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Muslime in Europa

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Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt

Digitale Bibliothek des Sondersammelgebietes Vorderer Orient

Muslime in Europa

Schweizer, Ursi Berlin, 2008

urn:nbn:de:gbv:3:5-7323

(2)

ISLAMKUNDLICHE UNTERSUCHUNGEN

BAND 281

Ursi Schweizer

f

Muslime in Europa

Staatsbürgerschaft und Islam

in

einer liberalen und säkularen Demokratie

2008

SA

laus schwarz verlag Berlin

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Ursi Schweizer Muslime inEuropa

(5)

ISLAMKUNDLICHE UNTERSUCHUNGEN • BAND 281

begründet von Klaus Schwarz

herausgegeben von Gerd Winkelhane

(6)

ISLAM

KUNDLICHE UNTERSUCHUNGEN

BAND 281

Ursi Schweizer

Muslime in Europa

Staatsbürgerschaft und Islam

in einer liberalen und säkularen Demokratie

K

S KLAUS SCHWARZ VERLAG

BERLIN

(7)

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Alle Rechte vorbehalten .Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (Druck,Fotokopie oder einem anderen Verfahren )ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden .

© 2008 by Klaus Schwarz Verlag GmbH Erstausgabe

1 .Auflage

Layout und Herstellung :J2P Berlin Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier Printed inGermany

ISBN 978- 3 -87997-346-0

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(8)

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung ... 9

1 .1 Problemlage und Fragestellungen ... 9

1 .2 Verwertungszusammenhang und Ziel der Arbeit ... 12

1 .3 Methode undModell ... 13

1 . 3 .1 Grundlegendes Modell von Staatsbürgerschaft in einer Demokratie ... 14

1 . 3 .2 Eingrenzung der Analyse ... 18

1 . 3 .3 Begründung der Auswahl der muslimischen Gelehrten ... 18

1 .4 Vorgehen ... 19

2 Einführung in die Diskussion ... 21

2 .1 Begriffserklärungen ... 21

2 . 1 .1 SarTa und fiqh ... 21

2 . 1 .2 Fatwä ... 24

2 . 1 .3 Konzept des dar al -Isläm und dar al -harb ... 26

2 .2 Historische Entwicklung ... 27

2 . 2 .1 Bezugspunkt Reformislam des 19 .und20.Jahrhunderts ... 27

2 . 2 .2 Entwicklung eines fiqh für Minderheiten ... 30

2 . 2 .3 Zeitgenössische Diskussion:Typologie der Standpunkte ... 32

3 Darstellung der normativen Diskussion über Staatsbürgerschaft und politische Partizipation von Muslimen ineiner säkularen Demokratie ... 35

3 .1 European Council for Fatwa and Research ... 35

3 . 1 .1 Hintergrund ... 35

3 . 1 .2 Bekanntheitsgrad und Wirkungskreis ... 37

3 . 1 .3 Grundansichten ... 38

3 . 1 .4 Begründung und Zieleder politischen Partizipation ... 40

3 . 1 .5 Mittel und Tugenden der politischen Partizipation ... 42

3 .2 Scheich Yusufal -Qaradawi (Qatar)... 44

(9)

3 . 2 .1 Hintergrund ... 44

3 . 2 .2 Bekanntheitsgrad und Wirkungskreis ... 45

3 . 2 .3 Grundansichten ... 46

3 . 2 .4 Begründung und Ziele der politischen Partizipation ... 48

3 . 2 .5 Mittel und Tugenden der politischen Partizipation ... 50

3 .3 Tariq Ramadan (Genf)... 53

3 . 3 .1 Hintergrund ... 53

3 . 3 .2 Bekanntheitsgrad und Wirkungskreis ... 53

3 . 3 .3 Grundansichten ... 56

3 . 3 .4 Begründung und Zieleder politischen Partizipation ... 64

3 . 3 .5 Mittel und Tugenden der politischen Partizipation ... 65

3 .4 Dahl Boubakeur (Paris) und Soheib Bencheikh (Marseille )... 70

3 .4 .1 Dahl Boubakeur:Hintergrund ... 70

3 .4 .2 Soheib Bencheikh:Hintergrund ... 72

3 .4 .3 Boubakeur und Bencheikh:Grundansichten ... 75

3 .4 .4 Begründung der politischen Partizipation ... 80

3 .4 .5 Zieleder politischen Partizipation ... 81

3 .4 .6 Mittelund Tugenden der politischen Partizipation ... 82

4 Vergleich und Diskussion der Positionen anhand des Staatsbürgerschaftsmodells ineiner säkularen Demokratie ... 85

4 .1 Grundansichten:Integration oder Abgrenzung. . . . .... 85

4 . 1 .1 Bedingungen für ein Leben in Europa ... 85

4 . 1 .2 Anpassung an die neue Minderheitensituation : situationsbezogene Pragmatik oder umfassendes Modell ... 87

4 .2 Begründung und Zieleder politischen Partizipation : muslimische vs .nationale Interessen undIdentität ... 92

4 . 2 .1 Gerechtigkeit ... 98

4 . 2 .2 Dcfwaund sahäda: Die Einladung und das Bekenntnis zumGlauben ... 99

(10)

4 . 2 .3 Die staatsbürgerliche Perspektive ... 100

4 .3 Mittel und Tugenden der politischen Partizipation ... 101

4 . 3 .1 Rechtsgehorsam ... 101

4 . 3 .2 Kooperation und Dialog ... 103

4 . 3 . 2 .1 Öffentlicher Vernunftgebrauch und Mäßigung ... 104

4 . 3 . 2 .2 Toleranz und Pluralismus ... 106

4 . 3 .3 Anwendung von Gewalt ... 108

4 . 3 .4 Politische Bildung ... 109

5 Schlussfolgerungen ... 111

6 Fazit... 116

7 Bibliographie ... 120

8 Anhang ... 133

8 .1 Glossar Arabisch - Deutsch ... 133

8 .2 Liste der Mitglieder des European Council for Fatwa and Research ... 135

(11)
(12)

