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Es stellt sich die Frage, ob der Verwaltungsgerichtshof auch nach dem Erkenntnis VfSlg 19.632 weiterhin behauptete Verletzungen der GRC aufgreift. Dies ist mit Blick auf die Judikatur des VwGH zu bejahen. Aus den vielen Beispielen hierzu sollen exemplarisch einige erwähnt werden, in denen der Verwaltungsgerichtshof besonders deutlich ausspricht, dass ihm die Kompetenz für die Behandlung derartiger Beschwerden nicht entzogen sei.

Keine verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte

In einem Erkenntnis199 aus dem Jahr 2013 sprach der VwGH aus, dass ihm die Zuständigkeit fehle, behauptete Verletzungen in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten aufzugreifen. Das Vorbringen, es sei die GRC verletzt worden, wird jedoch inhaltlich überprüft. Somit kann daraus geschlossen werden, dass es sich nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes bei subjektiven Rechten, die in der GRC garantiert werden, nicht um verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte handle.

Verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte, jedoch Inanspruchnahme der Zuständigkeit

Es soll auf ein Erkenntnis200 aus dem Jahr 2017 verwiesen werden, in dem der Verwaltungsgerichtshof diese Auffassung relativiert. Die Revisionswerberin hatte versucht, gegen ein Erkenntnis des BFG201 sowohl mittels Erkenntnisbeschwerde sowie in weiterer Folge mittels Revision vorzugehen. Sie machte geltend, eine gegen sie angewandte Norm verstoße gegen Art 47 GRC. Der Verwaltungsgerichtshof sprach nun aus, dass durch die Verletzung im Recht gemäß Art 47 GRC die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet wurde. Es falle in die Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes, derartige Beschwerden aufzugreifen. Dieser habe die Erkenntnisbeschwerde abgelehnt. Diese Feststellung hatte nun nicht

199 VwSlg 18.757 A.

200 VwGH 27.6.2017, Ra 2015/13/0005, insbesondere Rz 15.

201 BFG 28.8.2014, GZ RV/7102280/2013

zur Folge, dass der VwGH gemäß Art 133 Abs 5 B-VG die Auffassung vertrat, er sei für die Behandlung einer derartigen Beschwerde nicht zuständig. Vielmehr führt der Verwaltungsgerichtshof aus, dass die Revisionswerberin „keine neuen Argumente dafür vorgebracht [habe], weshalb § 323 Abs 29 BAO gegen Art 47 GRC verstoßen solle“202. Die Revision war daher in diesem Punkt nicht auf Grund mangelnder Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes erfolglos, sondern weil sie unbegründet war.

Begründung der Zuständigkeit

Darüber hinaus ist ein Erkenntnis203 aus dem Jahr 2013 erwähnenswert. In diesem, als

„richtungsweisende Entscheidung“204 bezeichneten Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes, erläutert dieser, weshalb dennoch ihm die Verpflichtung zukomme, über dargelegte Verletzungen der GRC abzusprechen. Im vorliegenden Fall wurde dem Beschwerdeführer die Ladung zur mündlichen Verhandlung nicht wirksam zugestellt205. Daher machte dieser, neben anderen Vorbringen, auch die Verletzung des Rechts auf mündliche Verhandlung geltend.

Der Verwaltungsgerichtshof verweist zwar auf das VfSlg 19.632,206 dies aber nur, um die Verbindung zwischen der GRC und der EMRK darzustellen. Der VfGH betont in diesem Erkenntnis durch die Wortfolge, dass „Beschwerdesachen, in denen eine Verletzung von verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet wird, von der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofs ausgeschlossen [sind]“207. In Anbetracht dessen, dass der VfGH in weiterer Folge die Zuständigkeit für die Prüfung dieser Beschwerde in Anspruch nimmt, kann dieser Hinweis dahingehend verstanden werden, dass er dem Verwaltungsgerichtshof die Zuständigkeit abspricht, behauptete Verletzungen der GRC aufzugreifen. Hierauf geht der VwGH nicht ein.

In einem Absatz legt der VwGH dar, weshalb ihm die Kompetenz zur Entscheidung über derartige Revisionen zukomme. Dort verweist der Verwaltungsgerichtshof auf das Unionsrecht. Es sei geboten, dass jedes Organ eines Mitgliedstaates zur Wahrung der Grundrechte der GRC berufen sei.208 Diese Pflicht trifft auch den Verwaltungsgerichtshof. Begründet wird diese Position mit

202 VwGH 27.6.2017, Ra 2015/13/0005, Rz 15 S 2.

203 VwSlg 8.780 F.

204 Schoditsch, ecolex 2013 486 (488).

205 VwSlg 8.780 F, Rz 1 206 VwSlg 8.780 F, Rz 2.4.

207 VfSlg 19.632, Rz II, 5.5 S 2.

208 VwSlg 8.780 F, Rz 2.3.

einem Verweis auf Rn 43 der Rs Melki/Abdeli.

