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E. Frauengestalten in den späteren Dramen

3. Trägerinnen politischer Befreiungsideen

3.2 Bertha von Bruneck in „Wilhelm Tell“

Volk“ (NA 10, Regieanweisung, S.152)402. Durch dieses Verhalten macht Ber-tha sowohl ihren materiellen als auch ihren moralischen Beistand deutlich.403 Dennoch erfährt sie wegen ihres Standes und Stammes Vorwürfe. Der Meister Steinmetz, der ihre freundliche Gesinnung zu den Schweizern noch nicht kennt, schleudert ihr als Anklage der Unmenschlichkeit entgegen:

Geht!

Wir waren frohe Menschen eh` ihr kamt,

Mit euch ist die Verzweiflung eingezogen. (V. 454ff)

Bertha verliert jedoch keineswegs ihre Fassung durch die ungerechtfertigte Vorhaltung und Empörung des Meisters. Sie antwortet nicht auf seine Vorwür-fe, erkundigt sich nur nach dem Verunglückten und verflucht schließlich die Festung Zwing Uri: „O unglücksel`ges Schloß, mit Flüchen / Erbaut, und Flü-che werden dich bewohnen!“ (V. 456f)

Schiller stellt anschließend an die erste und zweite Szene des ersten Aktes auch in der dritten Szene die grausame Gewaltherrschaft der Landvögte zur Schau.

Bertha erkennt in dieser Szene deutlich die unwürdigen Umstände, unter denen die schweizerischen Bürger leiden. Durch Einsicht in die bedrängte Lage der Schweizer erkennt sie die Notwendigkeit des Befreiungskampfes. Bertha er-scheint von vornherein als ein vollkommenes moralisches Wesen, da sie den politischen Widerstand gegen die ungerechte Gewalt als moralische Forderung ansieht.

Dies erweist sich in der Begegnung mit Rudenz in der zweiten Szene des drit-ten Aktes. Bertha beherrscht dabei ihre sinnliche Neigung zu dem Geliebdrit-ten völlig und spielt die Rolle der Anstifterin zum Befreiungskampf. In dieser Hin-sicht weist Storz darauf hin, daß die Liebeshandlung eine „sozusagen pädago-gische Funktion“404 hat, die Schiller der weiblichen Gestalt zuweist. So wird

402 Im folgenden zitiert nach: Schiller: Werke. Nationalausgabe. 10. Bd. S. 129-277.

403 Vgl. Mansouri: Die Darstellung der Frau in Schillers Dramen. S. 452.

404 Storz: Der Dichter Schiller. S. 416.

die einzige Liebeshandlung im Drama mit der politisch-historischen Begeben-heit eng verbunden.405

Im Drama entzieht sich Rudenz der unmittelbaren Gewalt, da er der Adels-gruppe angeschlossen ist, die sich nicht gegen die fremden Herrscher richtet.

Er macht seine Distanz zum Land deutlich, denn er ist vielmehr vom Leben des österreichschen Hofes begeistert und von dessen eitlem Glanz geblendet. Dies zeigt sich zuerst in seiner „Ritterkleidung“ (Regieanweisung, S. 165). Bei sei-nem ersten Auftritt trägt er stolz die Abzeichen der österreichischen Herzöge

„die Pfauenfeder“ (V. 780) und „den Purpurmantel“ (V. 781). Er interessiert sich keineswegs für die Situation seiner bedrängten Landsleute und schätzt sogar ihren Widerstand gegen die Fremdherrschaft gering.

Es wird also deutlich, daß die Eidgenossen nicht nur die Landvögte als fremde Eindringlinge hassen, sondern auch gegen die Adligen ihres eigenen Landes mit tiefstem Misstrauen erfüllt sind. Sie erklären sich selbst zu Repräsentanten dieser politischen Sache, ohne die Adligen in Anspruch zu nehmen. Dies geht aus dem Gespräch zwischen Melchtal und Stauffacher in der vierten Szene des ersten Aktes hervor.

Melchtal (zu Fürst und Stauffacher):

Wo ist ein Nahme in dem Waldgebirg`

Ehrwürdiger als Eurer und der Eure?

An solcher Nahmen ächte Währung glaubt Das Volk, sie haben guten Klang im Lande.

Ihr habt ein reiches Erb von Vätertugend,

Und habt es selber reich vermehrt – Was braucht`s Des Edelmanns? Läßts uns allein vollenden.