1 Einleitung

1 .1 Problemlage und Fragestellungen

Als 2004 zwei französische Journalisten im Irak entführt wurden , um eine Re¬

vidierung des Kopftuchverbotes in Frankreich zu erzwingen, stellten sich alle muslimischen Führer inFrankreich gegen diese Erpressung.Nicht nur der ge¬

mäßigte Dahl Boubakeur, auch die Vertreter konservativerer Gruppen wie die Union des Organisations hlamiques de France riefen zur Achtung des Geset¬

zes auf,nachdem sie vorerst lautstark dagegen protestiert hatten .1

Französische Muslime gründeten die Mouvement des musulmans laiques de France (MMLF ), weil sie der Domination des Islambildes in der Öffentlich¬

keit durch die Fundamentalisten überdrüssig waren . Sie sindder Überzeugung , dass der Islam in seinen Prinzipien kompatibel mit den Gesetzen der Republik sei und setzen sich daher für einen aufgeklärten und erneuerten Islam ein.2

Nazia Siddiqui , eine junge Schweizer Muslimin , kandidierte 2004 überra¬

schend auf der Liste der Christlichen Volkspartei (CVP ) für den Gemeinderat von Giubiasco und die türkischstämmige , praktizierende Muslimin Kadriye KocaHess sich für den Großrat vonBasel, ebenfalls fürdie CVP, als Kandida¬

tin aufstellen.3

Ein Bericht der Islamic Human Rights Commission von 2004, die eine Um¬

frage unter englischen Muslimen durchgeführt hatte, besagt ,dass „ ( . . .) almost

80% of respondents saw little or no contradiction between being a good Bri¬

tishCitizen and Islamic values . "4

Weitere Umfragen sowohl in Frankreich wie auch in Großbritannien haben ergeben ,dass die große Mehrheit der Muslime keinen Widerspruch zwischen ihrem Glauben und ihrer Nationalität sieht.5

1 Klingbeil2004 2 Chartier2004

3 Lob 2004 : 8 ;Schweiz Aktuell vom29 .September2004 ;siehe auch dieArtikelvom

22 . 11 .2004 (Seite 7 )und 27728. 11 .2004 (Seite 53 )in der NZZ über die InitiativeFo¬

rumfür einen fortschrittlichenIslam von Saida Keller-Messahliund ThabetEid ,die

damit das Schweigender moderaten Muslimein der Schweiz beendenwollen. 4 Merali 2004

5 Gautier1998;Le Quesne 2001

(13)

Diese Beispiele stehen im Gegensatz zum Bild des Islam in der europäi¬

schen Öffentlichkeit , das von muslimischen Gruppierungen und Theologen dominiert wird, die Europa als einGebiet desKrieges " bezeichnen und einen grundlegenden Gegensatz zwischen dem demokratischen , säkularen System und den Gesetzen des Islam sehen .Dementsprechend stellensie die Regeln ih¬

rer Religion über alles und erlauben weder Loyalität gegenüber, noch Partizi¬

pation in einem solchen System . 6 Diese Frage nach der Loyalität und aktiven Partizipation der muslimischen Staatsbürger in Europa , d . h .die Ausübung und Wahrnehmung ihrer staatsbürgerlichen Pflichten und Rechte , wird seit den Anschlägen in den USA und Madrid oder der Ermordung Theo van Goghs in Holland im Rahmen der Integrationsdiskussion innerhalb der muslimischen Bevölkerung vermehrt diskutiert.7

Bereits 1994 hatte die fatwä von Chäteau -Chinon dieser Diskussion neuen Schwung verliehen . Muslimische Gelehrte hatten entschieden , dass Europa nicht mehr als dar al -harb (Gebiet des Krieges ) gelten solle ,sondern als dar al- cahd (Gebiet des Vertrages ). Diese Neueinteilung " beeinflusste die Dis¬

kussion wesentlich, und zusammen mit der zunehmenden Anzahl von einge¬

bürgerten Muslimen brachen immer mehr aus ihrer politischen Isolation aus und begannen,sich vermehrt am politischen Prozess ihres neuen Heimatlandes zubeteiligen.8

Die oben genannten Beispiele scheinen darauf hinzuweisen, dass die meis¬

ten muslimischen Staatsbürger9 in Europa ihren Status als Gläubige mit dem als Staatsbürger vereinbaren können .Für zahlreiche muslimische Gelehrte und Intellektuelle auch außerhalb Europas beinhaltet die Frage nach der Loyalität gegenüber dem Staat keine religiösen Bezeugungen,weshalb sich für sie bei¬

des miteinander vereinbaren lässt . Sie sind sich aber trotzdem bewusst , dass 6 Beispielsweisedie Hizb ut -Tahrir,welche politische Partizipationnur innerhalb einer

islamischenPartei gerechtfertigtsieht (Hizb ut -Tahrir 2002).

7 Bencheikh1998: 9 - 10 ;Mandaville2001 : 138 ;Haddad2000: 631 -632;Rohe 2001 :

84 ;ZentralratderMuslimeinDeutschland2002 8 Siehe Kapitel 2 .2 .4 ;Mandaville2003 :127

9 Im Folgendenwird derEinfachheithalber unter europäischeMuslime"undMusli¬

mein Europa"immer Staatsbürger muslimischer Religionszugehörigkeitineinem

nichtmuslimischen ,europäischenLand verstanden .

(14)

gewisse Anpassungen der islamischen Regeln an die Situation der europäi¬

schen Muslime notwendig sind .10 Dies fuhrt zur ersten Fragestellung :

Gemäß welchen Richtlinien kann laut muslimischen Gelehrten ein praktizie¬

render Muslim seine Pflichten als Staatsbürger eines nichtmuslimischen , sä¬

kularen und demokratischen Staates und als Gläubiger vereinen ?

Die Wahrnehmung staatsbürgerlicher Pflichten und Rechte ist ein wichtiger Teil der Integration, denn die Staatsbürger tragen damit zur Stabilität und dem Funktionieren der Demokratie bei. Die Art und Weise der Ausübung dieser Pflichten spielt dabei eine erhebliche Rolle . Staatsbürgerschaftstheorien kon¬

zentrieren sich deswegen vorwiegend auf die Eigenschaften oder Tugenden , die ein idealer Staatsbürger besitzen sollte .Für den Erhalt der Demokratie ist es demzufolge unerlässlich, dass die Bürger (die Begriffe Staatsbürger " und

