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Das BEM – zur Historie einer Präventionsnorm als sozialgesetzgeberischer Arbeitsschutz

Einleitung

Konnte im ersten Kapitel dargestellt werden, dass der Arbeitsschutz an sich für jeden Arbeit-geber zu gewährleisten ist, so stellt sich dieses Kapitel der Herausforderung, konkret das BEM als SGB IX-Norm als sozialgesetzgeberische Anforderung im Rahmen des Arbeits-schutzes zu detektieren. Hierzu gehört die Klärung, dass das BEM - widersprechend der ver-schiedensten Ansichten - als Präventionsnorm mit seiner Wirkung auf alle Beschäftigten rich-tig im SGB IX vom Gesetzgeber verortet wurde und als Schnittstelle zwischen Arbeits- und Sozialrecht anzusehen ist.

Durch Aufarbeitung der Historie des SGB IX bis hin in den heutigen Stand des BEM wird verständlich, dass es manifeste Paradigmenwechsel im gesellschaftlichen, politischen und gesetzgeberischen Willen sind, die die Wirkung der Präventionskultur für besondere Perso-nengruppen prägen. Nur so lässt sich verstehen, wieso eine Norm aus dem Behindertenrecht auf alle Beschäftigten anzuwenden ist, um nachhaltig die Teilhabe am Arbeitsleben und an der Gesellschaft zu sichern.

2.ௗ1 Historischer respektive gesetzgeberischer Hintergrund

Die nachfolgenden Abschnitte beschreiben das Werden der Gesetzgebung und ihr konkret-historisches Bedingungsgefüge. Die Abbildung 22 soll diesen Vorgang illustrieren.

2.ௗ1.ௗ1 Der Beginn des Behindertenrechts

Wie bereits im ersten Kapitel angezeigt, ist das gegenwärtige Behindertenrecht historisch aus der Kriegsopferfürsorge im Gefolge der beiden großen Weltkriege entstanden. Erste Überle-gungen, versehrten Kriegsteilnehmern eine Versorgung zu gewähren, gehen aber bereits auf das Jahr 1789 zurück, als das Preußische Patent für die Versorgung invalider Offiziere ver-kündet wurde (Schimanski, 1999). Hier wurden lediglich die Offiziersränge berücksichtigt.

Zu den Wurzeln des Behindertenrechts

Im Gefolge der im Jahre 1814 (03. September) eingeführten allgemeinen Wehrpflicht in Preußen wurden überdies Forderungen artikuliert, alle Kriegsinvaliden in eine Versorgung einzubeziehen. Eine rechtliche Grundlage erhielten diese Ansprüche schließlich mit dem Preußischen Militärpensions-Reglement, dem Militärpensionsgesetz (27. Juni 1871) ergänzt durch das Mannschaftsversorgungsgesetz (31. Mai 1906), dem Offizierspensionsgesetz (31.

Mai 1906) und dem Militärhinterbliebenengesetz (17. Mai 1907) (Neumann, 2005a). Wie er-sichtlich, ist das Behindertenrecht und dessen Ausprägung eine Frucht des Krieges. Abstrakt betrachtet ist es als reaktives Recht zu charakterisieren, das erst infolge einer Wirkung auf-taucht. Folglich waren hierin keine präventiven Maßnahmen eingeschlossen.

2. 1. 2 Zur Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg

Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Erste Weltkrieg auf deutscher Seite 900 000 Kriegsversehrte, davon 250 000 Schwerbeschädigte hinterließ (Neumann, 2005a), sollte, wie im historischen Teil zum Arbeitsschutzrecht bereits dargestellt, mit der Verordnung über die Beschäftigung Schwerbeschädigter vom 09. Januar 1919 gerade diesen Personen erstmals eine Hilfe bei ihrer Eingliederung in das Arbeitsleben gegeben werden.

Damit wurden erste Regelungen zur Integration gesundheitlich eingeschränkter Menschen in das Arbeitsleben geschaffen. Auch wenn sich diese Eingliederung ursprünglich nur auf Kriegsversehrte beschränkte, so war dies ein erster wesentlicher Schritt zur weiteren Ausprä-gung des Behindertenrechts.