Wären wir doch allein im Land! Ich meine,

Wir wollen uns schon selbst zu schirmen wissen. (V. 687ff)

Rudenz` gleichgültiges Verhalten gegenüber seinen Landsleuten wird ihm zu-erst von Attinghausen, der das vergangene Ideal der alten Freiheit verteidigt, vorgeworfen. Dieser bittet ihn darum, sich seiner Herkunft zu erinnern und sein Vaterland nicht zu verraten. Rudenz schenkt ihm aber kein Gehör. Der Grund

405 Vgl. Storz: Der Dichter Schiller. S. 417.

dafür liegt vor allem in seiner blinden Liebe zu Bertha. Rudenz, der sich Ber-thas Meinung zur politischen Lage nicht bewußt ist, versucht in der zweiten Szene des dritten Aktes mit allen Mitteln Berthas Neigung für sich zu gewin-nen. Er erfährt aber eine große Überraschung, als ihm die geliebte Dame völlig unerwartet Vorwürfe macht. Auf sein Liebesbekenntnis erwidert Bertha sehr

„ernst und streng“ (Regieanweisung, S. 199):

Dürft Ihr von Liebe reden und von Treue, Der treulos wird an seinen nächsten Pflichten?

(Rudenz tritt zurück)

Der Sklave Oesterreichs, der sich dem Fremdling Verkauft, dem Unterdrücker seines Volks? (V. 1602ff)

Bertha zeigt hier deutlich ihre Einstellung zur gewalttätigen Herrschaft Öster-reichs. Da Bertha die unterdrückte Situation des schweizerischen Volkes sehr ernst nimmt, vermag sie Rudenz` Liebesbekenntnis nicht zu erwidern. Sie hält ihn, der infolge seiner Neigung zu ihr die vaterländischen Pflichten vernachläs-sigt, für den „Sklave[n] Oesterreichs“ (V. 1604) und den „Naturvergeßnen Sohn der Schweiz“ (V. 1611). Berthas Meinung bringt ihn in Verlegenheit: „O Gott, was muß ich hören!“ (V. 1613)

Man begegnet im Drama fast nirgends privaten Szenen; „auch die Szenen ohne Volk sind von dessen latenter Gegenwart geprägt“406. Die Szene zwischen Ber-tha und Rudenz bildet hierbei keine Ausnahme. Sie enthält „keine intime[n]

Momente, sondern ist durch die pathetische Aufforderung Berthas an Rudenz geprägt, sich auf die Seite des schweizerischen Freiheitskampfes zu stellen“407. Hier geht es darum, daß der Aufruf zur politischen Aktion des schweizerischen Volkes nicht von einem Mann des Landes, sondern von einer Frau als Österei-cherin hervorgerufen wird. Diese ungewöhnliche Handlung Berthas ist durch ihre Sympathie und Liebe zum schweizerischen Volk motiviert.

– Die Seele blutet mir um euer Volk, Ich leide mit ihm, denn ich muß es lieben, Das so bescheiden ist und doch voll Kraft, Es zieht mein ganzes Herz mich zu ihm hin,

406 Borchmeyer: Schillers „Wilhelm Tell“. S. 190.

407 Ebd.

Mit jedem Tage lern ich`s mehr verehren. (V. 1618ff)

An dieser Stelle kommt deutlich zum Ausdruck, wie herzlich Bertha das schweizerische Volk verehrt und wie sie sich um dessen Schicksal kümmert.

Sie leidet gemeinsam mit Rudenz` Volk, sie strebt also mit diesem ein gemein-sames Ziel an. „Durch diese Äußerung wollte Schiller wohl das Mißverständ-nis von vornherein beseitigen, die Sympathie Berthas mit dem schweizerischen Volk sei bloß auf ihre Liebe zu Rudenz zurückzuführen.“408 Es findet daher sowohl in ihrer Vernunft als auch in ihrer Natur kein Verstoß gegen die politi-sche Befreiungsaktion des schweizeripoliti-schen Volkes statt.

Es ist jedoch ein für Schiller ungewöhnliches Motiv, daß eine Frau so starke Seelenverwandtschaft mit einem Volk fühlt. Die Begriffe „Ehre“, „Vaterlands- und Volksliebe“ werden allein im Rahmen des Diskurses über die Männlich-keit häufig erwähnt. Sie werden in „Wilhelm Tell“ aber in die Worte einer weiblichen Gestalt übertragen.

Seid Wozu die herrliche Natur euch machte!

