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Teil I Theoretische und empirische Bezüge

5. Ausgewählte sensibilisierende Konzepte und Theorien

5.1 Befunde aus dem Bereich der Demenzforschung

5.1.2 Studien zum Selbst des Menschen mit Demenz

5.1.2.1 Bedeutung sozialer Interaktion für das Selbst

In seinem Beitrag „Surviving manifestations of selfhood in Alzheimer´s disease“ analysiert Sabat (2002) in einer Einzelfallstudie das Selbst eines Menschen mit Demenz. Einführend kritisiert er die medizinische Demenzforschung der letzten 20 Jahre, ihre reduktionistische und abschreckende Sichtweise auf die Demenz und die dort vertretene Auffassung, dass Demenz zum Verlust des Selbst führt (Sabat 2002, 26 mit Bezug auf Reisberg et al 1987;

Cohen & Eisdorfer 1986; Tobin 1999). Sabat nutzt in seiner Fallstudie den sozialkonstruktivistischen Theorieansatz von Coulter (1981) und Harré (1983, 1991) als Heuristik, um die Manifestation des Selbst einer 75-jährigen Frau (Dr. Mai)43 mit Demenz vom Alzheimer-Typ (moderat bis schwer) nachzuweisen. Ziel seiner Forschung ist es aufzuzeigen, dass der Verlust von Anteilen des Selbst auf die soziale Interaktion mit anderen und weniger auf die Neuropathologie der Demenz zurückzuführen ist (Sabat 2002, 27).

Methodisch ist relevant, dass Sabat eine vertrauensvolle Beziehung zu Dr. Mai aufbaut, er führt zahlreiche persönliche Gespräche, die er bewusst nicht aufzeichnet und die nicht den Charakter von Interviews haben, wie sie in Forschungskontexten gewöhnlich durchgeführt werden (Sabat 2002, 28). Auf der Basis der sozialkonstruktivistischen Theorie beschreibt er die drei Formen des Selbst (Sabat 2002, 27-28):

- Selbst 1: Das individuelle, einzigartige Selbst („The Self of personal identity“): Diese Form des Selbst verdeutlicht sich in der Verwendung von Personalpronomen, wie ich („me“, „myself“), mein („my“), meins („mine“) oder unser („our“), also darin, in welcher

43 Bei Frau Dr. Mai handelt es sich um dieselbe Person (Dr. M.), auf die sich Sabat & Harré (1994) beziehen (siehe Abschnitt 5.1.1).

Weise das Individuum auf sich selbst, d. h. die eigene Person, verweist.44 Menschen erfahren diesen Aspekt des Selbst dadurch, dass sie einen eigenen Standpunkt in der Welt haben, ein ununterbrochenes Erleben von Ereignissen, die aus der Erzählung des Lebens dieses Menschen stammen. Indem wir von uns in der ersten Person erzählen, übernehmen wir Verantwortung für unsere Handlungen. Indem wir Gefühle und Erfahrungen, unsere eigene, autobiographische Geschichte erzählen, machen wir sie für andere zugänglich.

Grundsätzlich kann eine Person, die an einer Amnesie leidet und somit Informationen über ihren Namen, Geburtsort, Bildung und dergleichen nicht abrufen kann, dennoch über ein intaktes individuelles, einzigartiges Selbst („intact self of personal identitiy“) verfügen, welches sie im Gespräch demonstriert (Sabat 2002, 27, siehe hierzu auch die Fallstudie von Sabat & Cagigas 1997 in Kapitel 6). Das Selbst 1 kann auch aufrechterhalten werden, wenn die Demenz fortgeschritten ist.

- Selbst 2: Es konstituiert sich aus den physischen und psychischen Eigenschaften des Individuums (Attribute) und Überzeugungen, die es sich selbst zuschreibt. Größe und Gewicht, Augenfarbe, Sinn für Humor, religiöse und politische Überzeugungen, Bildungsstand und berufliche Tätigkeiten sind Beispiele für physische und psychische Eigenschaften. Eine Person kann beispielsweise überzeugt von sich oder einer bestimmten Eigenschaft sein (ich kann gut singen), es ist aber auch das Gegenteil möglich (ich singe fürchterlich). Einige der Selbst 2 Eigenschaften bestehen schon lange, beispielsweise wurden sie während der Schulzeit erworben, andere hingegen sind jüngeren Datums und entstanden im Zuge der Demenz.