Abbildung 22: Entwicklung des SGB IX im Fokus der gesetzgeberischen Herleitung für alle Beschäftigte (betriebliches

Einführung der Prävention

§ 14c SchwbG für schwer-behinderte Menschen 2001

Sozialgesetzbuch IX Novellierung der Prävention

§ 84 Abs. 1 und 2 SGB IX für behinderte und von

Behin-derung bedrohte Menschen

EUROPARECHT Richtlinien Ɣ Übereinkommen Ɣ

Sozialcharta Ɣ Empfehlungen

Entsprechend dieser Verordnung waren die Arbeitgeber gezwungen, eine bestimmte Anzahl schwer Kriegsversehrter in ihren Firmen zu beschäftigen. Diese Verordnung wurde, und das sei am Rande erwähnt, zu einem späteren Zeitpunkt in das Schwerbeschädigtengesetz über-führt. Zugleich entstanden im Jahre 1919, also unmittelbar nach dem Ende des Ersten Welt-krieges, Hauptfürsorgestellen und Fürsorgestellen, die die Betreuung der Schwerbeschädigten übernehmen sollten (Maaß, 2009).

Die Versorgungsgesetze waren allerdings nicht entworfen, um alle Versehrten des Krieges ordentlich zu betreuen. Anzufügen bleibt, dass bis auf das Mannschaftsversorgungsgesetz, welches bis ins Jahr 1947 bestand, diese Gesetze im Reichsversorgungsgesetz (12. Mai 1920) – dem späteren Bundesversorgungsgesetz – aufgehoben wurden.

Parallel hierzu wurde zum 06. April 1920 der Vorgänger des heutigen Neunten Sozialge-setzbuches (SGB IX), das Schwerbeschädigtengesetz eingeführt. Neben dem Reichsversor-gungsgesetz, das die finanzielle Absicherung regelte, hatte das Schwerbeschädigtengesetz die Aufgabe, die verschiedenen Rechte, die den Betroffenen im Laufe der Zeit eingeräumt wurden, zu verwalten.

Im Kontext dieser Vorgänge entstand das Institut der Schwerbeschädigten-Vertretung, das eine Zustimmung zur Kündigung durch die Hauptfürsorgestellen, die auch gegenwärtig existie-ren, begründet (Maaß, 2009). Die Betroffenen erhielten ein entsprechendes Dokument, das den Namen „Ausweis für Schwerbeschädigte“ trug.

Das Schwerbeschädigtengesetz von 1920 stellte sich damit, wie zuvor erwähnt, als eines der besten sozialpolitischen Gesetze nach dem Ersten Weltkrieg dar (Frank, 2007). Unter anderem wurden neben den Kriegs- und Arbeitsbeschädigten nun auch Blinde und Körper-behinderte in den gesetzlichen Schutz mit einbezogen (Neumann, 2005a).

Am 12. Januar 1923 wurde das Schwerbeschädigtengesetz durch eine Novelle vom 23.

Dezember 1922 (RGBl. I, 1922, S. 972) überarbeitet und die Schwerbeschädigtengesetzge-bung zunächst abgeschlossen (Kohte, 2009). Mit diesem Gesetz und dessen Ausführungs-verordnung vom 13. Februar 1924 (RGBl. I, S. 73) waren für die Unternehmen hineinreichen-de Bestimmungen geschaffen.

Einerseits war der Arbeitgeber, der einen Arbeitsplatz neu vergeben wollte, verpflichtet, ei-nen hierfür geeigneten Schwerbeschädigten anderen Bewerbern gem. § 1 vorzuziehen. An-dererseits hatte der Arbeitgeber auf Verlangen der Hauptfürsorgestellen sein Unternehmen gem. § 10 Abs. 2 so einzurichten, dass mehrere Schwerbeschädigte beschäftigt werden konnten, sofern diese Durchführung das Unternehmen nicht ernstlich beeinträchtigte, unver-hältnismäßig aufwendig sei oder den Arbeitsschutzvorschriften entgegenstehen würde (Großmann, 1999a). Die Verpflichtung des Arbeitgebers war somit an bestimmte Bedingun-gen geknüpft und unterlag einer Verhältnismäßigkeitsprüfung.

Wie aus der umrissenen Entwicklung erkennbar, beinhalteten die ersten Sozialgesetze

noch keine spezifischen Reglungen für behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen.

