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Teil I Theoretische und empirische Bezüge

5. Ausgewählte sensibilisierende Konzepte und Theorien

5.3 Beziehung: Begrifflichkeit und Bedeutsamkeit

5.3.2 Die Besonderheit der Pflegebeziehung im Alter und in der Demenz

professioneller Pflege benennt Travelbee – wie schon erwähnt – den „Therapeutischen Einsatz der eigenen Person“, sie versteht den Begriff therapeutisch im Sinne von „heilend“

(Travelbee 1997, 109). Die eigene Person in therapeutischer Absicht einzubringen bedeutet, dass die Pflegeperson ihre Persönlichkeit und ihr Wissen bewusst einsetzt:

„Unter dem ‚therapeutischen Einsatz der eigenen Person‘ ist also die Fähigkeit zu verstehen, die eigene Person bewusst einzusetzen, um eine Beziehung aufzubauen und pflegerische Interventionen zu strukturieren. Das erfordert Einsicht in das eigene Selbst, Kenntnis der eigenen Person, Kenntnis der Dynamik des menschlichen Verhaltens, Fähigkeit zur Deutung des eigenen wie des Verhaltens anderer sowie zum wirksamen Eingreifen in Pflegesituationen“ (Travelbee 1997, 109, Hervorhebung K.W.).

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Beziehung im Lichte der hier fokussierten Pflegetheorien als persönliche zwischenmenschliche Beziehung charakterisiert wird. Hierbei ist die Haltung der Pflegeperson gegenüber dem zu pflegenden Menschen bedeutsam, gleichwohl wirkt auch der zu pflegende Mensch auf die Beziehung ein. Beziehung ist also etwas, das durch beide – Pflegeperson und zu pflegender Mensch – geformt wird, wobei die Pflegeperson die Verantwortung für die Beziehung trägt. Das Kennenlernen des anderen und die Entwicklung von Vertrautheit spielen eine Rolle. Als weiteres Merkmal wird die therapeutische Wirkung der Beziehung herausgestellt, die aus pflegerischer Sicht den bewussten Einsatz der eigenen Person impliziert. Diese bezeichnet ähnlich Benner (1994, 65) mit Rückbezug auf empirische Befunde ihrer Studie als „die heilende Beziehung in der Pflege“. Demnach impliziert heilende Beziehung Verbundenheit, Vertrauen und die Überzeugung der Pflegeperson, „etwas für den Patienten zum besseren gewendet zu haben“

(Benner 1994, 65).

person-zentrierten Pflegeansatzes. Im Anschluss daran stelle ich zentrale Befunde einer qualitativen Studie vor, in der die Niederländerin Corry Bosch das Phänomen Vertrautheit untersucht und feststellt, dass Vertrautheitserfahrungen in Beziehungen existentiell für Menschen mit Demenz sind. Abschließend widme ich mich einem Beitrag von Florian Bödecker, er geht der Frage nach, wie Menschen mit Demenz und ihre Partner verbleibende Fähigkeiten nutzen können, um ihre Beziehung zu erhalten.

Verlusterlebnisse und gegenseitige Abhängigkeit

Teising (2004) reflektiert die Pflegebeziehung mit Rückgriff auf andere Wissenschaftsgebiete, d. h. Konzepte der Psychoanalyse, der Säuglingsforschung und der Bindungstheorie. Ziel ist, emotionale Aspekte der Pflegebeziehung zu ergründen. Seine Arbeit ist für die vorliegende Studie relevant, weil er sich mit der Pflegebeziehung im Alter beschäftigt. Kennzeichen einer Pflegebeziehung im Alter sind gedanklich antizipierte meist an den Körper gebundene Verlusterlebnisse, die mit Kränkungen verschiedenster Art einhergehen, hierzu zählt beispielsweise der Verlust geistiger Fähigkeiten (Teising 2004, 315 f.). Die Angst vor Abhängigkeit, vor Pflegebedürftigkeit wird elementar, „so als hätte man diese Konstellation aus der frühen Kindheit in schrecklicher Erinnerung.

Pflegeabhängig zu sein bedeutet auf die konkrete Anwesenheit eines anderen, der über die An- und Abwesenheit selbst bestimmen kann, angewiesen zu sein“ (Teising 2004, 315). In der letzten Phase ihres Lebens sind Menschen unabwendbar mit „Abhängigkeit als Grundbedingung menschlicher Existenz“ konfrontiert. Dies steht, so Teising, dem in der Pflege propagierten Streben nach „größtmöglicher Selbstpflegefähigkeit und Autonomie“

des zu pflegenden Menschen gegenüber (Teising 2004, 316). Die Abhängigkeit in der Pflegebeziehung ist Teising zufolge oftmals wechselseitiger Natur.