- Selbst 3: ist durch die verschiedenen „social personae“ (Hedman et al. 2012, 713)45 des Menschen charakterisiert. Der Mensch ist Träger sozialer Rollen, als solcher lebt er sein Leben und verhält sich in einer bestimmten Weise. Ein und dieselbe Person kann verschiedene soziale Rollen (soziale Persönlichkeiten) leben, die sich sehr voneinander unterscheiden können, beispielweise die des hingebungsvollen Lehrers, des lebenslustigen Freundes und des fürsorglichen Elternteils. Jede dieser verschiedenen

44 „Diese Besonderheit [dass der Mensch ein einzigartiges Exemplar seiner Spezies ist, K.W.] läßt sich daran verdeutlichen, wie wir uns mit der Hilfe des Personalpronomens ‚Ich‘ auf uns selbst beziehen. ‚Ich‘ ist ein referentieller Ausdruck. ‚Ich‘ sagend, meinen wir nicht etwa so etwas wie ‚ein Ich‘ – eine Philosophieerfindung –, sondern ein bestimmtes Lebewesen, einen bestimmten Menschen in der Welt: denselben Menschen, den andere mit einem bestimmten Eigennamen nennen. Und zwar bezeichnet jeder mit ‚ich‘ den Menschen, der er, der Sprecher, selbst ist“ (Spaemann 2006,17).

45 „Der lateinische Begriff ‚persona‘ – ebenso wie der analoge griechische Begriff ‚prosopon‘ gehört zunächst der Welt des Theaters an und bedeutet die Rolle, im Unterschied zu dem, der sie spielt. Es ist also genau derjenige Begriff, der heute noch auf unseren Theaterzetteln Verwendung findet: ‚Die Person und ihre Darsteller‘. Zunächst war ‚persona‘ einfach die Maske, durch die hindurch der Schauspieler tönt; später bedeutet ‚persona‘ dann auch im übertragenen Sinn die Rolle in der Gesellschaft, den gesellschaftlichen Status“

(Spaemann 2006, 31).

sozialen Rollen setzt die soziale Kooperation mit mindestens einer anderen Person voraus. So ist es nicht möglich, die Rolle einer hingebungsvollen Lehrerin bzw. eines Lehrers zu konstruieren, wenn die Schüler sie oder ihn nicht als ihre Lehrerin/ihren Lehrer anerkennen.

Sabat (2002, 29-35) konkretisiert in seiner Studie, wie sich die drei Formen des Selbst in dem von ihm untersuchten Einzelfall darstellen.

- Selbst 1: Frau Dr. Mai spricht von sich in der ersten Person. Sie bringt ihre eigenen Gefühle und ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck. Diese zeigen das Aufkommen einer neuen Selbst-2-Eigenschaft, die aus der Demenz und ihren Wortfindungsproblemen resultiert und auf ihr gegenwärtiges Leben einwirkt: „Was ich will, ist nicht hier“ („What I want isn´t here“). Die Tatsache, dass sie von den Eigenschaften, die von der Demenz herrühren, beschämt ist, lässt sich offensichtlich erkennen in ihrer ursprünglichen Fähigkeit, Verwandten und Freunden ihre Diagnose mitzuteilen, sowie in ihrer Zurückhaltung, in sozialen Situationen mit anderen Menschen, mit denen sie nicht vertraut ist, zu sprechen. Ferner zeigt sie sich darin, wie sie selbst ihre Diagnose kommentiert: „Can it be that the term ‚Alzheimer´s‘ has a connotation similar to the

‚Scarlet Letter‘ or the ‚Black Plague‘. Is it even more embarrassing than a sexual disease?“ (Sabat 2002, 29)

- Selbst 2: Dr. Mai sind ihre sprachlichen Probleme peinlich und sie will ihre Sprachfähigkeit nicht durch eine Logopädin testen lassen. Sie möchte nicht immer wieder Menschen begegnen, die ihr zeigen, was falsch mit ihr ist: „Going always to see people to see what´s wrong with me“ (Sabat, 2002, 30). Sabat merkt an, dass Menschen mit Demenz in Situationen immer wieder mit Selbst-2-Eigenschaften, die aus der Demenz hervorgehen, konfrontiert werden. Fatal ist, dass diese Eigenschaften in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestellt werden, dadurch werden die ursprünglichen Selbst-2-Eigenschaften, die sie als Person ausmachen, zusehends unsichtbarer, also quasi überschrieben. Menschen mit Demenz wünschen sich hingegen eine echte Beziehung („real relationship“) und nicht eine, in der die Mängel und Defizite im Mittelpunkt der Interaktion stehen. In diesem Sinne zeigt der Einzelfall Dr. Mai laut Sabat das, was Kitwood und Bredin im person-zentrierten Ansatz „Anzeiger für relatives Wohlbefinden“

(„indicator of relative well-being“) nennen: Dr. Mai besitzt ein intaktes Selbstwertgefühl bzw. Selbstachtung. Sie verweist auf sich selbst, sie expliziert ihre Erfahrungen, ihre Vorstellungen und Wünsche (Sabat 2002, 30 mit Bezug auf Kitwood & Bredin 1992).