Diese unbefriedigende Tatsache sollte sich erst im Laufe der weiteren Jahre im Rahmen der verschiedenen allgemeinen sozialen Sicherungssysteme verändern (Seel, 2007). Infolge die-ser Entwicklung entstanden das System und das Recht der Rehabilitation und Teilhabe be-hinderter Menschen in Deutschland als Bestandteil des Sozialrechts, jedoch innerhalb ver-schiedener Bereiche der Sozialleistungen. Somit sind die Leistungen zur Rehabilitation und zur Teilhabe in vielen Bereichen im gegliederten System der sozialen Sicherung verankert (Seel, 2007).

Zu diesen gehören zum einen die Sozialversicherungszweige, wie die Krankenversiche-rung, die UnfallversicheKrankenversiche-rung, die Rentenversicherung als auch die Arbeitslosenversicherung.

Zum anderen zählen hierzu das System des Versorgungs- und sozialen Entschädigungs-rechts als auch das Recht der Jugendhilfe und der Sozialhilfe (Haines, 2009). Mit dem Schwerbeschädigtengesetz aus dem Jahre 1923, um den Faden wieder aufzunehmen, wur-den im Ansatz Regelungen geschaffen, die bis in die Gegenwart nachwirken. Das betrifft vor allem die Verpflichtung des Arbeitgebers, sein Unternehmen so einzurichten, welches Schwerbeschädigten eine erwerbsfähige Arbeit ermöglichte.

2. 1. 3 Zur Entwicklung bis in die 1950er Jahre

Während der NS-Diktatur (1933 – 1945) blieb das Schwerbeschädigtengesetz von 1923 zwar formal bestehen, es unterlag aber der rassistischen NS-Doktrin, wonach auch Behinderte von vornherein als „fremd“ galten und als leistungsunfähig bewertet, „nutzlos“ waren – folgerichtig resultierte hieraus keine Weiterentwicklung auf dem Gebiet des Behindertenrechts (Schi-manski, 1999).

Im Jahre 1943 wurde dann die Verordnung über Vergünstigungen für Kriegsbeschädigte im öffentlichen Personenverkehr bekannt gegeben, die für die hiervon Betroffenen innerhalb des eigenen Wohnortes Freifahrten vorsah und nach außerhalb Vergünstigungen gewährte.

Diese Verordnung berücksichtigte die besonderen Beschränkungen der Schwerbeschädigten unter dem Gesichtspunkt der Mobilität. Gleichzeitig wurden damit schon bestehende Barrie-ren beseitigt, die noch in Beziehung der europäischen Entwicklung näher problematisiert werden sollen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg (1939 – 1945) existierten gleichartig zu lösende Aufgaben zur Versorgung Kriegsversehrter wie nach dem Ersten Weltkrieg (1914 – 1918). Allerdings in einem viel größeren Umfang (Kohte, 2009). Die deutsche Seite verzeichnete neben 3,2 Milli-onen Gefallenen und 3 640 000 toter ZivilpersMilli-onen über 2 MilliMilli-onen Kriegsversehrte (Neu-mann, 2005a).

Das Versorgungsgesetz war im Laufe der unmittelbaren Nachkriegsjahre zu überarbeiten.

Nach Gründung der Bundesrepublik (1949) wurde es zum 01. Oktober 1950 im

Bundesver-sorgungsgesetz aufgehoben, welches das ReichsverBundesver-sorgungsgesetz außer Kraft setzte. Im Zuge der weiteren Entwicklung war auch das Schwerbeschädigtenrecht den neuen Gege-benheiten anzupassen, das mit dem Schwerbeschädigtengesetz vom 16. Juni 1953 (BGBl. I, S. 389) Konturen annahm.

Auf der einen Seite wurde hier auf bereits bekannte Instrumente aus der Weimarer Ver-fassung zurückgegriffen (Kohte, 2009). So wurden unter anderem die Anordnung einer Be-schäftigungsquote (ab 7 Arbeitsplätzen mit 10 % im öffentlichen Dienst, bei Banken, Versi-cherungen und Bausparkassen, sowie 6 % in der privaten Wirtschaft (Neumann, 2005a)), die Möglichkeit eines durch Verwaltungsakt begründeten Arbeitsvertrages (§ 7 Abs. 1), der Kün-digungsschutz und die Wahl eines Vertrauensmanns der Schwerbeschädigten eingeführt.

