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2 . 1 Begriffserklärungen

Im Dokument Muslime in Europa (Seite 24-38)

2 . 1 .1 Sarfa und fiqh

Der Begriff der sarf a wird heutzutage mit unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Einerseits wird er oft mit islamischem Recht gleichgesetzt , ande¬

rerseits verstehen ihn andere in seiner ursprünglichen Bedeutung, dem Weg zum Wasser " als Weg zu Gott.Im letzteren Sinne beinhaltet er eine von Gott gegebene normative Ordnung (göttliche Nonnen), an welche sich der Gläubi¬

ge zu halten hat, wenn sein Ziel das Paradies ist.34 Mit der Ableitung dieser fundamentalen , dogmatischen Nonnen aus den Quellen Koran und sunna

(Biographie des Propheten ) beschäftigt sich die Theologie , während die Rechtswissenschaft davon abgeleitet die lebenspraktischen Nonnen erstellt . Die Jurisprudenz ist im Islam eigentlich angewandte Theologie. Es wird somit deutlich ,dass Theologie und Recht eng miteinander verbunden sind.35

Fiqh bedeutete in seinem ursprünglichen Sinn ganz allgemein die Einsicht in die Religion und wurde anfangs für die Theologie und die Rechtswissen¬

schaftbenutzt . Die zunehmende Trennung in zwei Sachgebiete führte schlie߬

lichdazu, dasser nur noch inBezug auf die Jurisprudenz verwendet wird. 36 Er beschreibt den Versuch des Menschen , die göttliche Ordnung zu verstehen unddie Frage zu beantworten, wiedie Bestimmungen der sarfa (im Sinne der normativen Ordnung ) auf die Handlungen des Menschen anzuwenden seien. Die Grundlage des göttlichen Rechts bilden der Koran und die sunna , sowie igmdf (Konsensus ) und qiyäs (Analogieschluss ). Von den tausenden ahädit

( PI .vonhadit , die Überlieferang der normsetzenden Worte und Taten des Pro¬

pheten ), die überliefert worden waren , wurden im Laufe der Zeit inden hadit -Wissenschaften sechs Bücher zusammengestellt , die von allen Sunniten als wahr angesehen werden .37

34 Moten1996 : 46 , 49 - 50 ;Nagel 2001 : 4 ,13 35 Nagel2001 : 8 -9

36 Ebda. :8

37 Juynboll1969: 7 ;Nagel 2001 :161

Die sarTa als islamisches Recht beinhaltet eine spirituelle und ethische Ebene (Morallehre), wie auch eineprofane ,praktische ( z .B .gottesdienstliche Handlungen, Familien - und Zivilrecht ) . Fiqh in Bezug auf das Recht bezieht sich aufdie zweite Ebene .38

Fiqh istdaher systematisches Denken , welches eine Ordnung praxisbezoge¬

ner Normativität schafft . Durch igtihäd, die selbstständige Rechtsfindung un¬

ter Anwendung der vier Grundlagen, wird fiqh betrieben.Diese Methodik ist das Produkt des folgenden Prozesses.Die Worte und Taten des Propheten Mu¬

hammad (seine sunna ), die einen Teil der göttlichen Bestimmung darstellen , waren von seinen Begleitern und Nachfolgern inForm von Anekdoten festge¬

halten worden (hadit). Diese waren von Generation zu Generation tradiert worden und hatten damit Diskussionen und schließlich systematisches juristi¬

sches Denken (fiqh ) ausgelöst . Zwei zentrale hermeneutische Prinzipien be¬

stimmen die Entwicklung des Rechts . Das synchronische Prinzip , das vor¬

schreibt , dass jedes formulierte Gesetz zujeder Zeit durch Referenz aufdie of¬

fenbarten Texte (Koran und hadit) gerechtfertigt werden kann . Das zweite , diachronische Prinzip verlangt von den fuqaha (jenen, die fiqh betreiben ) ständigen Einbezug der Interpretationen von vorherigen anerkannten Gelehr¬