Bürger " werden im Folgenden synonym verwendet ) gewisse Tugenden und Wertvorstellungen wie etwa Toleranz und Gemeinsinn besitzen . 11Es istoffen¬

sichtlich ,dass Staatsbürger aber nicht mit diesen Tugenden geboren werden , sondern sie vielmehr erlernen müssen . 12 Deswegen ist der Aspekt der politi¬

schen Bildung ein zentraler Punkt in der Debatte um Staatsbürgerschaft. Ne¬

ben Schule ,Familie und diversen Vereinigungen und Verbänden ist auch die Kirche ,bzw . sind religiöse Institutionen Orte ,in denen staatsbürgerliche Tu¬

genden vermittelt werdensollten .13

Die Vorstellung eines idealtypischen demokratischen Staatsbürgers bildet wiederum einen zentralen Bestandteil eines übergreifenden politischen Konsen¬

ses im Rawls 'schen Sinne .Bürger müssen die Ausübung politischer Macht auf der Basis bestimmter Ideale und Grundsätze,denen alle vernunftgeleiteten und

10 U .a . al -Alwani2003 ;Jaballah2002 ;Ramadan2002a: 93 - 94 ;siehe auch allgemein

Shadid/van Koningsveld1996 11 Kymlicka1998 : 362 -363 12 Weithman2002 :ix

13 Fenner1994 : 565 -566;Kymlicka1998 : 362 -363;Rawls1998 :291, 297 ;Reichel

2000 : 512 -514

(15)

rationalen Bürger zustimmen können , abstützen , damit diese gerechtfertigt

ist. 14Wie oben kurz erwähnt , gibt es muslimische Gelehrte und Intellektuelle , welche der Ansicht sind , dass diese Ideale und Grundsätze mit denen des Is¬

lam übereinstimmen . Demzufolge ist für sie eine Synthese der islamischen Prinzipien mit der vorherrschenden Kultur (deinschließlich der politischen Kultur eines Landes ) grundsätzlich möglich .Als Bezeichnung für das Ergeb¬

nis einer solchen Synthese wird vermehrt der Begriff des sogenannten euro¬

päischen Islam" oderEuro-Islam " verwendet. 15Demzufolge lassen die Richt¬

linien, welche die muslimischen Gelehrten den Gläubigen für die Ausübung und Wahrnehmung von staatsbürgerlichen Pflichten und Rechten angeben , einen Rückschluss darauf zu, ob Ansätze dafür vorhanden sind , inwiefern sich die Muslime in den übergreifenden Konsens einer säkularen Demokratie ein¬

ordnenkönnen , oderob die Gelehrten vielmehr in Richtung eines Rawls 'schen modus vivendizielen , eines Raumes pragmatischer Toleranz , der sich bei Ver¬

änderung des Kräfteverhältnisses auflöst.16 Daraus ergibt sichdie zweite Fragestellung :

Inwiefern bilden diese Richtlinien zur Vereinbarung religiöser und staatsbür¬

gerlicher Pflichten Ansätze , welche zu einem Konsens mit den Werten und Prinzipien , die einer liberalen und säkularen Demokratie zugrunde liegen, führen können ?

1 .2 Verwertungszusammenhang und Ziel der Arbeit

Die Notwendigkeit der richtigen staatsbürgerlichen Bildung europäischer Muslime für die Aufrechterhaltung des demokratischen Systems muss auf¬

grund der oben gemachten Erläuterungen nicht weiter ausgeführt werden . Muslime als illoyal und nicht vertrauenswürdig zu bezeichnen und sie damit öffentlich zu stigmatisieren und auszugrenzen,kann die Integration erheblich

14 Rawls 2003 :223,291

15 U .a .Karic 2002 :440-442;Ramadan2001a: 92 - 95 ;Steinbach 2005 .Viele Muslime

mögen diese Begriffenicht ,da sie damit den Verlust ihrerreligiösenIdentität verbin¬

den (Steinbach2005). 16 Rawls 2003 :235

(16)

erschweren, da es ihr Selbstbild und ihre Beziehung zu Nichtmuslimen stark beeinflusst. Die aktive Teilnahme von Nichtmuslimen an dieser innerislami¬

schen Diskussion würde nicht nur von ernsthaftem Interesse an dieser Angele¬

genheit zeugen ,sondern auch die Möglichkeit bieten ,den Integrationsprozess mitzugestalten .Damit würde der muslimischen Bevölkerung in Europa nicht nur das Gefühl des Andersseins genommen , sondern es könnte dadurch dem Fundamentalismus auchder Nährboden entzogen werden .17

Es ist daher Ziel dieser Arbeit ,herauszufinden,inwiefern die Konzepte der hier analysierten muslimischen Gelehrten für eine Vereinbarung von religi¬

ösen mit staatsbürgerlichen Pflichten Ansätze bieten , die zu einem europäi¬

schen Islam" im Sinne einer Einordnung in den übergreifenden Konsens füh¬

ren könnenwobei das Augenmerk auf Argumenten liegt , die aus islamischer Perspektive dafür sprechen - ,oder ob die Modelle viel eher auf einen modus vivendiabzielen , der sich bei Verschiebung der Kräfte auflöst .

1 .3 Methode und Modell

Die Beziehung zwischen der Religion Islam und dem Modell der Staatsbür¬

gerschaft einer säkularen Demokratie anhand bestimmter starrer Kategorien zu analysieren,ist schwierig, da auf diese Weise der Komplexität auf beiden Sei¬

ten nicht Rechnung getragen würde . Es liegt in der Natur der Sache, dass die Muslime aus einer theologischen Sicht argumentieren , während sich die Di¬

mensionen einer Staatsbürgerschaft in einer Demokratie auf ein humanisti¬

sches Menschenbild beziehen. 18Die Autorin ist sichbewusst ,dass es kein ein¬

heitliches und umfassendes Konzept von demokratischer Staatsbürgerschaft

gibt , insbesondere in Bezug auf die Tugenden.Aus diesem Grund wird in ei¬

nem ersten Schritt das grundlegende Modell von Heater (1994 ) dargestellt, da es sich für die hier erforderliche Analyse bezüglich religiöser Staatsbürger am besten eignet . Es zeigt ineiner einfachen Struktur die wesentlichen Dimensio¬

nen von Staatsbürgerschaft auf . Erst im Kapitel 4 wird dann anhand von Rawls ' Politischer Liberalismus (2003) an gegebener Stelle konkret auf die

17 Abbas2005 ;Kymlicka/Norman1994:370;Weitman2002 :11 -12 18 Mandaville2003:128

(17)

einzelnen Tugenden und Dimensionen von Staatsbürgerschaft ,welche die Ge¬

lehrten ansprechen,eingegangen. Rawls wird hier als Bezugsrahmen verwen¬

det, da er mit seinem Buch auch die Debatte um politische Tugenden maßgeb¬

lich beeinflusst hat. Aus diesem Grunde bezieht sich das hier verwendete Staatsbürgermodell auf das System der liberalen und säkularen Demokratie . Daher ist im Folgenden mit dem Begriff Demokratie, wenn nicht anders ange¬

geben, immer eine liberale und säkulare Demokratie gemeint . Ergänzend wer¬

den auch Übersichtswerke sowieSpinner -Halev (2000 ) und Weithman (2002), die sich spezifisch der Problematik bezüglich religiöser Staatsbürger widmen , zur Analyse herangezogen .