„Psychodynamisch bedeutsam ist das Bedürfnis Pflegender nach Anerkennung der eigenen Hilfsbereitschaft, und damit nach Stärkung des eigenen Selbstwertgefühls, der Wunsch, vor sich selbst wie im Spiegel anderer sich als guter Mensch zu erweisen und als solcher gewürdigt zu werden, Gutes zu tun und damit den Zweifel an der eignen Person zu besänftigen. Wenn man so will, wird die eigene Pflegebedürftigkeit altruistisch befriedigt“ (Teising 2004, 317).

Teising stellt fest, dass diese gegenseitige Abhängigkeit und damit das „Angewiesensein“

der Pflegenden auf den zu pflegenden Menschen oftmals bestritten und nicht hinreichend reflektiert wird. Dies trägt dazu bei, dass Pflegende Macht ausüben, in welcher sie unbewusst die Abhängigkeit des zu pflegenden Menschen demonstrieren. Damit verstärken sie genau das, wovor sich Menschen im Alter besonders fürchten: die Abhängigkeit.

Pflegebeziehungen im Alter sind, so Teising (2004, 317), insbesondere durch „gegenseitige Beherrschungsversuche“ emotional aufgeladen, dies erfordert, dass beide – Pflegeperson als auch zu pflegender Mensch – „Gefühlsarbeit“ erbringen müssen. Teisings Schlussfolgerung ist, dass Pflegende psychodynamisches Hintergrundwissen erwerben sollten, um die Psychodynamik unbewusster Vorgänge und somit letztlich auch ihr eigenes pflegeberufliches Handeln besser verstehen zu können (Teising 2004, 317).

Beziehungs-zentrierte Pflege als Weiterentwicklung person-zentrierter Pflege

Dass Beziehungen für Menschen mit Demenz eine besondere Bedeutsamkeit haben und sich auf deren Wohlbefinden und Lebensqualität auswirken, steht außer Frage. Vor dem Hintergrund dieser zentralen Bedeutung argumentieren Davies und Nolan (2010, 449), dass die Pflege von Menschen mit Demenz nicht ausschließlich person-zentriert („person-centred care“) sein kann, es sei denn, sie ist auch beziehungs-zentriert („relationship-centred care“).

Sie konstatieren einen fehlenden differenzierten Blick auf die Beziehung und erweitern die person-zentrierte um die beziehungs-zentrierte Pflege (Davies & Nolan 2010, 438).

Gemeinsame Merkmale person-zentrierter und beziehungs-zentrierter Pflege umfassen die Berücksichtigung aller Aspekte der Person (biologisch und psychosozial), die Bewahrung und Respektierung ihrer Individualität, das Erleichtern von Auswahl- und Entscheidungsprozessen sowie die Bedeutsamkeit von Beteiligung und Beziehung (Davies

& Nolan 2010, 449). Diese Gemeinsamkeiten haben laut Davies und Nolan (2010, 449) zu Debatten darüber geführt, ob person-zentrierte Pflege und beziehungs-zentrierte Pflege ein und dasselbe sind oder ob das eine das andere einschließt. Die Autorin und der Autor beziehen sich in ihrem Beitrag auf Clark (2002), die argumentiert, dass sinnvolle Pflege und Dienstleistung individuelle Bedürfnisse älterer Menschen in eine reiche Matrix von Beziehungen und sozio-kulturellen Überzeugungen („beliefs“) situieren sollte (Davies &

Nolan 2010, 449). Ferner rekurrieren Davies und Nolan auf McCormack (2001), die darauf hinweist, dass der individualistische Blick der Autonomie im späteren Leben durch Verbundenheit und Gemeinschaft („Interconnectedness and partnership“) ersetzt wird. In ihrem Beitrag schlussfolgern Davies und Nolan (2010, 449), dass diese Perspektiven das Potenzial der person-zentrierten Pflege anerkennen, gleichzeitig wird gefordert, die Aufmerksamkeit stärker auf wechselseitige Abhängigkeiten und Verflechtungen („interdependencies“) zu legen, die das Leben von Menschen prägen. Ausgehend von diesem Gedankengang nimmt der Ansatz der beziehungs-zentrierten Pflege nicht nur die Bedürfnisse und Erfahrungen von Menschen mit Demenz in den Blick, sondern auch die der Familien sowie die der professionell und ehrenamtlich Pflegenden (Nolan et al. 2004, 49).