ten ihrer juristischen Schule, wobei seit Ende des 18 . Jahrhunderts nun ver¬

mehrt das synchronische Prinzip Vorrang hat.39Dies ist wichtig in Bezug auf mögliche Reformen im Islam, dadas diachronische Prinzip weniger Spielraum für neue Interpretationen zulässt .Es istweiter wichtig ,zu betonen , dass das is¬

lamische Recht zwar einerseits auf dem Koran basiert , zu einem großen Teil aber in seinen detaillierten Ausführungen auf den igtihäd einzelner Gelehrten zurückzuführen ist . Aus diesem Grundkann fiqh keine zeitlich unbeschränkte Gültigkeit für sichinAnspruch nehmen .40

Aufgrund unterschiedlicher Standpunkte hinsichtlich des Verhältnisses zwi¬

schen Koran und sunna , individuell unterschiedlicher Wissensstände über die Biographie des Propheten , eingeschränkten Informationsaustauschs zwischen den verschiedenen Stämmen und verschiedenen sozialen Lebensumständen 38 Masud2001:2

39 Esposito1995:Vol. II . S .450-451;Yolcu 2004 40 Krämer1992: 220 -221

entwickelten sich seit der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts unterschied¬

liche hermeneutische Methoden.Daraus ergaben sich viele verschiedene Lehr¬

meinungen , wovon sich schließlich vier Rechtsschulen {madähib ) durchge¬

setzt haben :41 die hanbalitische , malikitische , schafiitische und hanafitische Schule .42 Diese madähib hatten sich aus lokalen Juristenzirkeln entwickelt und akzeptieren sich alle gegenseitig , da sie sich alle auf dieselbe Grundlage der Rechtserkenntnis berufen .Neben diesen vier sunnitischen Schulen anerkennt die al -Azhar43Universität in Kairo auch noch die schiitischen Jafariten. Die vier sunnitischen Rechtsschulen unterscheiden sich nicht hinsichtlich ihrer re¬

ligiösen Fundamente , sondern in Bezug auf die Rechtssprechung im prakti¬

schen religiösen Leben (wie z . B . in der Art und Weise der Gebetsausübung , Volljährigkeit,Scheidung ) .Sie unterscheiden sich folglich nicht nurin Neben¬

sächlichkeiten, sondern auch bezüglich Fragen , die für den Alltag eines Mus¬

lims wichtig sind .44

Die Zugehörigkeit eines Muslims zu einer der vier Schulen ist in Fragen der Religionsausübung immer noch von nicht geringer Bedeutung,auch wenn die madähib nicht mehr dieselbe überragende Stellung besitzen wie im Mittelal¬

ter .45Darauf istzum Beispiel der ideologische Einfiuss der konservativen han

-41 Elger2001: 257 -258;Nagel2001:6

42 Aus historischen Gründensind dieHanafitenvor allem inder Türkei,Syrien ,Irak und Ägyptenverbreitet ,währenddessendieMalikitenin Nordafrikadominieren .Im Je¬

men,am Horn von Afrika undin Südostasien herrschtdieschafiitischeSchule vor ,

und in Saudi Arabien,den Golfstaatenund teilweiseSyrien und Jordanienfinden sich

dieHanbaliten(Müller 2001 : 260 ).

43 Dieal -Azhar Universitätin Kairo ist die älteste Universität(971n .Chr.)der Welt und rührende Institutionfür den sunnitischenIslam .Der Imam dieser Universität(zurzeit: MohammedSayed Tantawi)genießtim sunnitischenIslam sehr hohe religiöseAutori¬

tät . (Online im Internet:www .azhar .eun.eg ( 12 . 11 .2004 ) ;Steinvorth/Wiedemann

2005 ;Zakariya1992: 242 )

44 Als Beispielsei hier angeführt ,dass alle Schulen darin übereinstimmen ,dassein

Mann durch Verstoßenseiner Frau eine Ehe auflösenkann .Es herrschtaber Mei¬

nungsverschiedenheitdarüber,wann dieser Schritt getan werdendarf (Nagel 2001 :

251 - 252 , 286 ).