Es sei an dieser Stelle festgehalten,dass die vorliegende Studie die islami¬

sche Perspektive der Diskussion um Muslime inEuropa aufzuzeigen versucht . Aus diesem Grund wird in der Diskussion der Empfehlungen und Konzepte der analysierten muslimischen Gelehrten nur auf jene Dimensionen (Tugen¬

den, Identitäten , Loyalität ) von Staatsbürgerschaft eingegangen , die die Ge¬

lehrten auch erwähnen. In diesem Sinne stellt die vorliegende Untersuchung nicht den Anspruch, einen umfassenden Vergleich zwischen islamischen und säkular-demokratischen Vorstellungen von Staatsbürgerschaft zuliefern .

Da die innerislamische Diskussion um den Islam inEuropa von der umfas¬

senden Debatte um Islam und Moderne beeinflusst wird, wird zudem eine Ty¬

pologie der Standpunkte in dieser Diskussion eingeführt.Dies soll dem Leser die Einordnung der analysierten Gelehrten in den Gesamtkontext der Diskus¬

sion erleichtem .

1 . 3 .1 Grundlegendes Modell von Staatsbürgerschaft

in einer Demokratie

Die folgenden Erklärungen sollen in einem ersten Schritt das grundlegende Konzept von Staatsbürgerschaft und die davon abgeleitete Analyseebene der politischen Partizipation darlegen .

Die Staatsbürgerschaft in einer Demokratie regelt das Verhältnis zwischen dem Staatsbürger, dem Staat und den anderen Mitgliedern der politischen Ein¬

heit , basierend auf absoluter Rechtsgleichheit,und verleiht damit dem Bürger

(18)

gewisse Rechte , 19die durch Pflichten bedingt sind . Ein Staatsbürger ist dem¬

nach eine Person , die durch Geburt oder Einbürgerang Mitglied einer politi¬

schen Gemeinschaft wurde . Sie schuldet dieser Gemeinschaft Loyalität , be¬

sitzt aber gleichzeitig auch zivile Rechte und genießt den Schutz desStaates .20 Durch den dem politischen System zugrunde liegenden Sozialvertrag zwi¬

schen den Individuen gehen alle , Bürger wie auch der Staat,bestimmte Ver¬

pflichtungen ein. Während der liberale Staat dem Einzelnen die Bedingungen zur Selbstverwirklichung ineinem stabilen Rahmen zu geben versucht , sichert der Bürger durch die Erfüllung seiner Pflichten,beispielsweise durch Wählen oder das Bezahlen von Steuern , den Fortbestand desStaates .Das Funktionie¬

ren der Demokratie hängt somit nicht nur von der Gerechtigkeitsgrundlage ih¬

rer Institutionen ab, sondern auch vom Handeln ihrer Bürger . Die Einhaltung der Verpflichtungen durch den Staatsbürger liegt alsoin seinem eigenen Inter¬

esse.21

Wie Heater in seinem Modell (Abb. 1) deutlich darlegt , beinhaltet Staats¬

bürgerschaft aber nicht nur einen rechtlichen Status, sondern auch eine be¬

stimmte ,rechtlich nicht erzwingbare Haltung oder Gesinnung dem Staat und der Gemeinschaft gegenüber. Der Staatsbürger soll also auch einguter "Bür¬

ger sein . Diese Haltung wiederum wird bestimmt durch die zivilen Tugenden unddie verschiedenen Identitäten des Bürgers.22

Da der rechtliche Status in dieser Arbeit nicht zur Diskussion steht, wird zum einen der absolute Rechtsgehorsam untersucht , andererseits richtet sich das Hauptaugenmerk der Analyse auf die Tugenden und Identitäten , welche den Staatsbürger in der Wahrnehmung seiner Pflichten beeinflussen .

19 Nach derallgemein anerkannten AufteilungvonT .Marshall( in :Citizenship and So¬

cialClass andOther Essays.Cambridge :1950)beinhaltet Staatsbürgerschaftsoziale,

zivile und politischeRechte.Aufgrundder hier zu behandelnden Problematikliegt der

Fokus auf denpolitischenRechten .Siehe auch Kymlicka/Norman 1994: 354 -355 20 Clarke/Foweraker2001 : 52 ;Garner 2004 :261;siehe auch Habermas1991: 11 -12 21 Clarke /Foweraker2001 : 537 ;Dagger1997: 6 ;Kymlicka/Norman 1994: 352 -353 22 Macedo1990: 3 - 4 ;Oliver/Heater1994: 114 - 115 ,209.Zur Beziehung zwischenIden¬

tität und politischer Partizipationsiehe auch Waldron2000 : 156 -158

(19)

Citizenship

Feeling

I

^

~

Civic virtue Identity Civil Political

National Multiple

Legal duties Rights

Responsibility

Abb . 1 :Staatsbürgerschaftsmodellnach Heater (in Oliver/Heater 1994 :210)

*hier religiöse Identität, da es sich um Verbindung zwischen religiöser und nationaler Identität handelt

Politische Partizipation als Analyseebene

Kultur im breitesten Sinne beinhaltet auch die politische Kultur eines Landes . Die Art und Weise der politischen Partizipation wiederum ist ein Teil dieser politischen Kultur . Wenn ein europäischer Islam" als Produkt einer Synthese zwischen den religiösen Prinzipien des Islam und der Kultur Europas verstan¬

denwird,dann betrifft dies also auch die politische Kultur . Deshalb , und weil nicht alle Gelehrten in der Untersuchung spezifisch zum Status der Staatsbür¬

gerschaft Stellung nehmen , wird die Analyse auf der Ebene der politischen Partizipation als einer zentralen Form der Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten innerhalb der politischen Kultur vorgenommen.Im zwei¬

ten Teil werden dann davon Aussagen über das grundlegende Verständnis von Staatsbürgerschaft und eine mögliche Synthese abgeleitet .