Ferner bringt sie zum Ausdruck, dass sie mit sich selbst umgehen kann. „When I try not to let myself be presented as an Alzheimer´s I‘m very different“. Dieses Zitat weist Sabat zufolge hin auf einen äußerst wichtigen Aspekt der Interdependenz zwischen dem Selbstausdruck der betroffenen Person und wie sie von anderen gesehen wird. Die Tatsache, wie das soziale Umfeld mit der Person mit Demenz in Beziehung tritt, ist bedeutsam für die Konstruktion des Selbst 3 (Sabat 2002, 32).

- Selbst 3: Selbst 2 und Selbst 3 sind schwer voneinander zu trennen. Wenn der Fokus zunehmend auf demenzbezogene Eigenschaften gelegt wird, ist es für die betroffene Person zunehmend schwieriger, ihre Aufmerksamkeit auf tragende Eigenschaften bzw.

Fähigkeiten zu fokussieren. Die Person wird mehr und mehr als Patientin (bzw. Kranke) gesehen und auf diese Rolle reduziert. Der Einzelfall zeigt, dass Dr. Mai sehr unzufrieden mit sich und ihren sprachlichen Problemen ist, sie war früher sprachlich sehr eloquent, wegen ihrer Wortfindungsprobleme widerstrebte es ihr zunächst, an einer Unterstützungsgruppe für Menschen mit Demenz teilzunehmen, weil sie keinen in ihren Augen entsprechenden Beitrag leisten konnte. Sabat berichtet davon, dass Dr. Mai mit seiner Unterstützung jedoch einen Zugang zu dieser Gruppe findet, sie knüpft (trotz Wortfindungsproblemen) an ihre frühere Rolle und die wertvollen Eigenschaften und Fähigkeiten, die mit dieser Rolle verbunden sind, an. Hierüber gelingt es Dr. Mai, ihr Selbst 3 aufrechtzuerhalten (Sabat 2002, 32 ff.).

Sabat schlussfolgert, dass Selbst 3 stark von der Zuschreibung anderer abhängig ist. Folglich ist Selbst 3 extrem verletzlich und fragil, wie es Selbst 1 und Selbst 2 nicht in dieser Weise sind. Wenn also andere Menschen eine Person mit Demenz als defizitär, belastend („burdensome“) und dergleichen ansehen, dann ist das Selbst 3, das die betroffene Person mit Demenz konstruieren kann, einzig das eines dysfunktionalen Alzheimer-Patienten. Dies kann zu einem Verlust des Selbst („a loss of self“) führen, wobei ein solcher Verlust nicht auf die Neuropathologie der Erkrankung zurückzuführen ist, sondern eher auf die mangelnde Unterstützung und Kooperation, die die betroffene Person mit Demenz von ihrem sozialen Umfeld erhält (Sabat 2002, 28). Das Selbst ist sozialer Natur, d. h. von sozialer Interaktion abhängig. Genau das hat Kitwood mit seiner benignen und malignen Sozialpsychologie zum Ausdruck gebracht. Um das Selbst 3 aufrechterhalten zu können, benötigen Menschen mit Demenz andere Menschen, die sie durch entsprechende Interaktionen darin unterstützen (Sabat 2002, 27 f.). Gesunde Andere tendieren jedoch dazu, ihre Aufmerksamkeit auf Selbst-2-Eigenschaften (Attribute) der Person mit Demenz zu fokussieren, die durch die Demenz bedingt sind. Um den Verlust des Selbst zu vermeiden, sollte man seine Aufmerksamkeit

Sabat zufolge nicht auf die Defizite, sondern auf die Ressourcen der Person mit Demenz lenken, also solche Anteile des Selbst aufsuchen, auf welche die Person mit Demenz stolz sein kann, und diese in der Interaktion und Kommunikation betonen. Solche Interaktionen haben das Potenzial, dass die Person mit Demenz, trotz Demenz, ein gewisses Maß an Würde bewahren und Momente der Erfüllung erleben kann (Sabat 2002, 35). Sabat (2002, 28) merkt an, dass er mit diesen drei Formen des Selbst keine Generalisierung ausspricht, gleichwohl konnte er sie durch weitere Fallstudien nachweisen (Sabat & Harré 1992; Sabat & Collins 1999; Sabat 2001).