45 Elger 2001 : 259 -260;Esposito2003 : 154 ;ausführlicher :Coulson1994: 36 -61

balitischen Schule Saudiarabiens mit ihrer wahhabitischen Prägung 46auf Mo¬

scheen und Imame inEuropa zurückzuführen.47

Vom zehnten bis beinahe zum zwanzigsten Jahrhundert war das islamische Recht wenig weiterentwickelt worden , da die Gelehrten der Ansicht waren , dass die Beantwortung aller grundlegenden Rechtsfragen abgeschlossen war

( „das Tor" des igtihäd wargeschlossen" ) .48Trotzdem wurde es bisheute , im Gegensatz zuanderen religiösen Rechtsgebungen ,nie kanonisiert,was die An¬

passung an Veränderungen erleichtern könnte . Seine Prinzipien und Normen sind zwar unantastbar,aber die daraus abgeleiteten Gesetze müssen oder kön¬

nen den gegebenen Umständen angepasst werden .49Aufgrund dieser jahrhun¬

dertelangen Phase des Stillstandes im islamischen Recht wird klar ,dass es auf der einen Seite von vielen Muslimen als beinahe unantastbar angesehen wird. Auf der anderen Seite liegtes in der Methodik des fiqh, dass Anpassungen der Gesetze an neue Situationen möglich ,wenn nicht sogar zwingend sind .

In der folgenden Diskussion ist es nun wichtig , dass darauf geachtet wird, auf welche Ebene, die theologische oder juristische,sichder jeweilig Gelehrte bezieht , wenn von Reformierung oder Neu-Interpretation der sarfa oder ei¬

nemneuen fiqh die Rede ist.

2. 1 .2 Fatwä

Entgegen der weit verbreiteten Meinung im Westen , dass eine fatwä ( pl . fatäwä ) ein verbindlicher Befehl an alle Muslime darstelle , ist sie ein Rechts¬

gutachten , in dem ein mufti Antwort auf ein spezifisches Problem unter Be¬

rücksichtigung des islamischen Rechts gibt , d . h . der mufti verfasst gemäß den Regeln vonfiqh eine Antwort auf die Frage eines Gläubigen.Einefatwä bildet somit die Verbindung zwischen dem fiqh und dem praktischen Leben eines Muslims .

46 al -Yassini1998: 308 ; el Fadl 2002 : 9 - 10 ;Schulze1992: 119 -120

47 U .a .Esposito2003 :327 (im Falle der Union des Organisations Islamiqaesde Fran¬

ce ) ;Kepel1994: 195 -197 (zum Einfluss Saudiarabiensin der Rushdie-Affäre )

48 Coulson1994:202;Krämer1992:220

49 Krämer 1992:221,224;Ramadan1996: 40 ;Tibi 1992:153

Fatäwä werden unabhängig vom Rechtssystem erstellt , d .h. nicht im Zu¬

sammenhang mit einem spezifischen Gerichtsfall . Sie unterscheiden sich da¬

her von einem Gerichtsurteil, weil sie erstens nicht bindend sind und oft einen größeren Bereich umfassen (die Frage nach Verhaltensregeln beim Gebet fal¬

len z . B .nicht inden Kompetenzbereich des islamischen Gerichts ) . Der Frage¬

steller ist demnach nicht verpflichtet , sich an die fatwä zu halten , sondern kann sich auch zwecks eines neuen Gutachtens an einen anderen Gelehrten wenden .50Die Bedeutung eines solchen Gutachtens ist abhängig von der Au¬

torität und dem Wissen des Verfassers.Allein dieTatsache , dass jemand gebe¬

ten wird, eine fatwä zu sprechen , zeugt schon von einem gewissen Maß an Autorität. Berühmtestes Beispiel ist wohl die fatwä Khomeinis gegen Salman Rushdie 1989 .Aufgrund der hohen Stellung Khomeinis fand sein Aufruf vor allem unter den schiitischen Muslimen eine solch große Beachtung .