Davies und Nolan umreißen die Notwendigkeit des beziehungs-zentrierten Ansatzes, sie beziehen sich auf Studien, die die Bedeutsamkeit der Wechselbeziehung („inter-relationship“) zwischen den Menschen mit Demenz, ihren Familien und Pflegenden hervorheben, hierbei wird besonderer Wert auf das Teilen von Perspektiven und die Vereinbarung gemeinsamer Pflegeziele gelegt. Es besteht Einigkeit, dass relationale Dynamiken essentiell für gute Pflegepartnerschaften sind, gute Beziehungen zeichnen sich dadurch aus, dass alle Beteiligten zusammenarbeiten, ihre Meinungen ausdrücken können und die Perspektive des jeweils anderen schätzen. Davies und Nolan (2010, 443) zitieren Weaks et al. (2005), die argumentieren, dass es wichtig ist zu verstehen, dass Demenz sich auf alle Beziehungen auswirkt. Ein praxisbasierter Hilferahmen, der Beziehungen entsprechend unterstützt, ist grundlegend für den Aufbau positiver Modelle der Pflege und Versorgung. Eine beziehungs-zentrierte Pflege zeichnet sich durch Symmetrie („symmetry“) und Synchronizität („synchronicity“) aus, sie basiert auf folgenden Prämissen:

Alle Beteiligten tragen etwas bei, jeder Beitrag wird geschätzt und anerkannt. Damit Pflege gelingen kann, ist es zentral, dass in der Pflegebeziehung die Perspektive eines jeden respektiert wird (Davies & Nolan 2010, 443 mit Bezug auf Nolan et al. 2003).

Der Begriff „relationship-centred care“ (RCC) wurde in den frühen 1990er Jahren in den USA von der Pew Fetzer Task Force on Health Professions Education geprägt (Davies &

Nolan 2010, 444). Die Task Force forderte, dass der Begriff beziehungs-zentrierte Pflege allen Interaktionen im Gesundheitswesen zugrunde liegen sollte. Davies und Nolan zitieren aus einem Report der Task Force, in dem es heißt: Beziehungen sind bedeutsam für alle Praktiker, die im Gesundheitswesen arbeiten, verbunden mit dem Gefühl der Zufriedenheit und entscheidend dafür, positive Ergebnisse für Patienten und Praktiker zu erlangen. Obwohl Beziehungen die Voraussetzung für effektive Pflege und Ausbildung sind, gibt es nur wenig formale Anerkennung und Bemühungen, Studenten und Praktikern dabei zu helfen, Beziehungen im Gesundheitswesen zu entwickeln (Davies & Nolan 2010, 444 mit Bezug auf Tresoni and the Pew Fetzer Task Force 1999, 1).

Davies und Nolan (2010, 444 mit Bezug auf Nolan et al. 1996) stellten fest, dass professionell Pflegende Hilfe dabei benötigten, die Beziehung zu älteren Menschen und ihren Familien zu gestalten, sie übertrugen das Konzept der beziehungs-zentrierten Pflege auf die Arbeit mit älteren Menschen. Vor diesem Hintergrund entwickelten sie einen „Senses Framework“, welcher die Grundsätze der beziehungs-zentrierten Pflege umreißt. Die Ursprünge des „Senses Framework“ gehen auf Untersuchungen zurück, welche die Beziehungen zwischen den Familien, professionell Pflegenden und allen Individuen, die

Hilfe benötigen, fokussieren, einschließlich derer, die von Demenz betroffen sind (Davies

& Nolan 2010, 444 mit Bezug auf Nolan et al. 1996). Der „Senses Framework“ erfasst die subjektiven Dimensionen der Pflegebeziehung und reflektiert sowohl die zwischenmenschlichen Prozesse als auch die intrapersonalen Erfahrungen von Geben und Nehmen in der Pflege. Er basiert auf der Überzeugung, dass alle in die Pflege involvierten Akteure eine Beziehung erfahren sollten, die durch Sicherheit, Zugehörigkeit, Kontinuität, Intentionalität, Erreichen bedeutsamer Ziele und Bedeutung charakterisiert ist (Nolan et al.

2004, 49). Zentral ist, dass alle beteiligten Akteure diese Beziehungserfahrungen benötigen, um eine gute Pflege erreichen zu können. In nachfolgenden Arbeiten wurden diese Elemente des „Senses Framework“ durch Literaturrecherchen und empirische Studien überprüft und weiterentwickelt (Nolan et al. 2004, 50 mit Bezug auf Davies et al. 1999 und Nolan 2001) sowie folgende „Six Senses in the Context of Caring Relationship“ formuliert (Nolan et al.