Auf der anderen Seite eröffnete das Gesetz den Anwendungsbereich nur für Geschädigte des Krieges und der Allgemeinheit (Neumann, 2005a). Eine generelle Geltung des Gesetzes für alle Behinderten, unabhängig von der Ursache wurde abgelehnt (Schimanski, 1999). Je-doch wurden in dessen Geltungsbereich Blinde, Gehörlose sowie die vom NS-Regime Ver-folgten mit einbezogen (Maaß, 2009). Ferner wurde den Arbeitgebern die Verpflichtung aufer-legt, den Arbeitsämtern und den Hauptfürsorgestellen Auskünfte gem. § 12 Abs. 2 zu erteilen, Einblicke in ihr Unternehmen gem. § 12 Abs. 3 zu gewähren und Verzeichnisse gem. § 12 Abs. 5 vorzulegen (Großmann, 1999a).

Anhand des erreichten gesetzlichen Entwicklungsstandes darf hier von den Vorgängern des heutigen besonderen Kündigungsschutzes gem. § 85 SGB IX und der Schwerbehinder-tenvertretung gesprochen werden, die im Bereich des BEM in Bezug auf behinderte Men-schen eine besondere Rolle ausfüllen werden. Daneben wurde mit der Festlegung der ver-waltungsmäßigen Durchführung der gesetzlichen Regelungen die Entwicklung des Behinder-tenrechts in Deutschland grundlegend beeinflusst. Waren ab 1919 die Hauptfürsorgestellen für die Verwaltung und Fürsorge Schwerbeschädigter allein verantwortlich, so wurde im Zuge der gesetzlichen Entwicklung ab 1953 nunmehr eine Teilung vorgenommen.

Die Hauptfürsorgestellen waren zwar weiterhin für die Aufgaben der Fürsorge zuständig, jedoch erhielten die Dienststellen der damaligen Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung die arbeitsmarktpolitischen Aufgaben übertragen (Maaß, 2009).

Damit wurde bereits zu dieser Zeit ein weiterer Verantwortlicher (heutige Bundesanstalt für Arbeit bzw. JobCenter) benannt, der auch in Realisierung des BEM eine wichtige Rolle spie-len wird. Darüber hinaus war es nun den Arbeitgebern möglich, gegen Zahlung der so ge-nannten Ausgleichsabgabe, sich von der Verpflichtung zur Beschäftigung Schwerbeschädig-ter zu entlasten.

Im Sozialrecht wurde erstmals für bisher nicht versicherte behinderte Menschen aufgrund der Normierung der Eingliederungshilfe im Bundessozialhilfegesetz und der Eingliederungs-hilfeverordnung eine Basis für soziale Rechte und Integration normiert (Kohte, 2009).

Das Schwerbeschädigtengesetz aus dem Jahre 1961, so ist anzumerken, brachte keine große Veränderung. Es übernahm die Zwangseinstellung sowie die oben dargestellten Ar-beitgeberpflichten nach § 12 (Großmann, 1999a). Der Ausweis für Schwerbeschädigte wurde am 27. August 1965 im Kontext der Einführung des Gesetzes über die unentgeltliche Beför-derung von Kriegs- und Wehrdienstbeschädigten sowie anderen Behinderten im Nahverkehr durch den neuen Schwerbeschädigtenausweis ersetzt. Am Rande soll hier erwähnt werden, dass mit dem vorgenannten Gesetz gleichzeitig auch die Freifahrt- und Vergünstigungsver-ordnung von 1943 abgelöst worden war. Dieses Gesetz nahm nun auch Blinde und Gehbe-hinderte in die Regelung auf. Damit konnten von nun an in ganz Deutschland Straßenbah-nen, S-BahStraßenbah-nen, Übersetzfähren, und (O)Busse im orts- oder ortsähnlichem Verkehr, sowie Busse der Bundespost und der Bundesbahn unentgeltlich genutzt werden. Zudem waren die Behinderten nun auch berechtigt, eine benötigte Begleitperson mitzuführen. Für Blinde und Gehbehinderte, also die so genannten „zivilen Behinderten“, war eine unentgeltliche Beförde-rung jedoch nur dann gegeben, wenn ihr Einkommen unterhalb des Sozialhilferegelsatzes lag.