Heutzutage werden diese Gutachten in Zeitungen und oftmals auch im In¬

ternet als praktische Lebenshilfe veröffentlicht. Manchmal, wenn die Proble¬

matik einen neuen Bereich betrifft ,werden sie auch in das islamische Recht eingebunden,womit sich dieses stetig erweitert.51

Da nun Muslime in Europa nicht dem islamischen, sondern dem positiven Recht unterstehen , bilden solche fatäwä ein einfaches Mittel , um Antworten auf praktische Probleme zu erhalten und damit schneller auf externe wie auch interne Veränderungen im politischen , sozialen und ökonomischen Bereich reagieren zukönnen . Zudem widerspiegeln sich darin dieÄngste , Sorgen und Probleme, die die muslimische Gesellschaft beschäftigen.52Aus diesen Grün¬

den zieht die vorliegende Arbeit vorwiegend fatäwä als Quellen in die Analy¬

semitein.

Mit der Verbreitung des Internets findet man vermehrt das Angebot so ge¬

nannter or\ \ mQ-fatwä, wobei der Gelehrte entweder per E -Mail angefragt wer¬

den kann oder auch live Fragen beantwortet. Dadurch ergibt sich eine starke Vernetzung von europäischen Muslimen und muslimischen Gelehrten , die 50 Martin 2004 :225

51 Coulson1994: 142 - 143 ;Elger 2001 : 95 ;Esposito1995:Vol. II . S . 13 - 15 ;Esposito

2003 :85

52 Nagel2001 : 140 ,142

nicht in Europa leben. Die meisten anerkannten Theologen und Rechtsgelehr¬

ten unterhalten inder heutigen Zeit entweder eine eigene Website oder zumin¬

dest eineE -Mail-Adresse ,an die man Anfragen richtenkann .53

2 . 1 .3 Konzept des dar al -Isläm und där al-harb

In der klassischen islamischen Jurisprudenz wurde die Welt anfangs in zwei Regionen eingeteilt: där al -lsläm (Gebiet des Islam) und dar al-harb (Gebiet des Krieges ). Där al -Isläm beinhaltete jene Gebiete , in denen die Prinzipien des Islam unter muslimischer Herrschaft eingehalten wurden . Im Gegensatz dazu stand där al-harb , wo Nichtmuslime herrschten und Muslime im Kon¬

flikt mit den Herrschenden standen .Ziel war dazumal die Einverleibung sol¬

cher Gebiete ins där al-Isläm . Ein Muslim , der im där al-harb wohnte , war verpflichtet , ins där al -Isläm zu emigrieren . Sollte ihm dies nicht möglich

sein , weil er keine Mittel zur Emigration besaß, so war sein rechtlicher Status jener eines mustadcaf (unterdrückt, schwach ) . Zentral war der Punkt,dass ein Gläubiger seine Religion frei ausüben konnte ,egal in welchem Gebiet er sich befand .54Die Schafiiten hatten dieser Dichotomie noch eine dritte Klassifika¬

tion hinzugefügt , där al- ahd (Gebiet des Vertrages ) oder auch där as-sulh

(Gebiet der Versöhnung) genannt . Die Hanafiten akzeptierten diese dritte Ka¬

tegorie allerdingsnicht, da der Vertrag ihrer Meinung nach das Gebiet des där al-harb automatisch zueinem Teil des där al -Isläm machte .55

Mit der Kolonialisierung im 18 .und 19 . Jahrhundert gelangten nun islami¬

sche Gebiete unter nichtmuslimische Herrschaft,was die Rechtsgelehrten vor eine neue Situation stellte. Die Meinungen der Gelehrten bezüglich des Status der kolonialisierten Gebiete gingen jedoch auseinander. Während die einen die Ausübung der higra ( d . h. Rückkehr in das Gebiet des Islam) befürworteten ,