2004, 50 mit Bezug auf Nolan 2001, 175)63:

(1) Ein Gefühl von Sicherheit („a sense of security“): ein Sicherheitsgefühl haben und kompetente, sensible Pflege erhalten bzw. diese geben

- Ältere Menschen: sich physisch, psychisch, existenziell sicher fühlen und in diesen Belangen Aufmerksamkeit erfahren, frei von Schaden, Schmerzen, Unbehagen sein, kompetente und sensitive Pflege erhalten.

- Pflegende: Sichere Arbeitsbedingungen erfahren, sich frei fühlen von physischer Bedrohung, Zurechtweisung oder Tadel. In einer unterstützenden, aber anspruchsvollen Kultur arbeiten, emotionale Anforderungen der Arbeit werden erkannt.

(2) Gefühl von Kontinuität („a sense of continuity“): Verbindungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herstellen können

- Ältere Menschen/Menschen mit Demenz: Anerkennung und Wertschätzung der persönlichen Biographie erfahren. Wissen aus der Vergangenheit schöpferisch nutzen können und Unterstützung bei der Verbindung von Gegenwart und Zukunft erhalten.

Verlässliche, konsequente Pflege innerhalb etablierter Beziehungen durch bekannte Menschen erfahren.

- Pflegende: Positive Erfahrungen (Vorbilder, entsprechende Umgebung) in der Arbeit mit älteren Menschen bereits in der Ausbildung erfahren. Erwartungen und Standards der Pflege klar und übereinstimmend kommunizieren.

63 Die Ausführungen zu den Family carers habe ich hier ausgelassen.

(3) Gefühl von Zugehörigkeit („a sense of belonging“): die Möglichkeit erhalten, sinnvolle Beziehungen zu gestalten oder sich als Teil eines Teams zu fühlen

- Ältere Menschen/Menschen mit Demenz: die Möglichkeit erhalten, sinnvolle Beziehungen pflegen oder bilden zu können, sich als Teil einer geschätzten Gemeinschaft oder Gruppe fühlen.

- Pflegende: Sich als Teil eines Teams fühlen, in dem Beiträge anerkannt und geschätzt werden, einer Peer-Group angehören, einer Gemeinschaft von Praktikern der Altenpflege.

(4) Gefühl von Intentionalität („a sense of purpose“): die Möglichkeiten erhalten, sich an zielgerichteten, absichtsvollen Aktivitäten zu beteiligen oder klare Ziele zu verfolgen - Ältere Menschen/Menschen mit Demenz: die Möglichkeit erhalten, sinnvolle Aktivitäten

auszuüben, die den konstruktiven Zeitablauf erleichtern. Ziele und Herausforderungen erkennen und verfolgen und nach eigenem Ermessen auswählen können.

- Pflegende: einen Sinn bzw. eine klare Vorstellung hinsichtlich der therapeutischen Ausrichtung haben, eine Anzahl eindeutiger Ziele, nach denen man strebt.

(5) Gefühl, etwas Wertvolles zu erreichen („a sense of achievement“): das Erreichen von wertvollen, bedeutsamen Zielen, um sich selbst und/oder andere zufriedenzustellen

- Ältere Menschen/Menschen mit Demenz: die Möglichkeit erhalten, bedeutungsvolle und geschätzte Ziele zu erreichen, mit den eigenen Bemühungen zufrieden sein, einen anerkannten und geschätzten Beitrag leisten.

- Pflegende: In der Lage sein, gute Pflege zur Verfügung zu stellen. Mit den eigenen Bemühungen zufrieden sein, zu therapeutischen Zielen beitragen, die eigenen Kompetenzen und Fähigkeiten umfänglich nutzen.

(6) Gefühl von Bedeutsamkeit („a sense of significance“): fühlen, dass man selbst und die eigene Sache bedeutsam ist, man als Person geschätzt wird, Wert und Status erhalten - Ältere Menschen/Menschen mit Demenz: Sich als Person von Wert anerkannt und

geschätzt fühlen, erfahren, dass die eigene Handlung und Existenz wichtig sind.

- Pflegende: Fühlen, dass die gerontologische Praxis gewürdigt und geschätzt wird, dass die Arbeit und Bemühungen Bedeutung haben.