Zwischenfazit

Fixiert werden kann, dass im Zeitraum von 1918 bis Mitte 1950er zwar ein durchgängiges System im Sozialrecht in Bezug auf behinderte Menschen entwickelt worden war, dieses aber keine einheitliche Regelung in der Umfassung eines Gesetzes gefunden hatte.

Es existierte noch kein einheitliches Gesetz, das sich mit den Rechten und Pflichten be-hinderter oder von Behinderung bedrohter Menschen beschäftigte. Die Leistungen und Hilfen waren vielmehr in den oben genannten Sozialversicherungszweigen verstreut und führten dadurch für viele Hilfsbedürftige zu einer komplizierten und unübersichtlichen Situation.

Die ersten Bemühungen zielten darauf, die Errichtung und den Aufbau überregionaler Re-habilitationseinrichtungen zu fördern, die Rehabilitation insgesamt zu planen, zusammenzu-fassen und zu regeln. Vor diesem Hintergrund plante das Bundesministerium für Arbeit im Jahre 1968 die Gründung einer privaten gemeinnützigen Gesellschaft, die aus dem Bund und den gesetzlichen Trägern der Rehabilitationsaufgaben bestehen sollte (Neumann, 2009). Die Bestrebungen scheiterten jedoch am Widerstand der Renten- und Unfallversicherungsträger-verbände. Von diesen wurde aber die Schaffung der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabili-tation (BAR) vorangetrieben (Neumann, 2009).

2. 1. 4 Zur Entwicklung in den 1970er Jahren

Anfang der 70er Jahre waren die Kriegsfolgen als Ursache für Behinderung zum größten Teil bewältigt, so dass das Schwerbeschädigtengesetz in Richtung „ziviler“ Behinderter ausge-dehnt wurde.

Es stellte sich immer deutlicher heraus, dass das bis dato bestehende deutsche Schwer-behindertenrecht eher als Statusrecht verfasst war (Kothe, 2008) und somit nur eine Lösung für Kriegsversehrte darstellte. Damit gestaltete sich dieses Recht aber reaktiv und nicht prä-ventiv, da die Ursachen der Versehrtheit nicht vorrangig am Arbeitsplatz, sondern weiter zu-rückliegend im Weltkrieg lagen (Kothe, 2008).

Im Rahmen dieser Entwicklung erfolgte eine systematische und abgestimmte Gesamtpla-nung erstmals aufgrund eines ersten Aktionsprogramms der Bundesregierung zur Förderung der Rehabilitation der Behinderten im Jahre 1970 (Haines, 2009). Inhalt dieses Programms war es:

ƒ unabhängig von der Ursache der Erkrankung oder Behinderung den An-spruch auf Rehabilitation zu gewährleisten,

ƒ die Reha-Verfahren umfassend zu gestalten, sie nahtlos aneinanderzufügen und damit ein möglichst geschlossenes System der Rehabilitationseinrich-tungen zu schaffen,

ƒ die behinderten Menschen selbst einzubeziehen und zu regeln,

ƒ dass jeder, auch nicht Kranken- und Rentenversicherte Anspruch auf Reha-bilitation hat (Neumann, 2009).

Obwohl eine einheitliche gesetzliche Regelung zu dieser Zeit noch nicht in Sicht war, gab es erste Bestrebungen, die Rechte Behinderter und die Verfahrensweise, diese Rechte durch-zusetzen, zusammenzufassen. Zu betonen ist, dass bereits zu diesem Zeitpunkt die behin-derten Menschen selbst einbezogen werden sollten. Wie noch im Rahmen der Entwicklung des Neunten Sozialgesetzbuches zu erläutern ist, wird diese Vorstellung zu einem elementa-ren Grundsatz des neuen SGB IX und bezeugt einen Wandel im Umgang mit diesen Men-schen.

Am 01. Mai 1974 wurde das Schwerbeschädigtengesetz aufgehoben und durch das Ge-setz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (Schwerbehindertengesetz) vom 24. April 1974 (BGBl. I, S. 1005) ersetzt. Mit diesem Wech-sel wurde gleichzeitig die Bedeutung der Eingliederung behinderter Menschen auf den Ar-beitsmarkt betont (Kothe, 2008).