53 Z .B .Yusuf al -Qaradawi:www.qaradawi.net(Arabisch)und teilweiseauch auf

www.islamonline .net(Englisch) ;FaysalMawlawi :www.mawlawi .net(Arabisch) ;Ali

as -Sistani:www.najaf. org ;Sayyed Fadlallah :arabic.bayynat. org .lb

54 Esposito2003 : 62 - 63 ;Mandaville2001:136 ;Martin2004:169 - 170 ;Masud1989:

118 - 119 .Vgl.dazu auch Kapitel2 . 2 .2

55 Khadduri/Shaybani1966 :11 - 12 ;Lewis1991 :136

fanden andere Wege , um den Gläubigen das Leben unter nichtmuslimischer Herrschaft unter bestimmten Bedingungen zu erlauben .56

Inzwischen gilt dieses Konzept zwar mehrheitlich als überholt , es wurde aber bis heute von den culama (Gemeinschaft der muslimischen Gelehrten ) nicht widerrufen.Deswegen gibt es noch heute muslimische Theologen, vor¬

wiegend Vertreter traditioneller oder gar extremistischer Bewegungen , die es als Basis ihrer Argumentation bezüglich der Thematik um Islam und den Wes¬

ten verwenden. Zudem wird das Denken mancher Muslime immer noch stark von diesem Gegensatz zwischen Muslimen und Nichtmuslimen dominiert.57

2 .2 Historische Entwicklung

2 . 2 .1 Bezugspunkt Reformislam des 19 . und 20 . Jahrhunderts

Erste Anregungen für eine innere Erneuerung und Anpassung des Islaman die Moderne entstanden in Indien und Ägypten . Die politische , wirtschaftliche und technische Überlegenheit der europäischen Mächte im 18. und 19 . Jahr¬

hundert hatte die muslimische Gemeinschaft in eine Krise gestürzt .In Anbe¬

tracht der kolonialen Verhältnisse in fast allen ehemals muslimischen Gebie¬

ten befürworteten daher viele Gelehrte eine Rückwendung zu den Quellen und ihrer Re-Interpretation,um sich ihrer Wurzeln wieder bewusst zu werden .Im Folgenden werden drei zentrale Persönlichkeiten dieser Reformströmung kurz dargestellt, umdie verschiedenen Richtungen dieser Bewegung aufzuzeigen .

Der Inder Sayyid Ahmad Khan (1817 -1898 ) gründete in dieser Bewegung einen der ersten säkularen Denkansätze im Islam. Er befürwortete eine kon¬

struktive Zusammenarbeit zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in all je¬

nen Gebieten , wo Religionsfreiheit herrschte . Sein Denken war stark von der europäischen Philosophie des 19 .Jahrhunderts geprägt ,weshalb die Vernunft bei ihm auch eine zentrale Rolle spielt. Er schuf schlussendlich eine Form des Islam ,welche auf einer kritiklosen Übernahme westlichen Denkens gründete . Aufgrund der intensiven Missionierung der englischen Kirchen und derBeein

-56 Mandaville2001 : 136 - 137 ;Shadid /vanKoningsveld 1996: 88 -91 57 Mandaville2001 : 137 - 138 ; El -Manssoury1989:72

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flussung durch westliches Denken entwickelte sich daraus ein indischer Islam, der eine stark moderne und liberale Richtung angenommen hatte.58

Jamal al -Din al -Afghani (1838 -1897 ),ein iranischer Intellektueller und po¬

litischer Aktivist , entwickelte und propagierte ein Konzept des islamischen Widerstandes gegen den Kolonialismus. Er war der Meinung , dass die euro¬

päischen Tugenden und Werte auch im Islam zu finden seien ,und der Islam daher durch einen Rückgang zu den Quellen von seiner damaligen Verdorben¬

heit gereinigt werden könne .Blinde Anpassung an Europa lehnte er strikt ab, argumentierte aber , dass lediglich eine gezielte Übernahme von technischem und wissenschaftlichem Wissen erlaubt sei , da sich der Islam auf diese Weise das wieder zurückhole, was Europa vor ein paar hundert Jahren von den Mus¬

limen übernommen habe .Eine Wiedervereinigung der Religion mit den Wis¬

senschaften stellte füral -Afghani den Schlüssel zum politischen Erfolg dar.59 Einer seiner Nachfolger war der Ägypter Mohammed Abduh (1849 -1905 ). Er übernahm die Vorstellung al -Afghanis, dass die damalige von Ungläubigen beherrschte umma60sich wieder auf ihre Wurzeln besinnen und ihr politisches 58 Balic1996:593;Peters1996:109