Bedeutung von Vertrautheit

Die Bedeutsamkeit von Vertrautheit wird durch die qualitative Studie der niederländischen Pflegewissenschaftlerin Corry Bosch offenbar. Bosch (1998) untersucht das Phänomen Vertrautheit in ihrer Grounded Theory Studie zur Lebenswelt von Menschen mit Demenz, die Daten erhebt sie mittels teilnehmender Beobachtung in fünf gerontopsychiatrischen

Pflegeeinrichtungen.64 Bosch zeigt auf, dass Vertrautheit (Kernkategorie) ein zentrales Element im Erleben von Wirklichkeit bei Menschen mit Demenz ist. Demnach haben diese ein Bedürfnis nach Vertrautheit und streben danach (Kategorie „sich nach Vertrautheit und Vertrautheitserfahrungen sehnen“). Mit der Demenz nimmt das Erinnerungsvermögen ab und die Kontinuität der Erfahrung schwindet. Dies und der Verlust von Vertrautheit spitzen sich mit dem Einzug in eine Pflegeinrichtung zu: Menschen mit Demenz verlassen ihre eigene Häuslichkeit und damit Dinge, die ihnen Vertrautheit boten (Bosch 1998, 119).

Vertrautheitserfahrungen sind individuell und wichtig, um sich in der Welt orientieren zu können und sich mit dieser verbunden zu fühlen. Menschen sind in der Lage, sich neuen Situationen anzupassen und ein neues Vertrautheitsgefühl zu entwickeln. Dies ist Menschen mit Demenz nicht mehr in dieser Weise möglich, weil das Erinnerungsvermögen nachlässt und mit ihm auch die Fähigkeit, nachzudenken sowie „Situationen wiederzuerkennen, überschauen, interpretieren und mit ihnen umzugehen“ (Bosch 1998, 114). Dies hat zur Folge, dass Menschen mit Demenz das Vertrautheitsgefühl entgleitet. Gleichwohl bleibt das Bedürfnis nach Vertrautheit bestehen und tritt insbesondere hervor, wenn eine Situation als unvertraut erlebt wird: „Sie sehnen sich nach dem Alten, Vertrauten, sind jedoch immer weniger dazu in der Lage, dieses Vertraute tatsächlich zu gestalten“ (Bosch 1998, 114). Das Sehnen nach Vertrautheit kann sich sogar wandeln in ein „sich nach dem Ende des Lebens sehnen“, nämlich dann, wenn im Hier und Jetzt kein Vertrautheitsgefühl mehr aufgebaut werden kann: „Diese Sehnsucht entsteht aus dem Empfinden heraus, etwas zu vermissen, das vertraut war, keine Perspektive mehr zu haben sowie aus dem Gefühl heraus: ‚Es reicht jetzt‘“ (Bosch 1998, 122). Was Vertrautheit ausmacht, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich und höchst individuell, es wird vor allem durch Erfahrungen des frühen Erwachsenseins geprägt, wobei „immer ein oder zwei Interessensgebiete im Mittelunkt stehen“ (Bosch 1998, 122). Hier distanziert sich Bosch von Verdult (1993), dieser

„betrachtet das ‚Dementwerden‘ als Umkehrung des Lebenslaufes. Die Dementierenden kehren in ihre Kinderzeit zurück“ (Bosch 1998, 122). Die Individualität der Suche nach Vertrautheit spiegelt sich in den Verhaltensweisen der Menschen mit Demenz wider,

64 Bosch wählte die Bezeichnung „dementierende alte Menschen“, um deutlich zu machen, dass es sich bei der Demenz um einen Prozess und nicht um einen statischen Zustand handelt. Ihre Bezeichnung gilt es vor dem Hintergrund der Entstehungszeit ihrer Studie (1993) zu sehen, in dieser Zeit wurden Menschen mit Demenz (auch in der Fachliteratur) in der Regel als Demente oder demente Menschen oder ähnlich bezeichnet.

Aus heutiger Sicht werden diese Bezeichnungen und auch die Bezeichnung „dementierende Menschen“

kritisch gesehen, weil sie Menschen mit Demenz stigmatisieren und nicht die Person, sondern die Demenz in den Vordergrund der Betrachtung gerückt wird. In der Schrift „Ich bin immer noch derselbe Mensch. Aufruf zu einer neuen Art der Kommunikation über Demenz“ bemerken die Autoren, dass eine differenzierte Kommunikation damit beginnt, „dass man sich bewusst wird, wie man mit Sprache umgeht (De Rynck et al.