Komplementär vollzog sich ein erster begrifflicher Wechsel vom Schwerbeschädigten zum Schwerbehinderten. Dieses Gesetz stellte einen Meilenstein in der Behindertenpolitik dar, da hier erstmals die Ablösung des kausalen Begriffs der Schwerbeschädigten und die umfas-sende finale Orientierung an der Schwerbehinderung unabhängig von der jeweiligen Ursache erfolgte (Kohte, 2009). Erstmalig wurden neben Kriegsbeschädigten, Blinden und Körperbe-hinderten nun auch alle anderen BeKörperbe-hinderten in den gesetzlichen Schutz einbezogen, unab-hängig von der Ursache der Behinderung. Das Kausalitätsprinzip wich dem Finalitätsprinzip (Schimanski, 1999).

Erstmalig wurden Schwerbehinderte als Personen definiert, die körperlich, geistig oder psychisch bedingt, eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von wenigstens 50 % besaßen (Maaß, 2009). Alsdann wurden im Schwerbehindertengesetz die Rechte der Vertrauensleute der Schwerbehinderten gestärkt und die Kooperation mit den kollektivrechtlichen Institutio-nen, wie Betriebs- und Personalrat, normiert, wodurch das integrative Grundprinzip des Ge-setzes klar zum Ausdruck kam (Kohte, 2009).

Die Pflichten des Arbeitgebers wurden unter dem Titel: „Pflichten der Arbeitgeber gegen-über Schwerbehinderten“ in § 11 zusammengefasst, die weitgehend den bereits aus dem Jahre 1953 dargestellten Pflichten des § 12 entsprachen. Durch diese gesetzlichen Erneue-rungen wurden die Rechte der schwerbehinderten Menschen grundlegend verbessert und gestärkt. Bei einer außerordentlichen Kündigung eines Schwerbehinderten musste ab jetzt keine Kausalität mehr zwischen dem besonderen Kündigungsschutz aus dem Schwerbehin-dertenrecht und dem Grund der Kündigung vorliegen, das heißt, der Kündigungsgrund muss-te nicht mehr in einem unmitmuss-telbaren Zusammenhang mit der anerkannmuss-ten gesundheitlichen Schädigung stehen (Schimanski, 1999). Da nunmehr jede Kündigung eines Schwerbehinder-ten unter dem besonderen Kündigungsschutz des SchwerbehinderSchwerbehinder-tenrechts fiel, wurde der Kündigungsschutz auf diese Weise insgesamt wesentlich erweitert. Im Jahre 1979 erfolgte eine Neufassung des Schwerbehindertengesetzes, die jedoch zu keiner Veränderungen des

§ 11 hinsichtlich der Pflichten des Arbeitgebers gegenüber dem Gesetz aus dem Jahre 1974 führte (Großmann, 1999a).

Mit der Einführung des Ersten Sozialgesetzbuches (SGB I) im Juni 1975, das den allge-meinen Teil des einheitlichen Sozialgesetzbuches beinhaltet, wurde ein weiterer integrativer Grundsatz aufgestellt, der bis heute verbindlich ist und eine wesentliche Auslegungsmaxime für die Normen des gesamten Sozialgesetzbuches darstellt (Kohte, 2009). Dementsprechend wurde in § 10 SGB I normiert, dass allen Behinderten oder von Behinderung Bedrohten un-abhängig von der Ursache der Behinderung ein Recht auf notwendige Hilfen zuerkannt wird, um die Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu bessern oder ihre Folgen zu mildern. Vor allem galt es, diesem Personenkreis, einen ihren Neigungen und Fähigkeiten entsprechen-den Platz in der Gesellschaft, insbesondere im Arbeitsleben, zu sichern. Das Recht der Schwerbehinderten wurde folglich in das Sozialgesetzbuch eingeführt und damit auf eine neue Ebene gestellt.

Durch das Rehabilitations-Angleichungsgesetz vom 07. August 1974 (BGBl. I 1881) wurde erstmals der Versuch unternommen, rehabilitative Maßnahmen und Leistungen zu vereinheit-lichen (Seel, 2007). Inhalt dieses Gesetzes war neben der Angleichung der Rechtsvorschrif-ten der einzelnen Rehabilitationsträgergruppen eine Reihe allgemeiner, für alle Träger gel-tende Grundsätze.