Es soll nun angenommen werden, diese Auffassung treffe zu. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts besagt, dass „keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen“209. Aus der Judikatur des EuGH210 lässt sich ableiten, dass dieser Anwendungsvorrang auch gegenüber nationalem Verfassungsrecht zu beachten ist.

Daraus folgt, dass auch österreichisches Verfassungsrecht durch den Anwendungsvorrang verdrängt wird. Die dargestellte Verpflichtung verdrängt somit Art 133 Abs 5 B-VG. Dieses Ergebnis wäre durch die Judikatur des VfGH211 zum Anwendungsvorrang geboten.

Somit gibt es keine innerstaatliche Bestimmung mehr, die anwendbar wäre, welche die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes zur Prüfung von Beschwerden, welche die Verletzung von in der Grundrechte-Charta garantierten subjektiven Rechten behaupten, ausschließen würde.

Daraus folgt, dass der Verwaltungsgerichtshof für derartige Beschwerden zuständig ist.

Dies trifft jedoch nur zu, wenn die Argumentation des Verwalungsgerichtshofes zutreffend ist. Im folgenden sollen nun die daraus eventuell resultierenden Folgen behandelt sowie eine kritische Betrachtung der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes vorgenommen werden.

Beide Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts nehmen somit die Zuständigkeit in Anspruch, über eine behauptete Verletzung von subjektiven Rechten, die in der GRC garantiert werden, abzusprechen.

Es soll hier nun, nachdem auf einige künftig zu erwartende Schwierigkeiten hingewiesen wird, ein Lösungsvorschlag behandelt werden.

Kritische Auseinandersetzung mit der Argumentation des VwGH

Befasst man sich näher mit der Auffassung des VwGH, stellt man fest, dass es einige Argumente gibt, die gegen die Begründung des Verwaltungsgerichtshofes sprechen. Diese sollen hier dargelegt werden.

Der VwGH führt im wesentlichen aus, dass es durch den unionsrechtlich geboteten Anwendungsvorrang erforderlich sei, Unionsrecht vor innerstaatlichem Recht anzuwenden.

209 EuGH 15.7.1964, Rs 6/64, Rn 12.

210 So z.B.EuGH 2.7.1996, Rs C-473/93, EuGH 20.5.2003, Rs C-465/00.

211 Vgl VfSlg 15.427/1999, Rz III, 1. lit a Abs 6: Es wurde festgestellt, dass eine die Zuständigkeit des VwGH ausschließende Verfassungsbestimmung auf Grund des Anwendungsvorranges des Unionsrechts als verdrängt zu betrachten ist.

Begründet wurde dies mit einem Verweis auf die Rn 43 der Rs Melki/Abdeli.212 Doch selbst die dort aufgestellten Ausführungen des Europäischen Gerichtshof führen nicht dazu, dass die Auffassung des VwGH als zweifelsfrei zutreffend angesehen werden könnte. Der EuGH spricht mit einem Hinweis auf seine bisherige Judikatur aus, dass ein Organ eines Mitgliedstaates „im Rahmen seiner Zuständigkeit“ zur vorrangigen Anwendung des Rechts der Union verpflichtet sei.213 Es ist somit zu prüfen, ob die innerstaatliche Verteilung der Zuständigkeiten durch die Verpflichtung zur vorrangigen Anwendbarkeit des Unionsrechts verändert werden kann.

Der VfGH hatte sich bereits in einem Judikat aus dem Jahr 1996214 damit auseinander zu setzen, dass Organe eines Mitgliedstaates innerhalb ihrer Zuständigkeit Gemeinschaftsrecht vor entgegenstehendem innerstaatlichen Recht anzuwenden haben und diesem so zum Durchbruch verhelfen müssen, um dessen Wirksamkeit sicher zu stellen. In dieser Angelegenheit war beispielsweise die Frage zu klären, ob eine im nationalen Recht durch verspätete Umsetzung einer Richtlinie215 nicht bestehende Zuständigkeit unmittelbar aus dieser Richtlinie, allgemeiner aus dem Gemeinschaftsrecht, abgeleitet werden könne.