Da die Begründungen und Ziele für politische Partizipation die Tugenden und Identitäten eines Staatsbürgers erheblich beeinflussen , werden einerseits

Status

Social

Loyalty

(20)

die Empfehlungen und Zielsetzungen,andererseits aber auch konkret die Mit¬

tel und Tugenden der politischen Partizipation untersucht. Wenn beispielswei¬

se die Begründung für die Teilnahme am politischen Prozess die Durchset¬

zung der Rechteder muslimischen Weltgemeinschaft ist ,dann wird konkret an die religiöse Identität der muslimischen Bürger appelliert. Demzufolge tritt die nationale Identität in den Hintergrund oder verliert unter Umständen sogar ganzan Gewicht .

Um die Analyseebene zu präzisieren , folgt hier eine kurze Definition von politischer Partizipation.Sie ist eine

Sammelbezeichnung für alle Formen der Teilhabe am politischen Ge¬

schehen und an Prozessen der politischen Meinungs -, Willens - und Ent¬

scheidungsbildung . Typische Partizipationsformen sind politische Infor¬

mation und politisches Gespräch , politische Aktivität in Bürgerinitiativen , Interessengruppen undParteien , die Teilnahme an politischen Manifesta¬

tionen und Demonstrationen allerArt,die Ausübung des aktivenbzw .pas¬

siven Wahlrechts , sowie die Übernahme öffentlicher Ämter von der Ge¬

meinde -bis zur Bundesebene. "23

Alle diese Formen haben die Beeinflussung von Entscheidungen auf verschie¬

denen politischen Ebenen zum Ziel.24 Um den Begriff analytisch besser zu präzisieren , werden all jene Handlungen nicht miteinbezogen , welche ledig¬

lich in ihrer Konsequenz politisch sind, da langfristig fast alle Handlungen ei¬

ner Person oder Gruppe politische Folgen haben .25 Nicht diskutiert werden auch die Möglichkeiten des zivilen Ungehorsams als eine Form der politi¬

schen Partizipation. Dies geschieht deshalb , weil diese Form von politischer Partizipation auch unter Theoretikern stark umstritten ist und es hier um ver¬

fassungskonforme Möglichkeiten der Teilnahme am politischen Prozess geht.26

23 Patzelt1997:302 24 Kaase 2000 :466-467 25 Kaase1998:521 26 Ebda . :525

(21)

1 . 3 .2 Eingrenzung der Analyse

Alle in dieser Arbeit analysierten Gelehrten gehören dem sunnitischen Islam

an .Da die Schiiten nur einen sehr kleinen Teil aller Muslime in Europa aus¬

machen ,wird nicht auf schiitische Gelehrte eingegangen.27

Die Artder Argumentation der hier vorgestellten Theorien und Konzepte ist nur insofern Gegenstand der Analyse , als sie sich auf verschiedene - sprich theologische , ideologische oder moralische - Argumente bezieht . Die Kor¬

rektheit der theologischen Beweisgründe wird nicht diskutiert, da die Mitein¬

beziehung der ausgewählten Gelehrten in dieser Arbeit nicht auf der Richtig¬

keit ihrer theologischen Konzepte basiert .

Wenn im Folgenden nun von dem Islam die Rede ist, bezieht sich dies der Problematik entsprechend auf den Islam als Religion mit seinen grundlegen¬

den Prinzipien,die für alle Muslime jeglicher Herkunft einheitlich gelten ,und nicht auf den Islam als Kultur in seinen vielen verschiedenen Formen . Die Diskussion richtet sich damitan praktizierende Muslime ,für welche der Islam als religiöse Lehre eine primäre Komponente ihrer Identität ist.28

1 . 3 .3 Begründung der Auswahl der muslimischen Gelehrten

Der Islamwissenschaftler und Philosoph Tariq Ramadan (Genf), der muß. So - heib Bencheikh , der Theologe und Arzt Dalil Boubakeur (Frankreich), Scheich Yusuf al -Qaradawi 29 (Qatar) und der European Council for Fatwa and Research (ECFR) beeinflussen zurzeit die innerislamische Diskussion um Islam in Europa und nehmen für sich in Anspruch , dass ihre Empfehlungen die Muslime inEinklang mit ihrem Glauben und ihrem Status als Staatsbürger leben lassen. Des Weiteren weisen diese Personen entweder einen hohen Be - kanntheitsgrad und/oder auch religiöse Autorität auf.30

Es mag verwundern , dass ein nichteuropäischer Gelehrter, Yusuf al -Qara¬

dawi , in die Analyse miteinbezogen wird. Die Diskussion rund um den Islam 27 Böttcher2005 :1

28 Bistolfi/Zabbal1995: 21 ;Mandaville2003:130

29 Esbestehen zwei Schreibweisendieses Namens :Yusuf al -Qaradawiund Yusuf al- Qardawi.

30 Siehe dazu u .a .van Bruinessen 2003

(22)

in Europa findet ja keineswegs nur innerhalb der europäisch-muslimischen Gemeinschaft statt ,sondern auch im Austausch mit Theologen und Intellektu¬

ellen vorwiegend aus derarabisch -islamischen Welt.Auch wenn Muslime hier in Europa wohnen ,werden für wichtige religiöse Fragen häufig immer noch die Theologen um Rat gebeten , die eine hohe religiöse Autorität unter den Muslimen besitzen , auch wenn sie nicht Bürger eines europäischen Staates

sind .31

Yusuf al -Qaradawi ist außerdem Präsident des European Council for Fatwa and Research (ECFR), was ein Grund dafür sein könnte , ihn zusammen mit dem Rat zu analysieren. Da der ECFR aber ein demokratisch organisierter Rat

ist, relativiert sich der Einfluss einer einzelnen Person . Zudem stammen man¬

che Mitglieder des Rates nicht aus derarabisch -islamischen Welt, womit auch bekannte Theologen ausBosnien ,32Afrika oder Asien in die Analyse mitein¬

bezogen wurden . Des Weiteren hat sich der Rat zum Zielgesetzt , zum führen¬

den Vertretungsorgan der europäischen Muslime zu werden , weshalb seine Anweisungen und Empfehlungen die Entwicklung des Islam in Europa ent¬

scheidend beeinflussen können .Darüber genießt al -Qaradawi zurzeit eine star¬

ke Autorität in der sunnitisch-muslimischen Gemeinschaft , die eine separate Analyse rechtfertigt .