Die wichtigsten Neuregelungen waren unter anderem:

ƒ einheitliche Sachleistungen für medizinische und berufliche Maßnahmen, einheitliche Ausrichtung der ergänzenden Leistungen,

ƒ einheitliche Ausrichtung und Dynamisierung des Übergangs- und Kranken-geldes,

ƒ einheitliche soziale Sicherung der Behinderten während der Maßnahmen zur Rehabilitation,

ƒ einheitliche Grundsätze für das Rehabilitationsverfahren,

ƒ Anspruch des Einzelnen auf Auskunft und Beratung durch die Rehabilitati-onsträger,

ƒ Gewährung vorläufiger Leistungen,

ƒ Einbeziehung der gesetzlichen Krankenversicherung in den Kreis der Reha-bilitationsträger und

ƒ die Verpflichtung der Ärzte zur Mitteilung über Behinderungen an die Kran-kenkassen (Neumann, 2009).

Das Gesetz zur Schaffung einer einheitlichen Regelung auf diesem Gebiet kann auch als Vorläufer des neuen SGB IX bezeichnet werden (Maaß, 2009).

Alle bisherigen Änderungen dienten der Vereinheitlichung, da aber die leistungsrechtlichen Regelungen lediglich Grundsätze darstellten und sich die Voraussetzungen, Art und Umfang der Leistungen der Rehabilitation im Einzelnen noch nach anderen besonderen Rechtsvor-schriften gem. § 9 Abs. 1 Rehabilitations-Angleichungsgesetz bestimmten (Seel, 2007), hatte das Gesetz so gut wie keinen Anwendungsbereich (Neumann, 2009) bzw. war dieses Vorha-ben nur langfristig zu realisieren (Kohte, 2009).

In der Folge trat die Zweite Verordnung zur Durchführung des Schwerbehindertengesetzes (SchwbAV) vom 08. August 1978 in Kraft, wodurch die Ausgleichsabgabe neu bestimmt und das Gesetz über die unentgeltliche Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Perso-nenverkehr am 09. Juli 1979 bekannt gegeben wurde (Schimanski, 1999). Zeitgleich wurden auch die heute noch bekannten „Schwerbehindertenausweise“ („Ausweis für Schwerbehin-derte“) eingeführt. Bis zum 20. Juni 1976 erhielten diejenigen, die nicht als kriegsbeschädigt, blind oder körperbehindert galten, lediglich eine Bescheinigung über ihre Schwerbehinder-teneigenschaft.

2. 1. 5 Zur Entwicklung in den 1980er Jahren

Im Jahre 1980 forderte die Bundesregierung mit dem „Aktionsprogramm Rehabilitation in den 80er Jahren“ und auch der Deutsche Bundestag im Rahmen der Verabschiedung des Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes die Schaffung eines umfassenden und einheitlichen Behindertengesetzes (Seel, 2007).

Die Bundesregierung kündigte daraufhin im Jahre 1984 in ihren Berichten über die Lage

der Behinderten und über die Entwicklung der Rehabilitation die Schaffung eines einheitli-chen und übersichtlieinheitli-chen Gesetzes zur Eingliederung Behinderter an (Seel, 2007). Zu diesem Zeitpunkt war ein breiter politischer Konsens entstanden, eine vereinheitlichte gesetzliche Grundlage auf den Weg zu bringen.

In einer Regierungserklärung vom 04. Mai 1983 betonte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl, dass gerade in schwierigen wirtschaftlichen und finanziellen Zeiten es eine be-sondere Verpflichtung wäre, für die Eingliederung aller Bürger in Beruf und Gesellschaft zu sorgen (Großmann, 1999a). Am 26. August 1986 wurde das Schwerbehindertengesetz in

In einer Regierungserklärung vom 04. Mai 1983 betonte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl, dass gerade in schwierigen wirtschaftlichen und finanziellen Zeiten es eine be-sondere Verpflichtung wäre, für die Eingliederung aller Bürger in Beruf und Gesellschaft zu sorgen (Großmann, 1999a). Am 26. August 1986 wurde das Schwerbehindertengesetz in