2011, 13).

beispielsweise möchte eine Frau, deren Leben von der Fürsorge um die Kinder geprägt war, nach Hause zu ihren Kindern. Mit dem pflegerelevanten Phänomen, d. h. den Kategorien

„Vertrautheit schaffen“ und „Vertrautheit erfahren“, fokussiert Bosch die zunehmende Bedeutsamkeit professionell pflegerischen Handelns (Bosch 1998, 122). Ein Ergebnis ihrer Studie ist, dass Pflegende es als ihre Aufgabe sehen, Menschen mit Demenz „ein Gefühl von Geborgenheit, Sicherheit und Vertrautheit zu bieten (…) sie hoffen, daß ihr Handeln Auswirkungen hat, und daß sich der dementierende ältere Mensch wohlfühlt, d. h. sich, wenn möglich, auf der Station zu Hause fühlt“ (Bosch 1998, 123). „Vertrautheit schaffen“

ist allerdings bestimmten Bedingungen unterworfen: zum einen hängt es von der Pflegeperson, ihrem Charakter, ihrer Persönlichkeit, Einsatzbereitschaft und ihren Kompetenzen, ab, zweitens sind die Möglichkeiten der Einrichtung maßgeblich für die Schaffung von Vertrautheit. Drittens spielen die Biographie und die Fähigkeit der Person mit Demenz, sich an eine neue Situation anzupassen, eine bedeutsame Rolle (Bosch 1998, 123). Bosch schlussfolgert im Hinblick auf das interaktive Handeln der Pflegenden:

„Es ist Aufgabe der Pflegenden, innerhalb der gegebenen Möglichkeiten zu sorgen und ein Interaktionsmuster zu entwickeln, welches ein Gefühl der Vertrautheit entstehen läßt. Das erfordert eine suchende, abtastende und ausprobierende Haltung, bei der Wissen, Fähigkeiten, Kreativität, Geduld und der Wille, den dementierenden älteren Menschen zu begreifen, unentbehrlich sind“ (Bosch 1998, 123).

Die Vermittlung des Gefühls von Vertrautheit hängt davon ab, ob sich Definitionen von Menschen mit Demenz und Pflegeperson ergänzen (Bosch 1998, 123). Gelingt es, Vertrautheit zu erlangen, so ist dies mit der Entwicklung eines positiven Gefühls verbunden,

„im Sinne von: ‚Wir machen es gut‘, ‚Wir sind erfolgreich mit dem, was wir tun‘“ (Bosch 1998, 124).

Bosch zeigt auf, dass die Bemühungen der Pflegenden, Vertrautheit zu schaffen, im Hinblick auf die jeweiligen Menschen mit Demenz variieren, dass es Pflegenden „nicht so einfach gelingt“, bei allen Vertrautheit zu schaffen und dies mit Spannungen in der Interaktion verbunden ist (Bosch 1998, 124): „Die Art und Weise, wie Pflegende damit umgehen, ist unterschiedlich. Analytisch betrachtet kann man diese Unterschiede unterteilen in: Nicht aufhören mit dem Suchen, Abtasten und Ausprobieren, oder damit aufhören“, was sich in der Handlungspraxis nicht deutlich voneinander trennen lässt (Bosch 1998, 124). Worin diese unterschiedlichen Handlungsweisen sich begründen, hat Bosch mit ihrer Forschung nicht weiter verfolgt, sieht dies jedoch als Forschungsdesiderat. Bedeutsam ist, dass Pflegende, die nicht aufhören zu „suchen, abzutasten und auszuprobieren“ einen Zugang zu

früheren Erfahrungen und aktuellen Gefühlen von Menschen mit Demenz erhalten und in diesem Zusammenhang auch etwas über die Resultate ihres Handelns erfahren. Sie passen ihr Handeln an den Menschen mit Demenz65 an:

„Sie können das bewerkstelligen, weil sie die dementierenden älteren Menschen trotz ihres Verhaltens als Person nicht zurückweisen und es wagen, ihr eigenes Verhalten zur Diskussion zu stellen. Sie betrachten die Verhaltensweisen der Bewohner, wie z. B. die Verärgerung, nicht als etwas, das sich gegen sie selbst richtet. Dadurch, daß Pflegende Situationen so analysieren, neu interpretieren und neu definieren, entstehen Momente, in denen die Definitionen miteinander übereinstimmen, wodurch auch das Vertrautheitsgefühl wieder eine ‚Chance erhält‘. Häufig gelingt es dann doch noch das Gefühl der Vertrautheit zu schaffen. Das wird von den Pflegenden als ‚Gewinn‘ empfunden und gibt ihnen neue Energie für die Ausführung ihrer Aufgaben. Auch die Bewohner werden dann häufiger positive Momente erfahren. Und für einen dementierenden alten Menschen gilt dasselbe wie für jeden anderen Menschen: Je mehr positive Momente es gibt, um so besser fühlt man sich“ (Bosch 1998, 124 f., Hervorhebungen K.W.).