Im vorliegenden Fall hätte einer Rechtsschutzeinrichtung die Zuständigkeit übertragen werden müssen, über Beschwerden zu entscheiden. Dies ist jedoch nicht geschehen. Die bereits bestehenden Aufgaben des Bundesvergabeamtes kamen dem jedoch sehr nahe. Daher nahm dieses Organ die Zuständigkeit für die Behandlung derartiger Beschwerden in Anspruch, indem es diese Kompetenz unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht abgeleitet hatte. Es war nun fraglich, ob die aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsende Pflicht jedes Organs, im Rahmen seiner Zuständigkeit vorrangig Unionsrecht vor entgegenstehendem nationalen Recht anzuwenden, zur Folge haben konnte, dass neue Zuständigkeiten begründet werden. Das Bundesvergabeamt führte aus, dass die Wortfolge "im Rahmen ihrer Zuständigkeit" nicht dahingehend auszulegen sei, dass das innerstaatliche Recht bereits die Zuständigkeit des jeweiligen Organs genau festgelegt haben müsse.

In einem solchen Fall sei das Gemeinschaftsrecht nämlich bereits richtig umgesetzt, weshalb die vorrangige Anwendung von Gemeinschaftsrecht nicht mehr notwendig sei. Man müsse dieses Erfordernis dahingehend auslegen, dass unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht die Zuständigkeit jenes Organ eines Mitgliedstaates entstehe, dessen bereits im innerstaatlichen Recht festgelegte Zuständigkeit der gefragten in sachlicher als auch in örtlicher Hinsicht am nächsten komme. Durch das Gemeinschaftsrecht könne sohin eine neue Zuständigkeit begründet werden. Der VfGH hielt

212 VwSlg 8.780 F, Rz 2.3.

213 EuGH 22.6.2010, Rs C-188/10 & C-189/10, Rn 43.

214 VfSlg 14.607.

215 Vgl hierzu die Ausführungen in den Schlussanträgen vom 2.4.1998 des Generalanwalts Fennelly in der vergleichbaren Rs C-76/97, Rn 22: sowie EuGH 24.9.1998, Rs C-76/97, Rn 24.

fest, dass die Begründung einer neuen Zuständigkeit grundsätzlich eine Aufgabe des Gesetzgebers sei, welche vom BVA hier vorweggenommen werde. Die geschilderte Auffassung des Bundesvergabeamtes sei zwar möglich, jedoch keineswegs zwingend geboten, weshalb der EuGH im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens hätte angerufen werden müssen. 216

Das Bundesvergabeamt hat in einem vergleichbaren Verfahren ein Vorabentscheidungsgesuch an den EuGH217 gerichtet. Der EuGH führte unter dem Hinweis auf eine andere Rechtssache218 aus, dass es die Aufgabe der Mitgliedstaaten sei, im Zuge der Umsetzung des Unionsrechts geeignete Organe mit der Zuständigkeit zur Vollziehung des Unionsrechts zu betrauen. Unmittelbar aus dem Unionsrecht selbst könne keine im innerstaatlichen Recht nicht bestehende Zuständigkeit entstehen.219

Ergebnis

Die Auffassung des EuGH lässt sich folgendermaßen abstrahieren: Selbst wenn das innerstaatliche Recht kein Organ vorsieht, dem die Vollziehung von Unionsrecht zukommt, kann nicht unmittelbar aus dem Unionsrecht die Zuständigkeit eines innerstaatlichen Organs erwachsen. Somit kann auch nicht aus der Verpflichtung zur vorrangigen Anwendung von Unionsrecht vor entgegenstehendem nationalen Recht, eine innerstaatliche Zuständigkeit neu begründet werden. Diese Schlussfolgerung aus der Rs C-76/97 des EuGH muss umso mehr dann gelten, wenn das innerstaatliche Recht bereits ein Organ zur Vollziehung von Unionsrecht vorsieht. Da nach innerstaatlichem Recht die Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes gegeben ist, Beschwerden aufzugreifen, welche die Verletzung von in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierten Rechten zum Inhalt haben, kann die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes nicht unmittelbar aus dem Unionsrecht, das vor entgegenstehendem nationalen Recht anzuwenden wäre, folgen. Art 133 Abs 5 B-VG wird nicht durch das Unionsrecht verdrängt, weshalb dem Verwaltungsgerichtshof die Zuständigkeit für die Behandlung derartiger Beschwerden entzogen ist.

216 VfSlg 14.607.

217 EuGH 24.9.1998, Rs C-76/97.

218 EuGH 17.9.1997, C-54/96.

219 EuGH 24.9.1998, Rs C-76/97, Rn 21-28, insbesondere Rn 22.