59 Black 2001 :303;Peters1996:118

60 DasKonzeptder umma spielt je nach VerständnisinHinsichtauf die Idee des Natio¬

nalstaateseine nicht unwichtigeRolle .Umma wird meistensalsmuslimischeGe¬

meinschaft" übersetztundbeziehtsich vorwiegendauf die Einheit derMuslimetrotz

ihrerunterschiedlichen kulturellenund ethnischen Hintergründe(Esposito 2003 : 327 ).

In juristischer Hinsicht beschreibtder Begriffumma eine nicht-territoriale ,spirituelle

Gemeinschaft ,welchesich durch ihren gemeinsamen Glaubenauszeichnet .Auf dieser EinteilungderMenschenin Gläubigeder umma undUngläubigebasiert auch dashier vorgestellte Konzeptdes dar al -Isläm.DieMitgliedschaftin dieser Gemeinschaft

kann als eine ArtBürgerschaft "angesehenwerden,welche Gleichheitunter allen Gläubigengarantiert .Dieses Konzept beinhaltet sowohl religiösewie auch politische

und soziale Aspekte.DieKonsequenzendavon trugen zu einer Abgrenzungderreligi¬

ösen Pflichten eines Individuumszu denen der umma ,welchealleMuslimezusam¬

menzu erfüllen haben, bei .Daraus ergebensich drei Arten von Verantwortung :die individuelleVerantwortung ,dieVerantwortungzum Zusammenhaltder ummaund

diegemeinsame Verantwortungals umma (Dallal 1995: 268 - 269 ).

Das Konzept der umma ist fürMuslimezwar in Bezug auf ihre religiösen Pflichten

undVerpflichtungenden Mitgläubigen gegenüberrelevant,doch hinsichtlichder poli¬

tischen Partizipation begegnensie im Alltag denselben Problemenwie ihrenichtmus¬

limischen Mitbürger(Khan 2002 : 9 - 10 ).

Schicksal selber in die Hand nehmen müsse .Sein Aufruf zum erneuten Lesen der Quellen und die Betonung der bedeutenden Rolle der Vernunft bei der In¬

terpretation des Korans machten ihn zu einer zentralen Persönlichkeit des Re¬

formislam. Er unterschied dabei klar zwischen jenen Gesetzen und Regeln ,die von Gott offenbart worden waren , undjenen , die ein Produkt des menschli¬

chen igtihäd darstellten.61Heute ist der französisch-algerische Denker Mo¬

hammed Arkoun eine der führenden Personen nicht nur in Europa , der diese Vorgehensweise wieder aufgenommen und weitergetrieben hat , indem er dar¬

aus abgeleitet eine radikale Rekonstruktion von Geist und Gesellschaft im Is¬

lamfordert .62

Abduh sahes als seine Pflicht an, dieSpaltung , die sich zwischen den tradi¬

tionell ausgebildeten Muslimen und jenen ,die nun vermehrt eine europäische Ausbildung genossen , aufgetan und sich aufgrund des Kolonialismus zuse¬

hends vertieft hatte , zu überbrücken. Um diese Einheit zu erreichen, versuchte er eine Form des Islam zu schaffen ,die für alle sozialen Schichten der umma akzeptabel scheinen sollte . Damit erreichte er eine Neuauslegung des Islam, die zwar stark von europäischem Gedankengut geprägt war , aber auch genug Abstand zu Europa wahrte .63