Mit Blick auf die Studie von Bosch stelle ich zusammenfassend fest, dass Vertrautheit und Vertrautheitserfahrungen existentiell für Menschen mit Demenz sind. Sie sind nicht mehr in der Lage, Vertrautheit selbst herzustellen und somit auf die Initiativen der pflegenden Bezugsperson verwiesen. Dass Vertrautheit lebensnotwendig ist, wird daran sichtbar, dass Menschen mit Demenz das Ende des Lebens herbeisehnen, wenn das Vertrautheitsgefühl verloren ist. Dies unterstreicht, wie wichtig es ist, Vertrautheit durch Beziehungen aufzubauen und zu erhalten. Pflegende sehen es als ihre originäre Aufgabe, den Menschen mit Demenz ein Gefühl von Vertrautheit zu vermitteln, gleichwohl wird deutlich, dass dies mit Herausforderungen verbunden ist. Bosch zeigt auf, dass dies mit einem Suchprozess einhergeht, der an das Engagement der Pflegenden geknüpft ist. Engagement scheint wichtig für den Beziehungsaufbau und das tiefere Kennenlernen der jeweiligen Person mit Demenz.

Interessant ist der Befund, dass eine gemeinsame Situationsdefinition, d. h. Erleben von Übereinstimmungen, von Gemeinsamkeit, elementar für die Generierung von Vertrautheit ist. Die Feststellung Boschs, dass das Erleben positiver Momente sowohl für die Person mit Demenz als auch für die Pflegeperson emotional bedeutsam ist, verweist nochmals darauf, dass eine gute Beziehung positive Interaktionserfahrungen braucht.

65 Bosch verweist in diesem Zusammenhang auf das von ihr früher entwickelte Konzept der Betroffenheit (Bosch 1998, 124 mit Bezug auf Bosch 1984).

Verbleibende Beziehungsfähigkeiten nutzen können, um Beziehung zu erhalten

Dass Vertrautheit und das Erleben positiver Momente bedeutsam für die Beziehung zwischen Menschen mit Demenz und anderen ist, zeigt auch Florian Bödecker, indem er der Frage nachgeht, „wie Menschen mit Demenz und ihre Partner verbleibende Fähigkeiten nutzen können, um ihre Beziehung zu erhalten“ (Bödecker 2016, 437). Der Autor sieht die Schwierigkeiten, die sich angesichts der Demenz für Paare hinsichtlich der Beziehungsgestaltung ergeben. Mit seiner Arbeit verfolgt er jedoch einen ressourcenorientierten Ansatz, denn er untersucht, welche Beziehungsfähigkeiten trotz Demenz erhalten bleiben und wodurch diese charakterisiert sind. Mit Hilfe der Methode der Begriffsanalyse ermittelt Bödecker (2016, 438) zunächst die Charakteristik intimer Beziehungen und legt offen, welche Fähigkeiten vorliegen müssen, damit ein Minimum an Intimität geschaffen werden kann. Hiervon ausgehend, zeigt er mittels empirischer Studien auf, dass beziehungsrelevante Fähigkeiten von Menschen mit Demenz erhalten bleiben können (Bödecker 2016, 438). Der Autor versteht Beziehungsfähigkeit als Ergebnis der Anstrengung beider Partner, für die Aufrechterhaltung von Beziehung ist jedoch entscheidend, dass der Partner die Fähigkeiten des Menschen mit Demenz aktiv nutzt (Bödecker 2016, 442). Der Begriffsanalyse zufolge sind intime Beziehungen durch Intimität, Vertrautheit und Positivität charakterisiert, hierbei ist das Ausmaß und die Qualität der intimen Begegnung davon abhängig, „wie tief die Selbstoffenbarung ist, wie stark man positiv engagiert ist und wie ausgeprägt und zutreffend das wechselseitige Wissen und Verstehen ist“ (Bödecker 2016, 440 mit Bezug auf Prager & Roberts 2004).

- Intimität: Intimität setzt die Fähigkeit voraus, eigene Gefühle auszudrücken, die des anderen wahrzunehmen und entsprechend darauf zu antworten (Bödecker 2016, 441).

Bödecker stellt fest, dass Menschen mit Demenz über Kompetenzen verfügen, „die es ihnen ermöglichen, intime Beziehungen einzugehen. Auch wenn die Nähe auf geistiger und körperlicher Ebene schwindet, so kann doch eine emotionale Nähe bestehen bleiben“

(Bödecker 2016, 446, Hervorhebung K.W.)

- Vertrautheit: Für eine intime Beziehung „muss es irgendeine Form der Erinnerung an den Partner und die Beziehung zu ihm geben“, diese kann nicht nur über die Verbalsprache, sondern auch durch sinnliche Erfahrungen vermittelt werden (Bödecker 2016, 441).