Erfüllt den Platz, wohin sie euch gestellt, Zu eurem Volke steht und eurem Lande, Und kämpft für euer heilig Recht. (V. 1651ff)

Berthas Worte und Handlungen drücken eine herausfordernde Kraft aus. Bei der Bertha-Figur entwickelt sich der Konflikt zwischen der weiblichen sinnli-chen Natur und dem politissinnli-chen Handeln kaum, obwohl sie sich zu Rudenz hingezogen fühlt. Schiller hat allerdings das Problem bereits im Drama „Die Jungfrau von Orleans“ gelöst. Die erhabene Frau soll den Konflikt mit ihrer sinnlichen Neigung völlig überwinden, um für die moralische Pflicht handeln zu können. Dieses Prinzip gilt auch für die Bertha-Figur. Aus einer solchen dramatischen Konfliktstruktur ergibt sich, daß Schiller bei der Gestaltung der aktiven Heldinnen nicht geschlechtsneutral, sondern geschlechtsbedingt konzi-piert.

408 Mansouri: Die Darstellung der Frau in Schillers Dramen. S. 459.

Sie belehrt Rudenz darüber, daß sein Verhalten nicht die Freiheit seines Vol-kes, sondern die Unterwerfung unter die Fremdherrschaft hervorbringt. Ru-denz, der ihre Gedanken über das schweizerische Volk kennt, scheint sehr be-eindruckt von ihr zu sein. Dennoch zeigt sich in dieser Szene, daß Rudenz im-mer noch von der sinnlichen Neigung zu Bertha beherrscht ist, weil er selbst die Notwendigkeit zur politischen Aktion nicht erkennt.

Dies ist auch weiterhin im Verhalten von Rudenz festzustellen, der Berthas private unglückliche Situation durch die Gewalttaten der habsburgischen Herr-schaft kennt. Das drohende Schicksal Berthas erweckt zwar bei Rudenz das Pflichtgefühl zum Kampf. Dies geschieht aber nicht deswegen, weil er die mo-ralisch notwendige Forderung des Kampfes sieht, sondern weil Berthas vom Kaiser geplante Heirat die Erfüllung seiner Liebe unmöglich macht. Hiermit ist erkennbar, daß Schillers theoretisch gegensätzliche Auffassungen der Ge-schlechter durch moralische Pflicht des Mannes und sinnliche Neigung der Frau für die Gestalten von Rudenz und Bertha nicht mehr gelten.

Bertha macht angesichts ihrer dringenden Situation offenkundig, daß nur der Kampf des schweizerischen Volkes gegen Österreich sie retten könne, weil sie sich nur dadurch mit dem geliebten Mann vereinen kann.

Hofft nicht, durch Oestreichs Gunst mich zu erringen, Nach meinem Erbe strecken sie die Hand,

Das will man mit dem großen Erb vereinen.

Dieselbe Ländergier, die Eure Freiheit

Verschlingen will, sie drohet auch der meinen!

– O Freund, zum Opfer bin ich ausersehn, Vielleicht um einen Günstling zu belohnen – Dort wo die Falschheit und die Ränke wohnen, Hin an den Kaiserhof will man mich ziehn, Dort harren mein verhaßter Ehe Ketten,

Die Liebe nur – die Eure kann mich retten! (V. 1662ff)

So wie Baumgartens Frau die Rettungstat nicht selbst vollbringen kann, ver-mag sich auch Bertha aus eigener Kraft nicht zu retten. So ist Bertha zwar auf die männliche Hilfeleistung angewiesen, aber ihre Rede ist nicht nur auf ihre persönliche Rettung gerichtet. In ihrem starken Willen, eine aufgezwungene Heirat zu verhindern, tritt deutlich das Bild der emanzipierten Frau zutage, die

der absolutistischen, patriarchalischen Macht nicht gehorcht. Durch ihre Forde-rung nach ihren menschlichen Rechten und Freiheit wird vielmehr die Frei-heitsidee sowohl im politischen als auch im moralischen Sinne hervorgehoben.

In dieser Hinsicht ist Heinz Lippuners Meinung nicht zu rechtfertigen, daß Bertha unbedacht handle und sich am deutlichsten durch den Affekt in ihrem Handeln beeinflussen lasse.409

Auch in der unmittelbaren Auflehnung in der Öffentlichkeit gegen Geßlers Unmenschlichkeit beweist Bertha ihr aktives und selbständiges Verhalten. In der Apfelschußszene, in der sich die Ohnmacht der Bürger gegenüber Geßlers militärischer Gewalt enthüllt, stellen sich Bertha und Rudenz auch der grausa-men Herrschaft des Landvogts entgegen. Bertha bezeugt hier deutlich ihre Fä-higkeit zum politischen Handeln.

