriere laufend hinzu-lernen. Da hörte ich an einem Kongress von einer neuen Technik etwa zum Verlegen eines Katheters und wollte sie unbedingt auch ausprobieren. Auch als Spital will man bei den neuen Entwicklungen dabei sein und dazugehören – und dadurch verhindern, dass man in die zweite Liga absteigt. Ich werfe mir vor, mich damals zu wenig gegen solche Entwicklungen gewehrt zu haben. Dafür weiss ich jetzt genau, wovon ich spreche, wenn ich das Übermass an medizinischen Leistungen kritisiere: Gewisse Erfah-rungen haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt.

Immer mehr Spitäler verselbstständigen sich. Wie wirkt sich das auf die Ausweitung medizinischer Leistungen aus?

Früher waren die Spitäler im Besitz der öffentlichen Hand, und das Budget hiess noch «Defizit». Drohte das Defizit auszuufern, wurden etwa auf der Notfallstation oder auf der Anästhesie einige Stellen gestrichen, dadurch dreh-te sich das ganze Räderwerk des Spitals etwas langsamer.

Heute hat der Kanton keine Möglichkeit mehr, das Ge-schehen im Spital zu steuern, er muss einfach die im Vo-raus vereinbarte Geldmenge überweisen. In einigen Kan-tonen droht das Gesundheitsbudget Auslagen für andere Zwecke wie die Schulen oder Museen zu kannibalisieren.

Aber im Verwaltungsrat der Spitäler sitzen keine Poli-tiker mehr. Und der Spitaldirektor kriegt seinen Bonus, wenn das Spital mehr Gewinn macht.

Das ist die Logik des Markts.

Ja, nur: Bei der Gesundheitsversorgung führt diese Logik nicht zum Ziel. Es kann nicht nur um Gewinn gehen, es braucht eine solide Grundversorgung. Meiner Meinung nach sollten viele Spitäler stolz darauf sein, dass sie die Medizin des Häufigen in hoher Qualität anbieten, was in der Schweiz ja glücklicherweise der Fall ist. Aber dass die Spitäler auch alle Spezialfälle abdecken wollen, macht ein-fach keinen Sinn. Dass etwa ein Kind mit einer seltenen Leukämie nicht an ein spezialisiertes Zentrum mit einer grossen Expertise für die spezifische Erkrankung weiter-geleitet wird, sondern aus Prestigegründen im Regional-spital behandelt werden soll, ist schlicht absurd.

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Viele Krebsarten zerfallen in immer kleinere Unter-einheiten. Ist die Onkologie eine Art Vorreiterin für eine generelle Entwicklung in der Medizin, die im-mer spezifischer und personalisierter wird?

Ja. In dieser Entwicklung sehe ich Vorteile, etwa wenn das vertiefte Wissen in einen grösseren therapeutischen Nutzen mündet. Aber ich sehe auch die Gefahr, dass der Patient nicht mehr in seiner Ganzheit wahrgenom-men wird. Wenn der Spezialist für Karzinome im linken Oberlappen der Lunge ein Fall von einer Kollegin zuge-wiesen erhält, macht er zwar einen ausgefeilten Therapie-plan, aber bedenkt dabei vielleicht nicht, dass der Patient niereninsuffizient ist und schon eine leichte Demenz hat.

Wenn der Überblick, den normalerweise ein Hausarzt hat, verloren geht, schlittert der Patient in eine aufwän-dige Behandlung – und es entstehen Situationen, wie ich sie gegen Ende meiner Laufbahn im Operationsraum oft erleben musste.

Welche Situationen?

Wir fragten uns, was wir eigentlich machten. Der Inter-nist wollte sich nicht dem Vorwurf aussetzen, dem Chi-rurgen Patienten vorzuenthalten. Also hat er ihm den Patienten gezeigt. Der Chirurg hat erklärt, dass er den Patienten operieren könne, aber gedacht, dass der Anäs-thesist sowieso die Übung abblasen würde, weil man den Patienten gar nicht mehr narkotisieren könne. Anstatt zusammen zu diskutieren, ob das ganze Vorgehen Sinn macht, hat jeder von uns seinen Teil zur Behandlung

bei-gesteuert. Die zunehmende Spezialisierung ist ein Pro-blem, insbesondere für polymorbide Patienten, von denen es ja aufgrund der alternden Bevölkerung in der Schweiz immer mehr gibt.

Was schlagen Sie als Lösung des Problems vor?

Andere Bereiche der Medizin sollten sich an der Onkolo-gie orientieren, die mit der Einführung von Tumor-Boards auch hier eine Vorreiterrolle eingenommen hat. Denn dank diesen Tumor-Boards entscheidet niemand mehr allein, sondern es wird im Team entschieden, was unter-nommen wird. Meiner Meinung nach sollte es auch für andere Indikationen solche Boards geben, so dass etwa bei Rückenproblemen Neurologen, Rheumatologen, Chirur-gen und Orthopäden zusammenkommen und gemeinsam den Fall besprechen – idealerweise auch mit der Pflege, die den Patienten und seine Vorlieben normalerweise viel besser kennt als wir Ärzte.

Korrespondenz:

Dr. Ori Schipper, Kommunikationsbeauftragter Krebsliga Schweiz

Effingerstrasse 40, CH-3001 Bern ori.schipper@krebsliga.ch

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La formation de professionnels spécialistes en oncologie, ainsi que la garantie des moyens techniques de base pour réaliser ces tâches, voilà les objectifs centraux d’un nouveau projet de solidarité pro-fessionnelle au Kirghizistan, avec l’appui de l’ambassade suisse à Bichkek, la Ligue suisse contre le cancer et l’Ecole européenne d’on-cologie (ESO). Née après un voyage du professeur Franco Cavalli en 2015 dans cette région d’Asie centrale, cette nouvelle forme de collaboration internationale «très concrète, résultant des besoins alarmants des femmes», a déjà mobilisé un groupe de profession-nels suisses et italiens, explique la professeure Olivia Pagani, l’une des responsables de ce projet. Médecin oncologue bénéficiant d’une longue expérience, directrice du Centre de sénologie de la Suisse italienne et responsable de l’unité spécialisée en tumeurs du sein à l’Institut oncologique de Bellinzona, cette professionnelle helvétique ne cache pas, dans cet entretien avec le Bulletin suisse du cancer, les défis complexes à venir. Et de souligner en outre la satisfaction de «donner et recevoir. Visiter ce pays, y comprendre la réalité oncologique – en retard de plusieurs décennies par rapport à la Suisse – échanger aussi avec les collègues et les autorités, nous ébranle et nous conduit à être plus modestes».

Q: Quels sont les axes fondamentaux de ce projet d’appui oncologique au Kirghizistan?

Olivia Pagani (OP): La formation directe et pratique constitue un élément essentiel. Ceux qui travaillent depuis des années à l’Ecole européenne d’oncologie sont conscients qu’il ne suffit pas de transmettre une formation théorique.

Parce qu’il est très difficile, sinon impossible, aux profes-sionnels de la santé, dans des pays comme le Kirghizistan, de mettre en pratique ce que nous enseignons ici. D’une part, à cause de la carence de moyens techniques, de sup-ports permettant d’appliquer ces connaissances. D’autre part, parce que les structures et les hôpitaux oncologiques, bien que recevant des donations – et même s’ils recevaient les instruments – ne seraient pas capables de les utiliser.

D’où la nécessité d’une formation pratique, à partir des besoins et des possibilités réelles. Cela nous plaît beau-coup, parce que nous commençons l’appui à partir de la base et en priorisant le diagnostic pathologique.

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