Soheib Bencheikh und Dahl Boubakeur werden hingegen gemeinsam ana¬

lysiert , da ihre Konzepte und Empfehlungen nicht nur sehr ähnlich sind , son¬

dernsie auch oft gemeinsam für einenaufgeklärten Islam " eintreten .

1 .4 Vorgehen

Unter konsequenter Beibehaltung der islamischen Perspektive widmet sich folglich die vorliegende Arbeit nach einer Einführung in die innerislamische Diskussion (Kapitel 2) in einem ersten Teil (Kapitel 3) der ersten Fragestel¬

lung.Darin werden die Empfehlungen und Konzepte der verschiedenen musli- 31 Böttcher2005: 2 - 3 ;Bruinessen2003 ;Mandaville2003:134

32 InBezugauf MuslimeimBalkansei hier vermerkt,dass sie indiese Analyse nicht spezifisch miteinbezogenwerden,da sie sich vor allem hinsichtlichihrerIdentität in einer anderen Situation befindenals dieeingewanderten MuslimeinWesteuropa( Ka- ric2002 :441).

(23)

mischen Theologen und Gelehrten dargestellt . Der darauf folgende Teil der Arbeit (Kapitel 4) versucht die zweite Fragestellung zu beantworten , indem die Empfehlungen untereinander verglichen und den Dimensionen einer Staatsbürgerschaft in einer Demokratie gegenübergestellt werden . Dabei wird im speziellen auf diejenigen Punkte eingegangen, indenen die Gelehrten sich unterscheiden,wie auch auf die Aspekte , die in Bezug auf die Ausübung und Wahrnehmung staatsbürgerlicher Pflichten und Rechte problematisch sein könnten .

Die Gelehrten werden jeweils in einem ersten Schritt kurz biographisch vorgestellt,wobei der Schwerpunkt besonders auf ihrem kulturellen und ideo¬

logischen Hintergrund liegt ,weil sich dadurch manche ihrer Ansichten erklä¬

renlassen . Anschließend werden ihre Grundansichten bezüglich der Thematik

Muslime in Europa " dargelegt , da sich ihre Richtlinien und Empfehlungen aus ihrer Grundeinstellung inBezug auf die Situation der europäischen Musli¬

me ergeben . In einem letzten Schritt wird schließlich konkret auf die politi¬

sche Partizipation eingegangen. Da im Sinne eines demokratischen Staatsbür¬

gerverständnisses inHinblick auf die politische Partizipation die Art und Wei¬

se wie auch die Motivation eines politisch handelnden Staatsbürgers von zen¬

traler Bedeutung sind , 33wird der Vergleich der Positionen anhand der folgen¬

den Fragen vorgenommen:Weshalb und mit welchen Zielen sollen sich Mus¬

lime am politischen Prozess beteiligen?Und mit welchen Mitteln und Tugen¬

den sollen sie diestun ?

33 Es wird hier auf das Modell von HeaterinOliver/Heater (1994)zurückgegriffen ,wel¬

ches in den Kapiteln1 . 3 . 1und 4 genauererläutert wird .

(24)

2 Einführung in die Diskussion

2 .

1 Begriffserklärungen

2 . 1 .1 Sarfa und fiqh

Der Begriff der sarf a wird heutzutage mit unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Einerseits wird er oft mit islamischem Recht gleichgesetzt , ande¬

rerseits verstehen ihn andere in seiner ursprünglichen Bedeutung, dem Weg zum Wasser " als Weg zu Gott.Im letzteren Sinne beinhaltet er eine von Gott gegebene normative Ordnung (göttliche Nonnen), an welche sich der Gläubi¬

ge zu halten hat, wenn sein Ziel das Paradies ist.34 Mit der Ableitung dieser fundamentalen , dogmatischen Nonnen aus den Quellen Koran und sunna

(Biographie des Propheten ) beschäftigt sich die Theologie , während die Rechtswissenschaft davon abgeleitet die lebenspraktischen Nonnen erstellt . Die Jurisprudenz ist im Islam eigentlich angewandte Theologie. Es wird somit deutlich ,dass Theologie und Recht eng miteinander verbunden sind.35

Fiqh bedeutete in seinem ursprünglichen Sinn ganz allgemein die Einsicht in die Religion und wurde anfangs für die Theologie und die Rechtswissen¬

schaftbenutzt . Die zunehmende Trennung in zwei Sachgebiete führte schlie߬

lichdazu, dasser nur noch inBezug auf die Jurisprudenz verwendet wird. 36 Er beschreibt den Versuch des Menschen , die göttliche Ordnung zu verstehen unddie Frage zu beantworten, wiedie Bestimmungen der sarfa (im Sinne der normativen Ordnung ) auf die Handlungen des Menschen anzuwenden seien. Die Grundlage des göttlichen Rechts bilden der Koran und die sunna , sowie igmdf (Konsensus ) und qiyäs (Analogieschluss ). Von den tausenden ahädit

( PI .vonhadit , die Überlieferang der normsetzenden Worte und Taten des Pro¬

pheten ), die überliefert worden waren , wurden im Laufe der Zeit inden hadit- Wissenschaften sechs Bücher zusammengestellt , die von allen Sunniten als wahr angesehen werden .37

34 Moten1996 : 46 , 49 - 50 ;Nagel 2001 : 4 ,13 35 Nagel2001 : 8 -9

36 Ebda. :8

37 Juynboll1969: 7 ;Nagel 2001 :161

(25)

Die sarTa als islamisches Recht beinhaltet eine spirituelle und ethische Ebene (Morallehre), wie auch eineprofane ,praktische ( z .B .gottesdienstliche Handlungen, Familien - und Zivilrecht ) . Fiqh in Bezug auf das Recht bezieht sich aufdie zweite Ebene .38