Laßt es genug seyn Herr! Unmenschlich ists, Mit eines Vaters Angst also zu spielen.

Wenn dieser arme Mann auch Leib und Leben Verwirkt durch seine leichte Schuld, bei Gott!

Er hätte jetzt zehnfachen Tod empfunden.

Entlaßt ihn ungekränkt in seine Hütte, Er hat euch kennen lernen, dieser Stunde

Wird er und seine Kindeskinder denken. (V. 1922ff)

Rudenz erfährt nun unmittelbar von der durch die Gewalt Geßlers bedrohten Wirklichkeit. Im Anschluß an Berthas offene Anklage gegen Geßler wagt es Rudenz, dem grausamen Landvogt zu widerstehen und sein Volk zu verteidi-gen:

Ich hab` still geschwiegen Zu allen schweren Thaten, die ich sah, Mein sehend Auge hab ich zugeschlossen, Mein überschwellend und empörtes Herz Hab ich hinabgedrückt in meinen Busen.

Doch länger schweigen wär Verrath zugleich

An meinem Vaterland und an dem Kaiser. (V. 2003ff)

409 Vgl. Lippuner / Mettler: Schillers „Tell“. S. 261.

An dieser Stelle wird erkennbar, daß bei Rudenz eine Wendung geschieht. Der Gedanke an den Freiheitskampf seines Volkes wird „in sein Inneres gelenkt und tritt dort auf einen Kern, der in sich `gut und edel´ erscheint“410. Nun wird Berthas gewünschtes Ziel verwirklicht. Rudenz verdeutlicht in der Empörung nicht nur seine öffentliche Absage an Geßler, sondern auch seinen Entschluß zur politischen Aktion gegen die Gewalttaten der fremden Herrscher. So schließt sich Rudenz, der kein Interesse an der Befreiung des Vaterlandes zeigt, durch die Liebe Berthas den Eidgenossen an.

Der gemeinsame Kampf der Schweizer ist interessanterweise nicht nur auf die Unabhängigkeit des schweizerischen Volkes von der Fremdherrschaft gerich-tet, sondern wird auch mit der Errettung Berthas, die vom tyrannischen Geßler entführt wurde, in Verbindung gebracht. Um Bertha zu befreien, nimmt Ru-denz die Hilfe der Eidgenossen in Anspruch. Ihre Entführung funktioniert da-mit als Moment der Verbindung von Rudenz da-mit den Eidgenossen. Durch den Bund erreicht das gesamte Volk im Drama die höchste Vollendung im Ideal.

Die gegenwärtige Verwirklichung dieser Utopie erreicht Schiller in seinem Schauspiel dadurch, daß er nicht nur eine Repräsentantin des Volkes handelnd auftreten, sondern ein ganzes Volk zum eigentli-chen Handlungsträger werden läßt.411

Darin gründet sich die große Bedeutung der Liebesepisode von Bertha und Rudenz. Berthas Rolle wird jedoch nicht einfach auf einen Anteil an der Lie-bes- und Befreiungsgeschichte beschränkt. „Der bürgerlich-adlige Kompro-miß“412 liegt auch ihrer Handlung zugrunde, indem Rudenz und Bertha auf ihren adligen Stand verzichten und sich in der Gemeinschaft des schweizeri-schen Volkes eingliedern. Am Schluß des Dramas bekennt sich Bertha als

„Bürgerin“ (V. 3286), und Rudenz erklärt alle seine Knechte frei. Auch in die-ser Handlung, in der sich Bertha als „freie Schweizerin“ (V. 3289) an die Seite von Rudenz stellt, wird ihre Fähigkeit zur moralischen Autonomie und Freiheit herausgestellt.

410 Lippuner / Mettler: Schillers „Tell“. S. 262.

411 Braemer: „Wilhelm Tell“. S. 310.

412 Ebd. S. 315.

Bertha tritt in der Rolle einer Geliebten für Rudenz in Erscheinung. Sie bliebt jedoch nicht einer traditionell weiblichen Rolle verhaftet, denn sie sprengt die ungerechte Gewalt Geßlers und demonstriert auch in der Beziehung zu Rudenz ein ebenbürtiges Verhältnis. Ihre vernünftige Denkweise und ihre Überzeu-gung vom Kampf um die Freiheit beweist sogar in aller Deutlichkeit das Bild der moralisch und politisch handelnden Frau, das von den herkömmlichen Vor-stellungen der Weiblichkeit weit entfernt ist.