Voraussetzend für das Entstehen eines Vertrautheitsgefühls ist, dass „sich die Partner authentisch dem anderen gegenüber öffnen“ (Bödecker 2016, 441). Der Autor weist, wie zuvor Bosch, auf die abnehmende Erinnerungsfähigkeit von Menschen hin. Die Möglichkeit, die Verbindung über gemeinsame Erinnerungen zu stärken, ist bei

Menschen mit Demenz nicht mehr in dieser Weise gegeben. Der Partner wird

„zunehmend zu einer Art Hilfsgedächtnis für den Menschen mit Demenz, um so die Identität als Paar für beide zu bewahren“ (Bödecker 2016, 444). Gleichwohl bleiben Elemente des impliziten Gedächtnisses erhalten (emotionales Erinnern und Lernen), wodurch es möglich wird, Aspekte von Vertrautheit aufrechtzuerhalten (Bödecker 2016, 444 mit Bezug auf Blessing 2014, siehe hierzu Kapitel 5.1.3). Vertrautheit ist mit dem Gefühl, den anderen persönlich zu kennen, verbunden. Dies wird für den Partner bzw. die Partnerin eines Menschen mit Demenz zunehmend schwieriger und auch emotional belastend erlebt. Die Kontinuität der Person, so Bödecker, ist aber nicht nur von intakter Kognition abhängig, sondern kann auch als „verkörpertes Selbst“ auf leiblicher Ebene, beispielsweise am Gang oder der Stimme, wahrgenommen werden und auf diese Weise zumindest teilweise für andere erhalten bleiben (Bödecker 2016, 444 mit Bezug auf Fuchs 2010).

- Positivität: Ein gewisses Maß an Reziprozität, wechselseitige Achtsamkeit und Wertschätzung sind wichtig für den Erhalt einer intimen Beziehung. Gleichwohl Intimität auch im Kontext negativer Gefühle entstehen kann, ist sie abhängig von positiven Interaktionen, ohne diese wird „die Enthüllung der eigenen Verletzlichkeit nicht möglich sein, weil man dem Partner vertrauen muss, dass er das Wissen um die eigene Verletzlichkeit nicht gegen einen verwendet“ (Bödecker 2016, 441). Bestimmte Phänomene (z. B. Apathie, Entfremdungsgefühle, herausfordernde Verhaltensweisen) können dazu führen, dass der Partner bzw. die Partnerin wenig positive Rückmeldungen erhält. Wenn auch die Beziehungsqualität im Kontext der Demenz häufig negativ konnotiert wird, gibt es laut Bödecker auch Befunde, die dafür sprechen, dass „positive Aspekte wie Liebe, Wärme und Nähe erhalten bleiben können“ (Bödecker 2016, 445 mit Bezug auf Ablitt et al. 2009). Maßgeblich ist nicht die Gleichwertigkeit, sondern dass der Partner, die Partnerin des Menschen mit Demenz „überhaupt das Gefühl hat, erkannt und wertgeschätzt zu werden“ (Bödecker 2016, 445). Die Beziehungsgestaltung verändert sich mit dem Verlauf der Demenz, wobei die Emotionalität in der Beziehung ausschlaggebend bleibt:

„Bei fortgeschrittener Demenz ruht die Beziehung (…) zum einen auf der erhaltenen emotionalen Nähe zwischen beiden Partnern und zum anderen auf dem Versuch des Partners, den Menschen mit Demenz wegen seines Verständnisses für die emotionale Beziehungsbotschaft möglichst partnerschaftlich in Entscheidungen mit einzubeziehen“ (Bödecker 2016, 447 mit Bezug auf Bödecker 2015).

Der Aufsatz von Bödecker und auch seine Dissertationsstudie (Bödecker 2015) zeigen, dass Intimität, Vertrautheit und Positivität relevant sind für intime Beziehungen. Es wird deutlich, dass sich mit Verlauf der Demenz die Herangehensweisen verändern, um Beziehung und Beziehungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Menschen mit Demenz verfügen über eine solche Fähigkeit; um diese entfalten zu können, sind sie auf entsprechende Initiativen ihres Partners, ihrer Partnerin verwiesen. Eine Pflegebeziehung unterliegt völlig anderen Bedingungen als eine persönliche Beziehung. Gemeinsam ist jedoch beiden, dass Vertrautheit sowie Positivität bzw. positive Momente relevante Merkmale von Beziehungen zwischen Menschen mit Demenz und ihren primären als auch sekundären Bezugspersonen sind.