Fiqh istdaher systematisches Denken , welches eine Ordnung praxisbezoge¬

ner Normativität schafft . Durch igtihäd, die selbstständige Rechtsfindung un¬

ter Anwendung der vier Grundlagen, wird fiqh betrieben.Diese Methodik ist das Produkt des folgenden Prozesses.Die Worte und Taten des Propheten Mu¬

hammad (seine sunna ), die einen Teil der göttlichen Bestimmung darstellen , waren von seinen Begleitern und Nachfolgern inForm von Anekdoten festge¬

halten worden (hadit). Diese waren von Generation zu Generation tradiert worden und hatten damit Diskussionen und schließlich systematisches juristi¬

sches Denken (fiqh ) ausgelöst . Zwei zentrale hermeneutische Prinzipien be¬

stimmen die Entwicklung des Rechts . Das synchronische Prinzip , das vor¬

schreibt , dass jedes formulierte Gesetz zujeder Zeit durch Referenz aufdie of¬

fenbarten Texte (Koran und hadit) gerechtfertigt werden kann . Das zweite , diachronische Prinzip verlangt von den fuqaha (jenen, die fiqh betreiben ) ständigen Einbezug der Interpretationen von vorherigen anerkannten Gelehr¬

ten ihrer juristischen Schule, wobei seit Ende des 18 . Jahrhunderts nun ver¬

mehrt das synchronische Prinzip Vorrang hat.39Dies ist wichtig in Bezug auf mögliche Reformen im Islam, dadas diachronische Prinzip weniger Spielraum für neue Interpretationen zulässt .Es istweiter wichtig ,zu betonen , dass das is¬

lamische Recht zwar einerseits auf dem Koran basiert , zu einem großen Teil aber in seinen detaillierten Ausführungen auf den igtihäd einzelner Gelehrten zurückzuführen ist . Aus diesem Grundkann fiqh keine zeitlich unbeschränkte Gültigkeit für sichinAnspruch nehmen .40

Aufgrund unterschiedlicher Standpunkte hinsichtlich des Verhältnisses zwi¬

schen Koran und sunna , individuell unterschiedlicher Wissensstände über die Biographie des Propheten , eingeschränkten Informationsaustauschs zwischen den verschiedenen Stämmen und verschiedenen sozialen Lebensumständen 38 Masud2001:2

39 Esposito1995:Vol. II . S .450-451;Yolcu 2004 40 Krämer1992: 220 -221

(26)

entwickelten sich seit der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts unterschied¬

liche hermeneutische Methoden.Daraus ergaben sich viele verschiedene Lehr¬

meinungen , wovon sich schließlich vier Rechtsschulen {madähib ) durchge¬

setzt haben :41 die hanbalitische , malikitische , schafiitische und hanafitische Schule .42 Diese madähib hatten sich aus lokalen Juristenzirkeln entwickelt und akzeptieren sich alle gegenseitig , da sie sich alle auf dieselbe Grundlage der Rechtserkenntnis berufen .Neben diesen vier sunnitischen Schulen anerkennt die al -Azhar43Universität in Kairo auch noch die schiitischen Jafariten. Die vier sunnitischen Rechtsschulen unterscheiden sich nicht hinsichtlich ihrer re¬

ligiösen Fundamente , sondern in Bezug auf die Rechtssprechung im prakti¬

schen religiösen Leben (wie z . B . in der Art und Weise der Gebetsausübung , Volljährigkeit,Scheidung ) .Sie unterscheiden sich folglich nicht nurin Neben¬

sächlichkeiten, sondern auch bezüglich Fragen , die für den Alltag eines Mus¬

lims wichtig sind .44

Die Zugehörigkeit eines Muslims zu einer der vier Schulen ist in Fragen der Religionsausübung immer noch von nicht geringer Bedeutung,auch wenn die madähib nicht mehr dieselbe überragende Stellung besitzen wie im Mittelal¬

ter .45Darauf istzum Beispiel der ideologische Einfiuss der konservativen han-

41 Elger2001: 257 -258;Nagel2001:6

42 Aus historischen Gründensind dieHanafitenvor allem inder Türkei,Syrien ,Irak und Ägyptenverbreitet ,währenddessendieMalikitenin Nordafrikadominieren .Im Je¬

men,am Horn von Afrika undin Südostasien herrschtdieschafiitischeSchule vor ,

und in Saudi Arabien,den Golfstaatenund teilweiseSyrien und Jordanienfinden sich

dieHanbaliten(Müller 2001 : 260 ).

43 Dieal -Azhar Universitätin Kairo ist die älteste Universität(971n .Chr.)der Welt und rührende Institutionfür den sunnitischenIslam .Der Imam dieser Universität(zurzeit: MohammedSayed Tantawi)genießtim sunnitischenIslam sehr hohe religiöseAutori¬

tät . (Online im Internet:www .azhar .eun.eg ( 12 . 11 .2004 ) ;Steinvorth/Wiedemann

2005 ;Zakariya1992: 242 )

44 Als Beispielsei hier angeführt ,dass alle Schulen darin übereinstimmen ,dassein

Mann durch Verstoßenseiner Frau eine Ehe auflösenkann .Es herrschtaber Mei¬

nungsverschiedenheitdarüber,wann dieser Schritt getan werdendarf (Nagel 2001 :

251 - 252 , 286 ).

45 Elger 2001 : 259 -260;Esposito2003 : 154 ;ausführlicher :Coulson1994: 36 -61

(27)

balitischen Schule Saudiarabiens mit ihrer wahhabitischen Prägung 46auf Mo¬

scheen und Imame inEuropa zurückzuführen.47

Vom zehnten bis beinahe zum zwanzigsten Jahrhundert war das islamische Recht wenig weiterentwickelt worden , da die Gelehrten der Ansicht waren , dass die Beantwortung aller grundlegenden Rechtsfragen abgeschlossen war

( „das Tor" des igtihäd wargeschlossen" ) .48Trotzdem wurde es bisheute , im Gegensatz zuanderen religiösen Rechtsgebungen ,nie kanonisiert,was die An¬

passung an Veränderungen erleichtern könnte . Seine Prinzipien und Normen sind zwar unantastbar,aber die daraus abgeleiteten Gesetze müssen oder kön¬

nen den gegebenen Umständen angepasst werden .49Aufgrund dieser jahrhun¬

dertelangen Phase des Stillstandes im islamischen Recht wird klar ,dass es auf der einen Seite von vielen Muslimen als beinahe unantastbar angesehen wird. Auf der anderen Seite liegtes in der Methodik des fiqh, dass Anpassungen der Gesetze an neue Situationen möglich ,wenn nicht sogar zwingend sind .

In der folgenden Diskussion ist es nun wichtig , dass darauf geachtet wird, auf welche Ebene, die theologische oder juristische,sichder jeweilig Gelehrte bezieht , wenn von Reformierung oder Neu-Interpretation der sarfa oder ei¬

nemneuen fiqh die Rede ist.