Die Denkrichtungen Ahmad Khans , al -Afghanis und Abduhs bildeten lange Zeit eine Minderheit unter den culamä'.AI-Afghanis und Abduhs Gedanken verdankten ihre starke Verbreitung vor allem den politischen Aktivitäten der beiden und deren guten Beziehungen zu Regierungen undElite.64

Heute gibt es vorwiegend zwei verschiedene Richtungen, die sich aus Abd¬

uhs Konzepten entwickelt haben . Die einen werden als Salafisten (von arab.

as-salaf die frommen Vorfahren") bezeichnet. Sie haben seine Lehre im 20. Jahrhundert in ihr Gegenteil verkehrt ,indem sie das erneute Lesender Quellen für eine wortwörtliche Auslegung der Texte verwenden . So bildeten sie für 61 Esposito2000:685;Peters1996:122

62 Abu Zaid 2005;Arkoun1994 :13 ;Balic1996:596;Krämer 1992:219;Lapidus1989:

305-306;Ripin1996 : 111 -112

63 Black2001:305;Mandaville2001 : 75 - 76 ;Moten1996: 25 ;Peters1996 :110, 122 -123

64 Peters1996 :109

viele islamistische Bewegungen wie etwa die ägyptischen Muslimbrüder die theoretische Grundlage . Heute sind mit dem Begriff Salafisten vorwiegend traditionelle Reformer gemeint . Auf der anderen Seite findet aber auch wieder eine Rückbesinnung auf die Methodik und Prinzipien Abduhs statt , um auf diese Weise den Islam zureformieren.65

2 . 2 .2 Entwicklung eines flqh für Minderheiten

In vorkolonialer Zeit waren es vor allem Händler oder Konvertiten , die in nicht-islamisch beherrschten Gebieten wohnten . Deswegen diskutierten die Gelehrten Begründungen, unter welchen Umständen ein Muslim unter nicht¬

islamischer Herrschaft leben dürfe ,wieer sich zu verhalten habe und welchen rechtlichen Status er besäße .Es setzte sich die Meinung durch, dass dies er¬

laubt sei , sollten solche Muslime die Möglichkeiten zur Ausübung der grund¬

legenden religiösen Aufgaben und Pflichten und zur Führung eines sicheren Lebens haben .Ist dies nicht der Fall ,hat der Muslim diePflicht , indas Gebiet des dar al -Isläm zurückzukehren.Zusätzlich wurde bestimmt, dass diese Mus¬

lime die Gesetzgebung des jeweiligen Landes zu respektieren hätten . Dieser Aspekt wird in der heutigen Diskussion oftmals wiederholt und zitiert .66

Während des Kolonialismus gelangten viele muslimische Gebiete unter nichtmuslimische Herrschaft.Nun waren die Gläubigen zwar in derMehrheit , die Regierungsgewalt lag jedoch in nichtmuslimischen Händen .67 Unter¬

schiedliche Lehrmeinungen entwickelten sich in dieser Zeit . Während die einen die Auswanderung indas Gebiet des dar al-Isläm als zwingend erachte¬

ten , fanden andere eine Möglichkeit, das Verbleiben in einem solchen Gebiet zu legitimieren. In Bagdad erließen Gelehrte eine fatwä, in der sie feststellten , dassdie Herrschaft eines gerechten Ungläubigen derjenigen eines ungerechten Muslims vorzuziehen sei . Die Frage, ob ein Muslim die neue Herrschaft wei¬

ter bekämpfen sollte, bis das Land wieder von Muslimen regiert würde ,oder

65 el Fadl 2002 : 10 ;Esposito1995:468;Esposito2003 :275;Shadid/van Koningsveld

1996:86

66 Shadid /vanKoningsveld1996: 86 -87

67 Dies war bereits vor derkolonialenZeit in Sizilien und Spanien der Fall .Später waren

67 Dies war bereits vor derkolonialenZeit in Sizilien und Spanien der Fall .Später waren

Im Dokument Muslime in Europa (Seite 24-38)