2. 1 .2 Fatwä

Entgegen der weit verbreiteten Meinung im Westen , dass eine fatwä ( pl . fatäwä ) ein verbindlicher Befehl an alle Muslime darstelle , ist sie ein Rechts¬

gutachten , in dem ein mufti Antwort auf ein spezifisches Problem unter Be¬

rücksichtigung des islamischen Rechts gibt , d . h . der mufti verfasst gemäß den Regeln vonfiqh eine Antwort auf die Frage eines Gläubigen.Einefatwä bildet somit die Verbindung zwischen dem fiqh und dem praktischen Leben eines Muslims .

46 al -Yassini1998: 308 ; el Fadl 2002 : 9 - 10 ;Schulze1992: 119 -120

47 U .a .Esposito2003 :327 (im Falle der Union des Organisations Islamiqaesde Fran¬

ce ) ;Kepel1994: 195 -197 (zum Einfluss Saudiarabiensin der Rushdie-Affäre )

48 Coulson1994:202;Krämer1992:220

49 Krämer 1992:221,224;Ramadan1996: 40 ;Tibi 1992:153

(28)

Fatäwä werden unabhängig vom Rechtssystem erstellt , d .h. nicht im Zu¬

sammenhang mit einem spezifischen Gerichtsfall . Sie unterscheiden sich da¬

her von einem Gerichtsurteil, weil sie erstens nicht bindend sind und oft einen größeren Bereich umfassen (die Frage nach Verhaltensregeln beim Gebet fal¬

len z . B .nicht inden Kompetenzbereich des islamischen Gerichts ) . Der Frage¬

steller ist demnach nicht verpflichtet , sich an die fatwä zu halten , sondern kann sich auch zwecks eines neuen Gutachtens an einen anderen Gelehrten wenden .50Die Bedeutung eines solchen Gutachtens ist abhängig von der Au¬

torität und dem Wissen des Verfassers.Allein dieTatsache , dass jemand gebe¬

ten wird, eine fatwä zu sprechen , zeugt schon von einem gewissen Maß an Autorität. Berühmtestes Beispiel ist wohl die fatwä Khomeinis gegen Salman Rushdie 1989 .Aufgrund der hohen Stellung Khomeinis fand sein Aufruf vor allem unter den schiitischen Muslimen eine solch große Beachtung .

Heutzutage werden diese Gutachten in Zeitungen und oftmals auch im In¬

ternet als praktische Lebenshilfe veröffentlicht. Manchmal, wenn die Proble¬

matik einen neuen Bereich betrifft ,werden sie auch in das islamische Recht eingebunden,womit sich dieses stetig erweitert.51

Da nun Muslime in Europa nicht dem islamischen, sondern dem positiven Recht unterstehen , bilden solche fatäwä ein einfaches Mittel , um Antworten auf praktische Probleme zu erhalten und damit schneller auf externe wie auch interne Veränderungen im politischen , sozialen und ökonomischen Bereich reagieren zukönnen . Zudem widerspiegeln sich darin dieÄngste , Sorgen und Probleme, die die muslimische Gesellschaft beschäftigen.52Aus diesen Grün¬

den zieht die vorliegende Arbeit vorwiegend fatäwä als Quellen in die Analy¬

semitein.

Mit der Verbreitung des Internets findet man vermehrt das Angebot so ge¬

nannter or\ \ mQ-fatwä, wobei der Gelehrte entweder per E -Mail angefragt wer¬

den kann oder auch live Fragen beantwortet. Dadurch ergibt sich eine starke Vernetzung von europäischen Muslimen und muslimischen Gelehrten , die 50 Martin 2004 :225

51 Coulson1994: 142 - 143 ;Elger 2001 : 95 ;Esposito1995:Vol. II . S . 13 - 15 ;Esposito

2003 :85

52 Nagel2001 : 140 ,142

(29)

nicht in Europa leben. Die meisten anerkannten Theologen und Rechtsgelehr¬

ten unterhalten inder heutigen Zeit entweder eine eigene Website oder zumin¬

dest eineE -Mail-Adresse ,an die man Anfragen richtenkann .53

2 . 1 .3 Konzept des dar al -Isläm und där al-harb

In der klassischen islamischen Jurisprudenz wurde die Welt anfangs in zwei Regionen eingeteilt: där al -lsläm (Gebiet des Islam) und dar al-harb (Gebiet des Krieges ). Där al -Isläm beinhaltete jene Gebiete , in denen die Prinzipien des Islam unter muslimischer Herrschaft eingehalten wurden . Im Gegensatz dazu stand där al-harb , wo Nichtmuslime herrschten und Muslime im Kon¬

flikt mit den Herrschenden standen .Ziel war dazumal die Einverleibung sol¬

cher Gebiete ins där al-Isläm . Ein Muslim , der im där al-harb wohnte , war verpflichtet , ins där al -Isläm zu emigrieren . Sollte ihm dies nicht möglich

sein , weil er keine Mittel zur Emigration besaß, so war sein rechtlicher Status jener eines mustadcaf (unterdrückt, schwach ) . Zentral war der Punkt,dass ein Gläubiger seine Religion frei ausüben konnte ,egal in welchem Gebiet er sich befand .54Die Schafiiten hatten dieser Dichotomie noch eine dritte Klassifika¬

tion hinzugefügt , där al- ahd (Gebiet des Vertrages ) oder auch där as-sulh

(Gebiet der Versöhnung) genannt . Die Hanafiten akzeptierten diese dritte Ka¬

tegorie allerdingsnicht, da der Vertrag ihrer Meinung nach das Gebiet des där al-harb automatisch zueinem Teil des där al -Isläm machte .55

Mit der Kolonialisierung im 18 .und 19 . Jahrhundert gelangten nun islami¬

sche Gebiete unter nichtmuslimische Herrschaft,was die Rechtsgelehrten vor eine neue Situation stellte. Die Meinungen der Gelehrten bezüglich des Status der kolonialisierten Gebiete gingen jedoch auseinander. Während die einen die Ausübung der higra ( d . h. Rückkehr in das Gebiet des Islam) befürworteten ,

53 Z .B .Yusuf al -Qaradawi:www.qaradawi.net(Arabisch)und teilweiseauch auf

www.islamonline .net(Englisch) ;FaysalMawlawi :www.mawlawi .net(Arabisch) ;Ali

as -Sistani:www.najaf. org ;Sayyed Fadlallah :arabic.bayynat. org .lb

54 Esposito2003 : 62 - 63 ;Mandaville2001:136 ;Martin2004:169 - 170 ;Masud1989:

118 - 119 .Vgl.dazu auch Kapitel2 . 2 .2

55 Khadduri/Shaybani1966 :11 - 12 ;Lewis1991 :136

Referenzen

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